Wo endet Europa?

Wie weit nach Osten reicht Europa? Und wie weit die europäische Idee? Der Krieg in der Ukraine verändert die mentale Geografie. Und stellt das europäische Projekt auf die Probe.

Ein Essay von Erich Keller (Text) und Patrick Wack (Bilder), 02.06.2022

Synthetische Stimme
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Wo endet der Horizont? Alle Bilder zu diesem Beitrag wurden im August 2021 in der ukrainischen Stadt Mariupol aufgenommen.

Ende April besuchte die ukrainische Parlamentarierin Inna Sowsun Berlin. Sie war gekommen, um für Unter­stützung im Kampf gegen die russische Invasion zu werben. Abgeordnete des Bundestags führten sie durch das imposante Reichstags­gebäude, es ist seit 1999 Sitz des Deutschen Bundes­tags. Auf den Naturstein­wänden des Plenarsaals, auf dem die Glaskuppel als neues Wahrzeichen sitzt, entdeckte Sowsun zu ihrer Überraschung kyrillische Schrift­zeichen. Sie waren dort im Mai 1945 eingeritzt oder mit Kohle und Kreide aufgemalt worden.

Es sind die Namen von Hunderten Rotarmisten, sowjetischen Soldaten, die sich im Mauerwerk verewigen wollten, als sie in heftigen Kämpfen das Reichstags­gebäude erobert und den national­sozialistischen Staat auch symbolisch zu Fall gebracht hatten. Über die Jahrzehnte des Kalten Krieges waren diese Inschriften mit Gips­platten verdeckt gewesen. Erst im Zuge von Renovations­arbeiten während der Regierungs­verlegung von Bonn nach Berlin wurden sie wieder freigelegt und als Monument der Befreiung in den Bundestag integriert.

«Schaut euch die Namen dieser Soldaten genau an», forderte Inna Sowsun ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen auf. «Die meisten sind ukrainisch!»

Es ist erstaunlich, wie wenig vor kurzem noch so viele wussten über die Geschichte der Ukraine, 1991 als unabhängiger Staat gegründet, nachdem die Bolschewiki das Land sieben Jahrzehnte zuvor gewaltsam der Sowjetunion einverleibt und von den Karten getilgt hatten. Eine terra incognita, so der Historiker Karl Schlögel, von der selbst Osteuropa­expertinnen kaum etwas bekannt gewesen sei. Von diesem weissen Karten­fleck ist nichts geblieben. Seit drei Monaten füllt der Krieg in der Ukraine alle medialen Kanäle, die Wahrnehmung Europas verschiebt sich vom Westen in den Osten. Jetzt erst wird die Ukraine wieder sichtbar – durch Kriegs­nachrichten, Front­reportagen, Infografiken und Schreckens­bilder, wie der Krieg sie täglich neu erzeugt. Es wird deutlich, wie geschichts­blind man im Westen war.

Zum Autor

Erich Keller ist Historiker. Zuletzt publizierte er «Das kontaminierte Museum», ein Werk über die Kunst­sammlung des Waffen­fabrikanten Emil G. Bührle im Neubau des Kunsthauses Zürich. Auch die Republik berichtete über die Bührle-Sammlung.

Doch die Rückkehr der territorialen Kriegs­politik an den Rändern Europas kommt keineswegs überraschend. Lange hat sich diese enorm gefährliche Entwicklung abgezeichnet. Von 1999 bis 2009 in Tschetschenien, 2008 in Georgien – und seit 2014 in der Ukraine. Plötzlich wird klar, dass Europa sich viel weiter in den Osten erstreckt, als man dies vom Westen aus bisher verstanden hat. Der Angriff auf die staatliche Souveränität der Ukraine stellt zugleich das europäische Friedens­projekt infrage. Was uns beinahe als Selbst­verständlichkeit erschienen wäre, ist nun wie nie zuvor auf die Probe gestellt.

Ukraine – das Wort kommt aus dem Alt­ostslawischen und heisst so viel wie Grenzland. Schon der Name scheint zu bezeugen, wie fernab aller Zentren dieses Territorium liege. Nach dem Kalten Krieg galt es über Jahrzehnte der geopolitischen Peripherie zugehörig, eingeklemmt zwischen dem östlichen Europa und Russland, dessen Platz auf den mental maps mitunter ebenso unbestimmt ist, zugleich innerhalb wie ausserhalb Europas liegt. Perspektivierungen dieser Art sind immer standort­abhängig und konstruiert. Sie dienen der Selbst­vergewisserung, artikulieren Ansprüche, sollen Ordnung schaffen. Territorien sind nichts Gegebenes und auch keine Subjekte, die nach ihren eigenen Regeln handelten.

Ein vergessener Krieg

Aus westlicher Sicht sind es seltsam trübe acht Jahre, die dem Gross­angriff auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 voraus­gegangen sind. Dass sich hier lange keine realistische Einschätzung der dramatischen Situation eingestellt hat, liegt auch an den Medien, in denen über Jahre fast ausschliesslich vom Ukraine­konflikt gesprochen wurde. Eine Sprachregelung, die direkt aus dem Kreml kam und die geradezu komplizenhaft die tatsächlichen Vorgänge vernebelte. Laut Uno waren nämlich in diesem Krieg, der keiner sein sollte, mehr als zehntausend Menschen ums Leben gekommen.

Hebt man heute mittels Internet­suchmaschinen die relevanten Ereignisse aus dem Datenmeer, erinnert man sich daran, wie der Krieg begonnen hat. Etwa als im Februar 2014 auf dem Kiewer Unabhängigkeits­platz, dem Maidan Nesaleschnosti, ein Massaker mit über einhundert Toten angerichtet wurde. Über Monate hatten Protestierende den Platz zum symbolischen Zentrum für ihren Kampf für Demokratie, Rechts­staatlichkeit und einen EU-Beitritt gemacht. In unerbittlichen Strassen­schlachten wurde um diesen an sich unbedeutenden winzigen Fleck inmitten einer Grossstadt gekämpft. Denn politische Ideen, selbst wenn sie kaum mehr als Utopien sind, kommen nie ohne reale Orte aus.

Dann fielen die Schüsse – und beschleunigten die West­anbindung des Staats noch. Über Nacht setzte sich der für die Gewalt verantwortliche ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch nach Russland ab, das erst mit verdeckten, bald offenen kriegerischen Handlungen gegen die Ukraine vorging, um ihre in Fahrt gekommene Annäherung an Europa zu stoppen. Putins Truppen annektierten die Krim, bald herrschte im Donbass Krieg. Im Juli desselben Jahres wurde von separatistischen, mit Russland verbündeten Milizen ein Passagier­flugzeug der Malaysia Airlines abgeschossen. 298 Menschen kamen ums Leben. Der Terrorakt, um den sich augenblicklich bizarre Legenden rankten, trug wesentlich zu einem allgemeinen Gefühl der Verunsicherung und des Misstrauens in der Wahrnehmung dessen bei, was sich in der Ostukraine tatsächlich zutrug. Unter dem Einsatz stetig weiter eskalierender Gewalt versuchte Putin derweil, weitere Teile vom Rest des Landes abzutrennen.

Die Krim, Luhansk oder Donezk – niemand im westlichen Europa schien so recht zu verstehen, worum eigentlich gekämpft wurde in diesen Gebieten, die ferne Trümmer der unter­gegangenen Sowjetunion waren, Teil einer unübersichtlichen, ausser­europäischen Zerfalls­geografie. Erstaunlich lange blieb der Westen auch blind für die Menschen vor Ort, ihre Not und Bedrängnis. Heute wissen wir, zu welchem Preis.

Bloodlands

Blind war man im Westen aber auch für die historischen Hinter­gründe, die dazu führten, dass das östliche Europa bis heute ein Ort des Vergessens geblieben ist. So hat sich immer noch kein Bewusstsein dafür herausgebildet, welche historischen Erfahrungen dort geteilt werden. Für den Westen zählten die mit der Erosion des Ostblocks entstandenen unabhängigen Staaten wenig. Als Puffer­staaten kam ihnen wenig mehr als die geopolitische Funktion zu, eine Art territoriale Knautsch­zone zwischen West und Ost zu sein. Aus russischer Sicht war – und ist – dies nicht anders. Doch die auf diese Weise von West wie Ost verordnete Geschichts­losigkeit für einen Staat wie die Ukraine währte nicht lange.

Zu den Bildern

Die Bilder zum Beitrag wurden vor neun Monaten aufgenommen, und sie zeigen eine Zeit, die heute so unfassbar weit entfernt scheint. Fotograf Patrick Wack war für sein Projekt «Azov Horizons» am Asowschen Meer unterwegs. Dieses Nebenmeer des Schwarzen Meeres zwischen Russland und der Ukraine ist heftig umstritten. Im August 2021 war Wack in der Ukraine angekommen und machte sich auf den Weg nach Mariupol zu den Feierlichkeiten am 24. August, dem Tag, an dem die Ukraine seit 1991 die Unabhängigkeit von der damaligen Sowjetunion feiert. Wack erlebte Mariupol als Ort für zahlreiche ukrainische Ferien­gäste, er sah das verfallene postsowjetische Industrie­zentrum – und er führte viele Gespräche. «Jetzt», sagt Wack, «ist die Stadt in Schutt und Asche gelegt, und ich stelle mir immer wieder die Frage: Leben die Menschen auf meinen Bildern noch?»

Vielleicht ist dies einer der erstaunlichsten Effekte, die der Krieg um die Ukraine hervorbringt – dass man Europa plötzlich wieder in territorialen Kategorien denkt. Dabei hatten doch Globalisierung und Digitalisierung den national­staatlich geordneten Raum zum ortlosen Kontinuum gemacht. Wenigstens scheinbar. Die Zeiten, da staatliche Grenzen durch Kriege verschoben oder aufgelöst wurden, muten heute seltsam archaisch an, obschon sie in der europäischen Geschichte erst kurz zurückliegen. Nirgends waren die Folgen dieser mit Waffen ausgetragenen Territorial­ansprüche katastrophaler als im riesigen Gebiet, das sich vom heutigen Westpolen bis an die Grenze zu Russland erstreckte und das auch das heutige Belarus und die baltischen Staaten umfasste. Ein Territorium, das der Historiker Timothy Snyder als «Bloodlands» bezeichnet – und wo auch heute die Gewalt wieder regiert.

Hier haben sich in den 30er- und 40er-Jahren Stalins und Hitlers imperiale Pläne überschnitten. Innert wenig mehr als eines Jahrzehnts wurden 14 Millionen Menschen in den Bloodlands ermordet. Zuerst im Holodomor, dem «Tod durch Hunger», wie er im Ukrainischen heisst. Ob die unvorstellbare Hungersnot von Stalin bewusst herbeigeführt oder zynisch in Kauf genommen wurde, darüber sind sich Historiker uneinig. Auch was die Opfer­zahlen angeht, besteht kein Konsens. Während früher von bis zu 7 Millionen Hungertoten gesprochen wurde, geht man heute davon aus, dass zwischen 1932 und 1933 im ukrainischen Teil des Sowjetreichs etwa 3,3 Millionen Menschen der stalinistischen Bevölkerungs­politik zum Opfer fielen. Von eigens errichteten Wachtürmen aus beobachteten Jung­kommunisten im Auftrag der Bolschewiki, wie ringsum die Menschen, oft ihre eigenen Eltern, auf den Äckern verhungerten.

Zwischen 1936 und 1938 forderte dann der Grosse Terror, die Gewalt­kampagne Stalins zur Konsolidierung der eigenen Macht, über 600’000 weitere Menschenleben. Während des deutsch-sowjetischen Kriegs von 1941 bis 1945 ermordeten die National­sozialisten nach Snyder etwa 5,4 Millionen Jüdinnen und Juden in den Bloodlands, darunter diejenigen, die aus dem westlichen Europa deportiert worden waren. Die meisten wurden während unvorstellbar brutaler Massen­erschiessungen getötet, auch wenn die Gaskammern der Vernichtungs­lager als Orte des blanken Terrors heute geläufiger sind.

Die Nazis überzogen das Gebiet zudem mit einer weiteren Hungersnot, die insgesamt 4,2 Millionen ukrainische Sowjetbürger (darunter 2,6 Millionen Kriegs­gefangenen) das Leben kostete. Im heutigen Belarus ermordeten die Nazis und ihre Verbündeten über 300’000 Menschen als vermeintliche und in den wenigsten Fällen tatsächliche Partisanen. Zudem wurden Millionen von Menschen zwangs­umgesiedelt und vertrieben.

Diese Verbrechen liegen noch kein Jahrhundert zurück. Sie und die Erinnerung an sie haben einst den Kern dessen ausgemacht, was man im Westen den europäischen Gedanken nannte: Solche Gräuel sollten in Europa nie mehr stattfinden. Wohl etwas voreilig und im naiven Glauben an die Zukunft verpflichtete man sich darauf, die richtigen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Doch nun stellt der von Putin entfesselte Eroberungs­krieg die Frage neu: Wo liegt Europa, und was soll es sein?

Der postimperiale Blick

Kein Krieg kommt ohne Mobilisierung der Geschichte aus. Selten wurden indes historische Fakten dermassen verdreht, wie Putin es tut. Russland sei durch einen ukrainischen National­sozialismus bedroht, sein Land befinde sich in derselben Lage wie damals die Sowjet­union, als sie von Nazi­deutschland überfallen wurde. Schon 2005 hatte Putin erklärt, dass er den Zerfall der Sowjet­union als die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts betrachte.

Immer deutlicher ist geworden, dass Putins polizei­staatlich-illiberale Innen­politik nicht bloss einen gigantischen kleptokratisch-mafiösen Komplex geschaffen hatte. Während das rohstoffarme Europa ganz im Bann der russischen fossilen Brennstoffe stand, haben sich auch Putins aussen­politische Positionen stetig radikalisiert. Bis der Kremlchef verkündete, Russland sei überall da, wo Russisch gesprochen werde. Verbirgt sich hinter dieser irredentistischen Formel ein völkisches Programm, dessen Ziel die Schaffung eines panrussischen Reichs ist? Dafür gibt es einige Anzeichen. Deshalb spricht etwa der Historiker und Russland­experte Gerd Koenen von einer putinschen Politik des «Raums ohne Volk» – in Anlehnung an die imperiale und völker­mörderische Losung der National­sozialisten vom «Volk ohne Raum».

Alles, was wir über die Gegenwart wissen, wissen wir aus der Vergangenheit. Das zeigt sich deutlich am Bild der Ukraine im Osten. Dieses sei, erklärt der Historiker Karl Schlögel, immer imperial fokussiert gewesen. In der sowjetischen, danach russischen Wahrnehmung war die Ukraine nie ein eigenständiger National­staat, sondern eine fragmentierte Landschaft, eine Ansammlung von Städten und Regionen, historisch ausgerichtet nach Osten, nicht nach Westen.

So stand die Metropole Kiew für die Kiewer Rus, ein verklärtes mittel­alterliches Grossreich, auf das sich der russische Imperialismus bezogen hatte. Hingegen wurde die westlich gelegene Stadt Lemberg, heute Lwiw, mit der mittel­europäischen, von der Geschichte verschluckten polnisch-habsburgischen Welt verbunden. Oder Sewastopol auf der Krim, seit jeher bedeutender Flotten­stützpunkt, wurde als steinerne, weiss leuchtende Sowjetstadt vom Maler Alexander Deineka in Szene gesetzt, einem der bedeutendsten Vertreter des Sozialistischen Realismus. Der Sehnsuchtsort schlechthin war eine weitere Hafenstadt – Odessa, Hochburg der Intelligenz, kosmopolitische Perle im mediterran-jüdischen Süden Russlands.

Doch jetzt sind im Westen in den vergangenen Wochen die Namen dieser Städte als Ziele russischer Raketen­angriffe geläufig geworden. Seither hat sich die Wahrnehmung grundsätzlich verschoben: Nicht mehr länger fallen russische Bomben und Raketen auf syrische, sondern nun auch auf europäische Städte – auf Städte, die plötzlich auch bei uns als europäisch wahrgenommen werden. Dies ist bedeutsam aus europäischer Sicht, weil ja kein Zweifel darüber bestehen kann, dass diese Angriffe geführt werden, um die Anbindung der Ukraine an Europa rückgängig zu machen. Damit weist Putins Krieg gegen den Liberalismus, gegen Menschen­rechte, Presse­freiheit und Demokratie zugleich über das bestehende Europa und die Werte, die es repräsentieren soll, hinaus. Gerade jetzt, da der Aufstieg nationalistisch-rechts­extremer Parteien und Organisationen das immer wieder eiligst nachjustierte europäische Gleich­gewicht bedroht – in Ungarn, Polen oder Frankreich. In welchem Verhältnis zu dieser Entwicklung der Angriffs­krieg von Putins Russland gegen die Ukraine steht, wird zu sehen sein.

Sicherlich: Es fällt heute schwer, insbesondere angesichts der Flüchtlings­politik der EU- und Schengen-Staaten, noch von europäischen Werten zu sprechen. Doch das europäische Nachkriegs­projekt nur als Wohlstands­festung zu sehen, wird der historischen und auch politischen Komplexität dieses gedachten Raums nicht gerecht. Denn wer könnte sich schon der geschichts­gesättigten Einsicht verweigern, dass im kleinteiligen, zerbrechlichen Europa nie wieder Krieg herrschen soll. Der Schrecken der Vergangenheit darf aber nicht zum Erstarren vor den Gefahren der Gegenwart werden. Dies bleibt die grosse Herausforderung für Europa – die Idee Europa –, weit über den Niedergang des Systems Putin hinaus.

In einer früheren Version haben wir geschrieben, das Reichstags­gebäude in Berlin sei der Sitz der deutschen Bundes­regierung. Das ist falsch, es ist der Sitz des Bundestags. Wir entschuldigen uns für den Fehler und bedanken uns für den Hinweis aus der Verlegerschaft.

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