Am Gericht

Räuber und Poli

Die schlechte Nachricht zuerst: 13- bis 15-Jährige werden zunehmend gewalt­tätig. Die gute Nachricht: Sie befinden sich in einem Alter, in dem sie sich noch beeinflussen lassen – weg von einem gewalt­verherrlichenden Lifestyle.

Von Brigitte Hürlimann, 27.04.2022

Synthetische Stimme
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«Jugendkriminalität und Jugend­gewalt nehmen erneut zu», musste die Zürcher Oberjugend­anwaltschaft Ende letzter Woche mitteilen. Im bevölkerungs­reichsten Kanton der Schweiz sind 2021 gegen 5961 Jugendliche Straf­verfahren eröffnet worden; das ist im Vergleich zum Vorjahr ein Zuwachs von 14,5 Prozent. Und es bedeutet, dass in Zürich die Jugend­kriminalität zum neunten Mal in Folge ansteigt.

Man müsse bei diesen Zahlen allerdings auch berücksichtigen, sagt der leitende Ober­jugendanwalt Marcel Riesen-Kupper, dass die Bevölkerung wachse und dass die Polizei im Kanton Zürich seit einigen Jahren ein besonderes Augenmerk auf jugendliche Täter habe. Jugend­kriminalität ist ein Schwerpunkt­thema. Das bedeutet: Je intensiver die Straf­verfolger hinschauen, desto mehr sehen sie auch.

Dennoch muss die Entwicklung ernst genommen werden, denn gerade bei den jüngeren unter den jungen Delinquenten ist ein Anstieg zu beobachten: 13- bis 15-Jährige sind im Kanton Zürich letztes Jahr über­durchschnittlich oft straffällig geworden. Bei den Gewalt­straftaten betrug der Anteil dieser Alters­kategorie 2021 fast 50 Prozent.

Wie aber umgehen mit all diesen kleinen Räubern, Diebinnen, Sprayern, Prüglerinnen, Kiffern oder Schwarz­fahrerinnen? Und warum bloss geraten sie schon im frühen Teenager­alter mit dem Gesetz ins Gehege?

Ort: Kanton Zürich
Zeit: 2021
Thema: Raub

Erster Fall: Der 13-Jährige mit dem Messer

Tatort: Stadt Zürich. Es ist früher Abend, ein Jugendlicher steigt ins Tram, setzt sich nichts ahnend hin, fährt in Richtung Bahnhof. Da kommen drei Gleichaltrige auf ihn zu. Er kennt sie nicht. Einer der Unbekannten nimmt ein Messer in die Hand, klappt die Klinge bedeutungsvoll auf und zu und steckt das Messer anschliessend wieder in seine Umhänge­tasche.

Er hat erreicht, was er wollte: Sein Opfer ist eingeschüchtert.

Der Junge steigt aus, die Bande folgt ihm. Im Bahnhofs­areal verlangen sie nach seiner Tasche und nach den Airpods, die er in den Ohren trägt. «Pass uf, du weisch scho, was passiert», droht ihm der Räuber mit dem Messer in der Tasche mehrfach. Der Junge fängt an zu weinen und händigt aus, was von ihm verlangt wird. Die drei machen sich mit ihrer Beute davon. Doch dann packt sie das schlechte Gewissen. Sie kehren zum Ausgeraubten zurück, er bekommt wieder, was ihm gehört.

Passanten sind auf die Szene aufmerksam geworden und alarmieren die Polizei, die nicht lange braucht, um die Dreier­bande aufzuspüren. Die Buben landen bei der Jugend­anwaltschaft. Jener, der verbal gedroht und mit dem Messer geblufft hat, ist 13 Jahre alt. Er ist weder vorbestraft noch sonst irgendwie auffällig geworden. Er geht zur Schule, hat ein intaktes Umfeld.

Der kleine Räuber kommt für einen Tag in Polizei­haft, dann wird er vom leitenden Jugend­anwalt Patrik Killer einvernommen. «Der Sozial­arbeiterin und mir war rasch klar, dass wir in diesem Fall vertiefte Abklärungen machen müssen», sagt dieser. «Das heisst: alles anschauen, das gesamte Umfeld, seine Lebens­bedingungen und Ansichten, sein Freizeit­verhalten und seine Peergroups. Wir reden mit den Eltern und Schul­vertretern, wenn nötig auch mehrmals.»

Der Grund für diese aufwendigen Abklärungen: Bei einem derart jungen Täter, der mit einem Messer und in einer Gruppe plötzlich einen Raub begeht, müssen rasch die richtigen Weichen gestellt werden, damit es beim einmaligen Vorfall bleibt – und dieser nicht zum Beginn einer Kriminalitäts­karriere wird.

Der grosse Vorteil sei, sagt der Jugend­anwalt, dass sich 13-Jährige noch eher beeinflussen liessen. «Ein Tag lang im Polizei­gefängnis inhaftiert zu werden, hinterlässt bei den meisten einen tiefen Eindruck. In diesem Alter reden sie auch noch freier, sie erzählen mehr als die Älteren. Oft sind sie wie ein offenes Buch.»

Beim 13-jährigen Räuber stellt der Jugend­anwalt zusammen mit der Sozial­arbeiterin fest, dass dem Jugendlichen zu viele Freiheiten gewährt wurden, was ihn überforderte. Es fehlte an Regeln, Autoritäten und an einem sinnvollen Freizeit­verhalten. Der Bub langweilte sich. Er hing an öffentlichen Plätzen und am Bahnhof herum, geriet in eine problematische Gruppe, suchte nach Anerkennung – und fand kriminelle Handlungen ziemlich cool.

Das, sagt Patrik Killer, sei gefährlich, denn es könnte zu einer Gangster-Identifikation führen.

An Vorbildern dafür fehlt es nicht. Im Internet, auf Social Media und im Fernsehen stossen die Jugendlichen auf eine breite Palette an Figuren, die sich als die erfolgreichen, starken, unschlagbaren Super­macker präsentieren, für die keine Regeln gelten – und die sich nehmen, was sie wollen. Gerade männliche Teenager fühlen sich von solchen Inszenierungen angezogen; überhaupt machen sie mit knapp 90 Prozent den Hauptteil der Jugend­straftäter mit Gewalt­delikten aus (so die jüngste Statistik aus dem Kanton Zürich).

Solche Möchtegern-Ganoven landen dann also bei der Jugend­anwaltschaft. Es sei gar nicht einfach, sagt Killer, mit diesen Kindern so zu reden, dass sie auch verstünden, um was es gehe. Bei der Jugend­anwaltschaft arbeitet man stets im Team. Der Jurist zieht eine Sozial­arbeiterin bei, und gemeinsam wird nach der besten Lösung gesucht, die, wenn nötig, nicht nur aus einer Strafe, sondern auch aus einer Schutz­massnahme besteht. In schwierigen Fällen werden Gutachterinnen beigezogen.

Das war im Fall des 13-jährigen Zürcher Räubers nicht nötig.

Der Jugendliche wurde im Strafbefehls­verfahren schuldig gesprochen und verurteilt: zu einer persönlichen Leistung von fünf Tagen, wovon ein Tag durch Haft erstanden war. Von den restlichen vier Tagen wurde die Hälfte bedingt aufgeschoben. «Der Aufschub mit der Probezeit wirkt wie ein Damokles­schwert, das zeigt durchaus Wirkung», sagt Killer. Für den Räuber und Erst­straftäter wurde ausserdem als Schutz­massnahme eine persönliche Betreuung angeordnet; ein Coach, der das Familien­system stärken soll.

Es gehe darum, das Freizeit­verhalten des Jugendlichen zu ändern und die Eltern mit ins Boot zu bekommen, sagt der Zürcher Jugend­anwalt. «Alle müssen am gleichen Strick ziehen, dann funktioniert es.» Die persönliche Betreuung wird so lange wie nötig aufrecht­erhalten. Scheitert eine Massnahme, so kann sie abgeändert und durch eine neue ersetzt werden, was allerdings ein förmliches Verfahren bedingt.

«Das Ziel ist», sagt Patrik Killer, «dass wir diesen Jungen nie mehr bei uns sehen. In diesem Fall stehen die Chancen gut, denn er kann auf ein intaktes Eltern­haus zurück­greifen. Und ich habe den Eindruck, dass er seine Lektion gelernt hat.»

Zweiter Fall: Der 15-jährige Schul­schwänzer

Tatort: Nochmals die Stadt Zürich, dieses Mal eine Park­anlage am See, und wiederum ist es früher Abend. Fünf männliche Jugendliche, alle um die 15 Jahre alt, steuern auf zwei Gleich­altrige zu.

Und auch hier: Man kennt sich nicht.

Die Fünferbande verlangt von ihren zwei zufällig ausgewählten Opfern Zigaretten und Bargeld. Es kommt zu einem Gerangel, eines der Opfer wird in den Schwitz­kasten genommen und fällt zu Boden. Die Räuber flüchten, kommen aber nicht weit. Sie werden von einer Polizei­patrouille gefasst, die sich in der Nähe befand, und vorläufig festgenommen.

Einer der Räuber ist wegen gering­fügiger Sach­beschädigung vorbestraft. Doch ihm wird nun im neuen Straf­verfahren nicht nur der Raub am See, sondern eine ganze Palette an Delikten vorgeworfen: Schwarzfahren, Kiffen, Vergehen gegen das Waffen­gesetz, Entwendung eines Motor­fahrzeugs zum Gebrauch und gering­fügiger Diebstahl.

Ein schwerer Junge, also? Ein hoffnungsloser Fall?

Nein. Vor allem ein schwieriges Umfeld, kombiniert mit Schulfrust.

Der 15-Jährige geht seit längerem nicht mehr zur Schule – Schul­absentismus nennen das die Fach­leute, oft der erste Schritt auf die schiefe Bahn. Der Teenager ist ein eher schwacher Schüler, und er hat Mühe, mit diesen Miss­erfolgen umzugehen. Seine Eltern sind getrennt, er lebt bei der Mutter, die an Depressionen leidet, es gibt fast keine elterliche Kontrolle, kaum eine familiäre Struktur. Dem 15-Jährigen fällt es schwer, irgendwo Fuss zu fassen, er kifft, ist zunehmend antriebslos.

Auch er wird im Strafbefehls­verfahren schuldig gesprochen und zu einem bedingten Freiheits­entzug von 30 Tagen verurteilt, bei einer Probe­zeit von 18 Monaten. Drei Tage davon hat er durch Haft erstanden, und während der Probezeit wird er von der Sozial­arbeiterin der Jugend­anwaltschaft begleitet.

Eine Schutzmassnahme wird bei ihm nicht verhängt. Trotz all seiner Probleme. Warum nicht?

Jugendanwalt Patrik Killer erklärt: «In diesem Fall war die Kesb schon involviert, die Schule hatte wegen seiner Absenzen eine Gefährdungs­meldung erstattet. Da funken wir der Zivil­behörde nicht rein. Die Kesb hatte bereits reagiert und für den 15-Jährigen eine Tages­struktur mit Schule eingerichtet.»

Bei jedem Jugendlichen, der bei den Straf­verfolgerinnen landet, wird abgeklärt, ob die Kesb bereits eingeschaltet ist – was im Kanton Zürich bei fast einem Viertel aller Fälle zutrifft. Die beiden Behörden arbeiten Hand in Hand und ergänzen sich gegenseitig. «Beide haben das gleiche Ziel», sagt Killer: «Erziehen, unterstützen und auf den richtigen Weg bringen. Wir wollen, dass die Jugendlichen ein delikt­freies Leben führen. Diesem Ziel dienen auch die pädagogisch ausgerichteten Strafen.»

Der 15-jährige Räuber kommt um den Freiheits­entzug herum, wenn er sich während der Probezeit gut verhält. Die Sozial­arbeiterin der Jugend­anwaltschaft wird in dieser Zeit ein Auge auf ihn halten und mit der Kesb in Kontakt bleiben. Die künftige Straf­freiheit gelingt vor allem dann, wenn alle zusammen­arbeiten: Familie, Schule, Kesb und Straf­verfolger.

«Wir müssen die Negativ­spirale so früh wie möglich durchbrechen», sagt der leitende Ober­jugendanwalt Marcel Riesen-Kupper. «Dass die Täter immer jünger werden, deutet auf eine gewisse Gewalt­gewöhnung hin. Wir haben deshalb alles zu unternehmen, damit es unter den Jugendlichen nicht zu einem gewalt­verherrlichenden Lifestyle kommt. Wobei wir nicht vergessen dürfen: Die allermeisten Jugendlichen werden nicht straffällig.»

In einer früheren Version schrieben wir fälschlicherweise von Zürich als «grösstem» Kanton, das ist mittlerweile in den «bevölkerungs­reichsten Kanton» abgeändert. Wir bedanken uns für den Hinweis aus der Verlegerschaft.

Illustration: Till Lauer

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