Die Darstellerinnen sind nicht das Problem: Sie überzeugen bei Milo Raus «Wilhelm Tell» am Schauspielhaus Zürich. Flavio Karrer

Der brave Mann

Der Theateraktivist Milo Rau ist bekannt dafür, Opfer von Ungerechtigkeit sprechen zu lassen. Mit «Wilhelm Tell» überspannt er nun derart den Bogen, dass er beinahe sein ursprüngliches Ziel verfehlt.

Von Theresa Hein, 26.04.2022

Synthetische Stimme
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Der aus Deutschland eingeflogene Schamane ist ein Mann mit einer leisen Stimme und einem beachtlichen Bauch, auf dem eine Jadekette prangt. Er steht im Foyer des Zürcher Kunst­hauses und treibt den Teufel aus, genauer: den bösen Geist Emil Bührles. Des Waffen­fabrikanten also, dessen Kunstsammlung, die zu einem grossen Teil aus Raub- und Fluchtkunst besteht, seit vergangenem Jahr das Zürcher Kunsthaus, nun ja, schmückt. Auf eine kurze Formel gebracht findet an diesem Abend also Exorzismus gegen Nazi-Verbrechen statt. Eigentlich eine tolle Idee. Nur irgendwann muss der Schamane aufstossen, und als er leise verkündet, der Ort sei nun gereinigt, verlässt man die Veranstaltung eher belustigt als überzeugt.

Alles andere als lächerlich geht es wenig später zu, weil Milo Rau auch noch eine ehemalige Zwangs­arbeiterin von Emil Bührle, Irma Frei, zu seiner Prä-Tell-Vernissage gegenüber des Kunsthauses eingeladen hat. Frei, 80 Jahre alt, wählt ihre eigenen Worte, um den Gästen von ihrer Kindheit im Kinderdorf Rathausen im Kanton Luzern zu erzählen, das eigentlich mehr ein «Kinder­zuchthus» gewesen sei. Sie spricht von der Schicht­arbeit einer Spinnerei, in der sie arbeiten musste, vom Staub, den sie jeden Tag einatmete und davon, dass die Briefe ihrer Mutter sie nie erreichten. Es ist ein ergreifendes Beispiel einer willkürlich gestohlenen Kindheit durch die Nachkriegs­praktiken der Schweiz.

Das ist nun schon eine ganze Menge, dabei hat die Theater­inszenierung, um die es hier an sich gehen soll, noch gar nicht begonnen.

Der Schamane und der Exorzismus im Kunsthaus, der Monolog von Irma Frei: Das alles war – genau wie die Versteigerung eines digitalen Kunstwerks der Künstlerin Miriam Cahn und die Einladung von Maeva Emden (Urenkelin des jüdischen Kaufmanns Max Emden, die um ein Monet-Bild kämpft, das einst ihrer Familie gehörte und nun im Kunsthaus hängt) – lediglich der Vorgeschmack auf Milo Raus neueste Inszenierung im Pfauen. «Wilhelm Tell», ausgerechnet.

Schon Wochen vor Beginn des eigentlichen Theater­abends hat der Regisseur durch über die Stadt verteilte Aktionen wie einer Hochzeit zwischen einem Sans-Papiers und einer Schweizer Soldatin klargemacht, auf welche Unfreiheits­komplexe sich die Zuschauerinnen gefasst machen können: die Ausbeutung von Zwangs­arbeiterinnen in der Nachkriegs­zeit, den unzureichenden Umgang der Stadt Zürich mit der Bührle-Sammlung und den Erben der Raub- und Fluchtkunst. Die zum Teil menschen­unwürdigen Lebensumstände, zu denen sich Menschen, die in der Schweiz ohne Pass und somit ohne Rechte leben, gezwungen sehen. Rassismus. Ableismus. Und das war noch nicht mal alles. Im Schauspiel­haus sollten nun am vergangenen Samstagabend alle Erzähl­stränge in einer Inszenierung von Schillers Bearbeitung des Tell-Mythos zusammen­kommen.

Leider gelingt diese Zusammen­führung nicht. Besonders schade ist das, weil man in der zeitgenössischen Theater­landschaft immer hoffnungsvoll wird, wenn der Name Milo Rau fällt.

Wohl niemandem sonst im deutsch­sprachigen Raum ist es im vergangenen Jahrzehnt derart gut gelungen, jenen, die von Ungerechtigkeit und Ausbeutung betroffen sind, im Wortsinn eine Bühne zu geben. Seine Arbeit war neben der rein theatralen, dramaturgischen häufig auch der Versuch, die Ungerechtig­keiten für die betroffenen Menschen abzumildern und die dafür Verantwortlichen (und das System, in dem sie agierten) zur Rechenschaft zu ziehen.

Das äusserte sich manchmal konkret auf bürokratischer Ebene, zum Beispiel, als Rau Migranten in Italien für seinen Film «Das neue Evangelium» eine Anstellung gab und sie dadurch aus der Illegalität holte. Oder in Form von späteren Konsequenzen, zum Beispiel, als nach Raus «Kongo-Tribunal», in dem die Umwelt­verschmutzung und Menschenrechts­verletzungen des Schweizer Konzerns Glencore im Kongo angeprangert wurden, zwei Minister zurück­treten mussten.

In den besseren Rau-Inszenierungen fühlen sich die Zuschauerinnen direkt gemeint und angesprochen; und sind zumindest kurzfristig bereit, ihr Verhalten zu ändern. Man erkennt dann an, dass man Teil eines verkorksten Systems ist. Rau kann das mit so viel Nachdruck transportieren, dass man sich manchmal dafür schämt, ein Mensch zu sein, weil es solche Menschen gibt, wie Rau sie anklagt.

Und dieses Mal? Bleibt genau das aus.

Es gibt drei wesentliche Gründe, warum Raus Tell-Inszenierung nicht aufgeht, warum ihr der Nachdruck fehlt. Auf keinen Fall aber liegt es am Bühnenbild von Anton Lukas. Ein Gaze­vorhang, auf den das Ensemble aus Schauspielhaus- und Laien­schauspielerinnen projiziert wird, während es sich gegenseitig filmt, teilt die Bühne bei Bedarf in zwei Hälften; im Hintergrund ist die Kulisse einer Kirche zu erahnen, auf die ab und an ein Erlöser-Spot gerichtet ist und vor der ein Transparent hängt, auf dem steht: «Hängt den Bührle an ein Schnürle». Und im Vordergrund steht ein gutes, altes Schweizer Revox-Tonbandgerät (das auch zum Einsatz kommt).

Das Misslingen dieser Aufführung liegt übrigens auch nicht an den Darstellerinnen. In der ganzen Schweiz hat Milo Rau sein Ensemble zusammen­gecastet, zwei Grundfragen waren: «Was ist Tell für dich?» und «Was ist Freiheit für dich?». Auf der Bühne stehen nun nach­einander die Laien­darsteller und vier Mitglieder des Schauspielhaus-Ensembles: Maja Beckmann, Michael Neuenschwander, Karin Pfammatter und Sebastian Rudolph. Alle vier brillieren, wenn sie von sich selbst erzählen und wenn sie Schiller-Dialoge sprechen. Und auch die anderen Darstellerinnen, die auftreten – darunter eine Schauspielerin und Anti-Rassismus-Aktivistin, ein Jäger, eine Offizierin, ein Inklusions­politiker – beeindrucken durch ihre Offenheit.

Milo Rau weiss, wie man Leute zum Sprechen bringt, und er weiss, dass die klare Sprache die wirksamste ist. Die Darstellerinnen erzählen also von den Momenten in ihrem Leben, in denen sie sich frei oder unfrei gefühlt haben, und es sind Erzählungen, die deshalb weh tun, weil sie zwar alltäglich, aber wahr sind.

Das erste, offensichtliche Problem, das man vom Zuschauer­raum aus hat, ist das der fehlenden Dramaturgie. Als Rahmen dient zwar noch grob die Szenen­anordnung Schillers; die allerdings wird ständig durch die Einzel­erzählungen des Ensembles durchbrochen und nützt nicht viel, weil man als Zuschauerin zwischen­durch überlegt, wer jetzt eigentlich noch alles an der Reihe sein müsste mit Lebens­geschichte-Erzählen.

Eine offene Dramaturgie wäre wahrscheinlich auch kein Problem, wenn der Inhalt helfen würde, Stringenz zu bewahren. Das ist die zweite Schwierigkeit an diesem Abend. Nicht nur bringen die Darstellerinnen die ganze Band­breite an gesellschaftspolitischen Schieflagen auf die Bühne. Es wimmelt auch noch von Referenzen an den Theater­kosmos, etwa an Christoph Schlingensiefs «Hamlet»-Inszenierung aus dem Jahr 2001, von der Sebastian Rudolph (der damals den Hamlet spielte) seine SS-Uniform mitbringt. Und an Raus eigene Arbeit, etwa an «Grief and Beauty» oder «Das neue Evangelium», in denen sich ebenfalls biografische Erzählungen um die Stück­erzählung herum gruppierten.

Dann sind da noch die Einschübe, in denen sich die Darsteller gegenseitig fragen, was denn nun für sie eigentlich das Entscheidende am «Tell» sei. Es sind kurze Szenen, die allerdings verschult und aufgesetzt wirken.

Als Kritikerin ist es immer leicht zu sagen, der Regisseur habe «zu viel gewollt». Milo Rau wollte vermutlich genau diese fragmentarische Versuchs­anordnung, er wollte zeigen, was eigentlich alles schief­läuft in der Schweiz, dass jede und jeder sich in ihrer Freiheit auf die eine oder andere Weise beschnitten fühlen kann. «Eklektisch» nennt er das, als ich im Vorfeld kurz mit ihm spreche, und dann lacht er ein bisschen, vielleicht, weil er das Wort selber albern findet. «Eklektisch» lässt sich auch mit «zu viel» übersetzen. Rau macht es trotzdem, und zu viel ist es nun einmal auch, wenn man es «eklektisch» nennt.

Was dem Abend letztlich die Kraft raubt, ist die dritte grosse Schwierigkeit. Alle Einzel­erzählungen, und seien sie von noch so schwierigen oder traumatischen Erlebnissen, bleiben an der Oberfläche. Das geschieht einerseits wiederum durch ihre Aneinander­reihung: Dadurch, dass immer noch jemand spricht und dann gleich wieder Schiller-Zitate aufgefahren werden, bleibt keine Zeit, das gerade Gehörte zu verarbeiten. Das Nacheinander der Auftritte lässt keinen Platz für Nachfragen oder das Zurück­kehren einzelner Personen, die mehr Zeit verdient hätten.

Andererseits entsteht diese Oberflächlichkeit durch das Zürcher Premieren­publikum selbst. Denn nach jeder Forderung nach mehr Freiheit und Gleichheit gibt es Szenen­applaus. Gerade, nachdem die Menschen mit körperlichen Behinderungen gesprochen haben, wirkt das aber leider ungut bevormundend.

Die einzelnen Ungerechtig­keiten, die während des Theater­abends auf die Bühne kommen, werden durch die Art und Weise, wie sie präsentiert werden, vereinfacht und verharmlost.

Applaus für den Mann im Rollstuhl. Applaus für die ehemalige Zwangs­arbeiterin. Applaus für den Mann aus Eritrea, der eine Ehe mit einer Schweizerin eingegangen ist, um hier­bleiben zu dürfen. Was nach dem Applaus passiert, darum geht es leider nicht, dabei war es immer gerade Milo Raus Credo, die Dinge «richtig» zu machen. Nicht zum Schein. Anprangern, damit sich etwas verändert, nicht anprangern, um des Anprangerns willen.

Man kann den Szenen­applaus aber auch als Selbst­entlarvung des Publikums lesen. Als der Inklusions­politiker Cem Kirmizitoprak fordert: «Ehemalige Zwangs­arbeiterinnen müssen eine Entschädigung bekommen» und ruft «Rassismus ist scheisse», klatscht beinahe der ganze Saal.

Hm. Klatschen die Menschen jetzt, weil sie artig sein wollen? Oder weil sie überzeugt sind von dem, was Kirmizitoprak fordert? Warum wird das Klatschen dann verhaltener, als der Politiker auf der Bühne Schweizer Papiere und Stimmrecht für alle im Land fordert? Welche Partei wählt der Durchschnitts-Premieren­besucher? Und machen sich Zuschauerinnen, wenn sie im Saal zur Schweizer National­hymne tanzen, nicht ziemlich lächerlich und angreifbar, auch wenn die Hymne umgeschrieben wurde und zugegebener­massen catchy klingt?

Aufmerksamkeit, die nur an der Oberfläche kratzt, ist auch nach zwei kondensierten Stunden nichts weiter als oberflächliche Aufmerksamkeit. Auch, wenn es viel davon gibt.

Schade ist das vor allem, wenn man sich Raus Stück­text ohne Inszenierung ansieht. Der ist nämlich wunderbar, man wünscht sich, es gäbe ihn als Buch. Es wäre so inspirierend, und niemand würde klatschen.

Zur Inszenierung

Milo Rau: «Wilhelm Tell». Mit Maya Alban-Zapata, Maja Beckmann, Michael Neuenschwander, Karin Pfammatter, Sebastian Rudolph, Emma Lou Herrmann, Aleksandar Sascha Dinevski, Cyrill Albisser, Sarah Brunner, Irma Frei, Vanessa Gasser, Oskar Huber, Cem Kirmizitoprak, Meret Landolt, Louisa Maulaz, Hermon Habtemariam. Schauspielhaus Zürich, noch bis 28. Mai 2022. Ca. 110 Minuten.

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