Das Ethos der Gnadenlosigkeit

Wir leben in einer Phase der Krisen und ideologischen Umbrüche. Und ein Begriff wird dabei immer wichtiger: Eigen­verantwortung. Was hat das zu bedeuten?

Von Daniel Binswanger (Text) und Olivier Heiligers (Illustrationen), 16.04.2022

Synthetische Stimme
0:00 / 40:08

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!

Kaum etwas hat so viel Macht über unser Zusammen­leben wie die Leitbegriffe, mit denen wir darüber urteilen. Modifikationen des Sprach­gebrauchs gehen häufig einher mit einschneidenden politischen Umwälzungen. Jetzt plötzlich, da wieder Krieg herrscht in Europa, stehen Wörter wie «Bewaffnung», «Verteidigungs­wille» und «Flüchtlings­hilfe» hoch im Kurs – mit schwer zu ermessenden Folgen. Der Versuch zu verstehen, auf welche Welt wir zusteuern, sollte aber nicht darauf verzichten, ihren Zustand vor dem russischen Überfall zu reflektieren – umso mehr, als wir es mit einer schnellen Abfolge von epochalen Krisen zu tun haben. Auf welche Werte prallt die neue Militarisierung der internationalen Politik? In welche ideologischen Lücken stösst sie vor?

Vor dem Russland-Ukraine-Krieg kam Covid – und erschien seinerseits wie ein weltanschaulicher Wende­punkt. Besonders eine Diskurs­verschiebung, welche die Corona-Krise in der Schweiz gebracht hat, ist folgenreich und erklärungs­bedürftig: die eigentliche Epidemie des Wortes Eigen­verantwortung.

Pandemie-Rhetorik

Blenden wir zurück: Keine Medien­konferenz, keine Regierungs­erklärung ging über die Bühne, ohne dass der Begriff Eigen­verantwortung im Zentrum gestanden hätte. «Wir erwarten Eigen­verantwortung von allen»: So lautete zum Beispiel im Dezember 2020 die Kernaussage von Bundesrat Alain Berset im grossen Jahres­rückblicks­gespräch. «Nur mit Eigen­verantwortung und Wahl­möglichkeit kann echter sozialer Zusammenhalt entstehen», sagte der Gesundheits­minister etwa zur Impfkampagne im letzten Sommer.

Eigenverantwortung war der Grundappell, den die Behörden an die Bürgerinnen richteten. Sie sollte die Voraussetzungen dafür schaffen, glimpflich und mit nur milden Zwangs­massnahmen die Corona-Krise zu meistern. Sie sollte die weitgehende Zurück­weisung durchgreifender staatlicher Anordnungen rechtfertigen und das Vertrauen auf die Vernunft der Bürgerinnen bekräftigen. Sie war das Gütesiegel der Schweizer Strategie.

Was immer Covid-19 sonst noch ausgelöst hat: Eigen­verantwortung wurde als der tragende Grundwert affirmiert.

Das ist bei Licht betrachtet verblüffend – zunächst einmal, weil es so sachfremd ist. In der Republik wurde des Öfteren darauf hingewiesen und auch in zahlreichen anderen Publikationen: Über die richtige Kalibrierung von Massnahmen und den angemessenen Grad der Freiwilligkeit spezifischer Bestimmungen kann man legitime Debatten führen. Aber um Eigen­verantwortung im eigentlichen Sinn geht es beim Umgang mit einer Infektions­krankheit per definitionem nicht.

Es ist im Fall einer Epidemie nun einmal nicht so, dass es, solange ich für allfällige negative Folgen auch die Konsequenzen trage, meiner individuellen Verantwortung überlassen werden kann, ob ich mich selbst gefährden will oder nicht. Das mag zutreffen, mindestens bis zu einem gewissen Grad, beim Helmtragen, beim Tabak­konsum oder beim Basejumping. Eine Epidemie jedoch ist dadurch charakterisiert, dass ich potenziell auch andere infiziere und durch mein Verhalten in Gefahr bringen kann. Für meine Mitbürgerinnen trage ich deshalb ebenfalls Verantwortung. An der Fürsorge für die Gesundheit meines Umfelds muss sich der Umgang mit der Ansteckungs­gefahr deshalb ebenfalls ausrichten.

Dieses simple Argument ist immer wieder gemacht worden, und die Debatte braucht hier nicht wiederholt zu werden. Es kommt hinzu, dass die Schweizer Covid-Politik mit Eigen­verantwortung de facto auch gar nie viel zu tun hatte. Es wurde zwar ein relativ liberales Massnahmen­regime praktiziert, aber das bedeutete nicht, dass die Behörden für die Folgen der Pandemie gegenüber betroffenen Bürgern nicht die Verantwortung übernommen hätten – weder im Bereich der wirtschaftlichen Beeinträchtigungen, wo phasenweise schnelle und unbürokratische Hilfen gesprochen wurden; noch im Bereich der gesundheitlichen Schäden, wo die Forderung, Ungeimpfte sollten selber für Hospitalisierungen verantwortlich gemacht werden und die Kosten tragen, zwar vereinzelt erhoben, aber nie ernsthaft diskutiert wurde.

Es stellt sich jedoch eine andere, viel grundsätzlichere Frage: Weshalb dann der flächen­deckende Appell an die Eigen­verantwortung? Weshalb dieses seltsame Wording? Aus welchem Grund hat die Eidgenossenschaft einen Kategorien­fehler zur Staats­räson erhoben?

Jedenfalls ist es eine Tatsache, dass zwar befremdlich erschien, wie ausgerechnet in einer Pandemie die Eigen­verantwortung zum Leitsatz erhoben wurde, dass dies den Terminus aber nicht im Geringsten daran gehindert hat, Konsens­kraft zu entfalten. Man hätte auch von «gemeinsamer Anstrengung», von «freiwilliger Rücksicht auf die Gefährdeten» oder ganz einfach von «Verantwortung» sprechen können. Das haben die Behörden am Rande auch getan, aber im Zentrum stand immer die Eigen­verantwortung.
Man darf davon ausgehen, dass diese Strategie nicht das Ergebnis einer banalen Fehl­analyse, sondern vielleicht sogar der Ausdruck von Kommunikations­kompetenz gewesen ist.

Die Verantwortlichen zählten offenbar darauf, dass Eigen­verantwortung als Mobilisierungs­formel alle anderen Alternativen schlägt. Dass der Begriff verpflichtender ist als «freiwillig». Volksnäher als «Solidarität». Vermittelbarer als nackte «Verantwortung». Ist Eigen­verantwortung inzwischen unser höchster Tugend­begriff geworden? Die durchschlagendste aller Pathos­formeln? Die behördliche Corona-Kommunikation legt diesen Schluss zumindest nahe.

Ein verblüffender Sonderfall

Was also hat es auf sich mit diesem Konzept? Weshalb kann es eine solche Appell-Funktion erfüllen? Die Frage stellt sich nicht nur vor dem Hinter­grund der Pandemie­bewältigung. Eigen­verantwortung zeichnet sich aus durch eine Reihe frappierender Eigenheiten: Zunächst erscheint ihre Dominanz wie eine Besonderheit des politischen Diskurses in der Schweiz. Deutsche oder österreichische Politikerinnen benutzen den Begriff deutlich weniger. Selten einmal tauchte er in einer Merkel-Rede auf, etwa als sie im Jahr 2015 mit Bezug auf die Eurokrise sagte: «Solidarität und Eigen­verantwortung sind wieder zwei Seiten einer Medaille.» Selbst im Programm der deutschen FDP – der liberalen Partei, die zu dem Konzept im Prinzip eine besondere Affinität haben sollte – spielt Eigen­verantwortung nur am Rande eine Rolle. Im neuen «Leitbild-Update» taucht der Begriff erst gar nicht auf.

In Österreich mag die Situation schon etwas anders sein, wo die Neos sich die Eigen­verantwortung recht prominent auf die Fahne schreibt. Aber die Neos kam bei den Nationalrats­wahlen 2019 auf 8 Prozent der Stimmen. Was für ein Gegensatz zur Schweiz, wo sowohl die FDP als auch die SVP permanent mit Eigen­verantwortung argumentieren. Oder wie heisst es doch so schön am Anfang der «Vision» der FDP, die 2018, also noch lange vor der Pandemie, von der Parteipräsidenten­konferenz verabschiedet wurde und den Titel «Unsere Schweiz – unsere Heimat» trägt: «In der Schweiz übernimmt jede und jeder Eigen­verantwortung.» Eigen­verantwortung erscheint hier beinahe wie der Kerngehalt des helvetischen National­stolzes.

Nicht weniger markant ist die Zunahme der Häufigkeit von «Eigen­verantwortung» im öffentlichen Diskurs. In den zwei Jahren vom Februar 1998 bis zum Februar 2000 gibt es in der Schweizer Medien­datenbank für «Eigen­verantwortung» 1650 Treffer. Für dieselbe Periode zehn Jahre später sind es bereits 3950 Treffer. Noch einmal zehn Jahre später, von 2018 bis 2020, steht der Zähler bei 6500. Und dann kommt Corona, und es gibt kein Halten mehr: Für den Zeitraum von Februar 2020 bis Februar 2022 kommt die Medien­datenbank auf rund 22’300 Treffer. Die «Eigen­verantwortung» explodiert.

Es liegt hier also eine sehr frappierende Schweizer Eigenheit vor, und man wird davon ausgehen dürfen, dass sie keine blosse Frage des Sprach­gebrauches ist. Schliesslich rührt der Begriff der Eigen­verantwortung an die ideologischen Grund­festen der politischen Debatte. Er ist eines der wichtigsten Schlag­worte, mit denen eine bestimmte Gesinnung markiert wird, so wie etwa auch mit dem Slogan «freie Wirtschaft» und «Kosten­wahrheit» oder, im politischen Gegen­lager, mit «Solidarität» und «Gerechtigkeit».

In dieser Funktion bezeichnet Eigen­verantwortung eine rechte, sei es eine konservative, sei es eine liberale politische Position. Sie steht für eine Haltung in der permanenten Auseinander­setzung, wie weit der Staat durch Umverteilung für das materielle Wohlergehen bedürftiger Bürger zuständig sein soll und wie weit dieses der Zuständigkeit der Betroffenen überlassen bleiben muss. Sie signalisiert zudem, dass in allen Lebens­bereichen die freiwillige individuelle Gestaltungs­macht der gesetzlichen Regulierung vorzuziehen sei.

Aber der Begriff der Eigenverantwortung steht nicht nur für ein Grund­bekenntnis zu «rechten» Politik­rezepten, er leistet etwas Grund­legenderes.

Er artikuliert eine bestimmte Wertehaltung: Dass jeder und jede ihres eigenen Schicksals Meister sei; dass in freie Selbst­entfaltung möglichst nicht eingegriffen werden soll; dass deshalb aber auch jede und jeder für die Folgen seiner individuellen Entscheide, Leistungen und Lebens­gestaltung die Konsequenzen zu tragen habe. Das Prinzip der Eigen­verantwortung ist die Grundlage eines Ethos, das über simple Positions­markierungen im politischen Links-rechts-Spektrum hinausgeht.

Beschreibt dieses Ethos inzwischen so etwas wie einen diffusen gesamt­gesellschaftlichen Konsens? Ist das der Grund, weshalb Eigen­verantwortung heute, wenn die Nation in eine Jahrhundert­notlage gerät, plötzlich auch eine parteien­übergreifende Appell­funktion erfüllen kann? Es versteht sich nicht von selbst, dass ein sozial­demokratischer Gesundheits­minister mit ihrer unablässigen Beschwörung zum beliebtesten Politiker des Landes wird. Jedenfalls stellt es eine politsemantische Abnormität dar, wenn ausgerechnet ein Schlagwort, das als einer der gängigsten politischen Kampf­begriffe gelten kann, in einer Krise völlig problemlos zum Banner wird, hinter dem die ganze Nation sich scharen soll. Ist Eigen­verantwortung inzwischen der Grundwert, den wir de facto alle teilen, auch wenn es in der Hitze des politischen Tages­geschäfts normaler­weise nicht manifest wird?

Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als der inflationäre helvetische Gebrauch des Wortes zwar eine Ausnahme­erscheinung darstellt, das Konzept der Eigen­verantwortung aber nicht nur in der Schweiz, sondern in allen westlichen Demokratien über die letzten dreissig, vierzig Jahre massiv an Terrain gewonnen hat.

Im Englischen gibt es für Eigen­verantwortung zwar kein eigenes Substantiv, aber der Sinn, wie der Begriff der responsibility verwendet wird, hat sich über die letzten Jahrzehnte grundlegend verändert. Immer häufiger bezeichnet responsibility nicht mehr die Verantwortung, die wir für andere, sondern die Verantwortung, die wir für uns selber übernehmen. Nicht selten wird sie dann zur personal responsibility. Mit dem Richtungs­sinn ändert sich ganz grundlegend die Bedeutung – nur das Wort bleibt dasselbe.

Etwas Ähnliches lässt sich in anderen Kultur­räumen beobachten, etwa in der frankofonen Welt, wo responsabilité immer häufiger im Sinne der responsabilité individuelle verstanden wird – wobei individuelle Verantwortung dann so viel besagt wie Eigen­verantwortung. Etwas Grund­sätzliches ist ins Rutschen gekommen.

Die Kultur der Eigen­verantwortung

Auf ganz besondere Weise dominiert das Ethos der Eigen­verantwortung zwar die Schweizer Debatte; da der Siegeszug der neuen responsibility jedoch ein globales Phänomen ist, kommt die wohl profundeste Analyse, die man heute zu dem Thema lesen kann, aus den USA.

Es handelt sich um das bisher nur auf Englisch erschienene «The Age of Responsibility» von Yascha Mounk, das 2017 bei der Harvard University Press publiziert wurde und dessen Titel man mit «Das Zeitalter der Eigen­verantwortung» übersetzen kann. In gewisser Weise ist es eines der erhellendsten Bücher für das Verständnis des heutigen politischen Diskurses in der Schweiz – obwohl die Schweiz darin kein einziges Mal erwähnt wird.

Mounk entwickelt eine Analyse der ideologischen Umwälzungen, die sich in den westlichen Demokratien seit dem Ende des Kalten Krieges vollzogen haben – während jener Periode, die in der Regel unter den Stich­worten «Globalisierung» oder «Neoliberalismus» abgehandelt wird. Er schlägt jedoch einen anderen Zugang vor. Im Zentrum der Entwicklung stehen aus seiner Sicht nicht nur neue sozial­staatliche und wirtschafts­politische Präferenzen – zum Beispiel eben die «neoliberale Agenda» –, sondern eine Werte­haltung, die sich grundsätzlich gewandelt hat: das Ethos der Eigen­verantwortung, das eine immer umfassendere gesamt­gesellschaftliche Konsens­fähigkeit erlangt und unsere Epoche prägt. Und, so muss man aus helvetischer Perspektive wohl hinzufügen, immer expliziter zum Siegel des Schweizer Politik­verständnisses zu werden scheint.

Ermöglicht wurde der Siegeszug der Eigen­verantwortung gemäss Yascha Mounk, weil ihre Grundwerte inzwischen sämtliche politischen Lager hinter sich scharen. Am deutlichsten zeigt sich das wohl dort, wo man es nicht erwarten würde, jedenfalls nicht von Vertreterinnen des linken Lagers: in der Sozial­politik.

Die Rechte versucht im Namen der Eigen­verantwortung den Sozialstaat zu verkleinern und die Umverteilung zu begrenzen. Immer stärker hat sie seit den Achtziger­jahren dabei auf den Appell der Eigen­verantwortung gesetzt. «Es ist Zeit, dass das amerikanische Volk dem Grundsatz wieder Geltung verschafft, dass jedes Individuum verantwortlich für sein Handeln ist», sagte Ronald Reagan in einer seiner berühmtesten Reden.

Die Linke, die dem Rückbau des Sozial­staates defensiv gegenüber­steht, verfolgte im Prinzip eine diametral entgegen­gesetzte Agenda. Allerdings hat der Sozial­liberalismus des sogenannten dritten Weges von Clinton, Blair oder Schröder in den Neunziger- und Nuller­jahren genau durch das Bekenntnis zur Eigen­verantwortung seine Mehrheits­fähigkeit gefunden. Die Sozialhilfe­reform, die das wichtigste Projekt der ersten Clinton-Präsidentschaft war, trug den Begriff der personal responsibility sogar im Titel. «Eine Formel [die Eigen­verantwortung], die ihr Leben als politisches Schlagwort begonnen hat, ist nach und nach zu einem kulturellen Phänomen geworden», sagt Mounk. Die offensive Rhetorik des dritten Weges ist heute zwar Geschichte beziehungs­weise findet ihren Widerhall nicht mehr in der traditionellen Sozial­demokratie, sondern in einer neuen progressiven Mitte, die in Frankreich etwa von Emmanuel Macron oder in der Schweiz von der GLP repräsentiert wird. Geblieben jedoch ist die Kultur der Eigen­verantwortung.

Die Strategie, die sozial Schwachen davor zu schützen, für ihre Notlage selber verantwortlich gemacht zu werden, besteht deshalb nicht mehr darin, dass die Linke das Prinzip der Eigen­verantwortung im Grundsatz in Zweifel zieht. Stattdessen versucht sie, für spezifische Gruppen die Schwelle zu erhöhen, die genommen werden muss, damit Empfängerinnen von staatlicher Hilfe für ihre Lage selber verantwortlich gemacht werden können. «Die moralische Prämisse, dass die Verantwortung eines Individuums für seine Situation seinen Anspruch auf Hilfe untergräbt, wird heute weitgehend geteilt», schreibt Mounk. «Viele linksgerichtete Politiker und viele dem Egalitarismus verpflichtete politische Philosophen haben sich deshalb mit dem Zeitalter der Eigen­verantwortung arrangiert, indem sie die Anforderungen erhöht haben, die erfüllt sein müssen, damit wir jemandem die Verantwortung für seine Handlungen oder seine Lebenslage zuschreiben können.»

Die Linke sagt heute im Grunde nicht mehr: Wir wollen sozialen Ausgleich und es ist letztlich irrelevant und ohnehin schwer messbar, inwieweit die Unter­privilegierten an ihrer Misere selber schuld sind. Stattdessen bestreiten die Vorkämpfer des sozialen Ausgleichs, dass Bürgerinnen, die Unter­stützung bekommen sollen, ihre Notlage selber verschuldet haben. Zu ihrer Verteidigung muss heute auf dem Opfer­status von Bedürftigen insistiert werden. Letztlich haben in dieser Logik nur noch Opfer – das heisst Menschen, die für ihr Unglück selber nicht verantwortlich gemacht werden können – Anspruch auf gesellschaftliche Solidarität.

Das ist ein einschneidender Paradigmen­wechsel. Der traditionelle Emanzipations­diskurs vermittelte der Unter­schicht: Ihr seid fähig, aber ihr werdet ausgebeutet. Die heutige Linke hingegen vermittelt mindestens implizit die Botschaft: Ihr seid unfähig, habt deshalb aber Anspruch auf Hilfe.

Mehr und mehr liegt der Preis für die Solidarität mit den sozial Schwachen darin, dass man ihnen de facto die Handlungs­fähigkeit (agency) absprechen muss. Natürlich ist es die unbestrittene Kernambition von linker Politik, ganz besonders von jüngeren identitäts­politischen Bewegungen, Benachteiligte zu ermächtigen, ihnen nicht nur Hilfe zukommen zu lassen, sondern auch ihre Verantwortlichkeit anzuerkennen, zu fördern, zu betonen. Empowerment ist das oberste Ziel – wird aber im Rahmen der Kultur der Eigen­verantwortung ein sehr widersprüchliches Unter­fangen. Wer für seine Notlage selber verantwortlich ist, kann Ansprüche eigentlich nicht mehr geltend machen.

Es ist stattdessen der Rechts­populismus, der mindestens gewissen Teilen der Unter­schicht die Botschaft vermittelt: Ihr wärt eures Schicksals eigene Herren, aber ihr werdet um eure Macht betrogen. Wir erkennen eure Fähigkeiten vorbehaltlos an, wir verhelfen euch zu neuer Grösse. Und der mit dieser Ansage die traditionelle Linke erfolgreich in Bedrängnis bringt.

So weit die politische Wirkungs­macht des neuen Ideals der Eigen­verantwortung. Woher aber kommt eigentlich der Siegeszug der Idee, das wichtigste gesellschaftliche Organisations­prinzip bestehe darin, dass jeder für sein eigenes Schicksal gerade­steht? Blenden wir kurz zurück.

Schluss mit den Opfern

Verantwortung war schon immer ein zentraler Begriff der politischen Debatte, aber in den Achtziger­jahren begann er seinen Sinn zu ändern. Interessanter­weise war Verantwortung als «Verantwortung für meine Mitbürgerinnen» oder als «Verantwortung als Pflicht» ein wichtiger Bestandteil der Mobilisierungs­rhetorik im Kalten Krieg. Es wurde ständig daran appelliert, dass jeder einzelne Bürger Verantwortung für die Abwehr der totalitären Gefahr, für die Verteidigung der Freiheit und damit für das Wohl­ergehen der Gemeinschaft zu übernehmen habe.

«Freiheit ist nie mehr als eine Generation von der Auslöschung entfernt», warnte etwa Ronald Reagan als kalifornischer Gouverneur in den Sechziger­jahren. Das konnte nur bedeuten: Alle waren gemeinsam dafür verantwortlich, die Freiheit zu verteidigen.

Der Kalte Krieg war ein permanenter kollektiver Solidaritäts­effort – zum Schutz der individuellen Freiheit. Es gab eine kollektive moralische Verpflichtung, die nachzuvollziehen uns heute schwerfallen mag – auch wenn wir aktuell gerade eine mächtige, (fast) alle Parteien übergreifende Welle der Solidarität mit der Ukraine erleben, die ein längst verschüttet geglaubtes Mobilisierungs­potenzial aus den Hochzeiten des Kalten Krieges zu aktivieren scheint. Plötzlich ist wieder Opfermut gefragt, Verantwortung nicht für uns selbst, sondern für andere, für die Freiheit, die Demokratie, bedrohte Bürgerinnen aus Osteuropa. Nicht umsonst erleben wir diese beispiellose, den halben Globus umspannende Mobilisierung als Rückkehr in den Kalten Krieg.

«Wofür ich mich einsetze, ist eine freie und verantwortungs­bewusste Gesellschaft», sagte in den Achtziger­jahren etwa auch Englands Premier­ministerin Margaret Thatcher. Auch aus ihrem Verantwortungs­begriff spricht noch das Pflicht­bewusstsein der Kalten Kriegerinnen. Zu Zeiten der System­konkurrenz zwischen Kommunismus und Kapitalismus konnotierte politische Verantwortung immer auch ein Pflicht­bewusstsein und eine Opfer­bereitschaft im Dienst der Demokratie.

Deutlich anders klang der dominierende Begriff der Verantwortung erst in den Neunziger­jahren. Er entwickelte seine Appell­funktion nicht mehr im Zusammen­hang des internationalen Kräfte­messens zwischen den Blöcken, sondern wurde zu einem Kampf­begriff der Innen- und Sozialpolitik. Und er wurde sowohl von der Rechten als auch von der Linken in einem völlig neuen Sinn gebraucht.

Der bereits erwähnte Tony Blair sagte um die Jahrtausend­wende: «Was den Sozialstaat betrifft, so hat die Rechte soziale Spannungen und chronische Arbeits­losigkeit zu lange wachsen lassen. Die Linke setzte sich zwar ein für gesellschaftliche Rechte, war aber viel zu schwach, was die Verantwortung betrifft.» Mit Verantwortung ist hier offensichtlich etwas Neues gemeint: die Eigen­verantwortung, die Sozialhilfe­empfänger für ihre eigene Situation übernehmen müssen.

Bill Clinton sagte 1993 in seiner ersten Rede als amerikanischer Präsident: «Wir müssen tun, was Amerika am besten tut: allen bessere Chancen bieten und von allen mehr Verantwortung verlangen.» Auch hier ist nicht die Rede von klassischer Verantwortung für die Gemeinschaft. Gemeint ist nur noch die Eigen­verantwortung.

Dasselbe Wort – das Englische responsibility – hat es geschafft, innerhalb nur einer Generation beinahe in sein Gegenteil umzuschlagen. Es stand für die moralische Pflicht, sich für die Gemeinschaft zu engagieren, und wurde zur Erwartung, dass jeder primär für sein eigenes Handeln geradesteht. Es verwies auf die grosse ideelle Konfrontation zwischen den ideologischen Blöcken – und wurde zum schlagenden Argument einer rein innen­politischen Auseinander­setzung um Sozial­hilfe und Umverteilung.

Der deutsche Kanzler Gerhard Schröder schliesslich berief sich in seiner Neujahrs­ansprache zum Jahr 2003, mitten in der Polemik um die Hartz-IV-Reformen, ganz explizit auf die Eigen­verantwortung. Obschon er den Begriff, der in Deutschland sehr viel weniger benutzt wird, wohl zur Abfederung mit «Verantwortung» kombinierte: «Wir werden dabei in jeder Hinsicht ein Mehr an Verantwortung brauchen: mehr Eigen­verantwortung jedes Einzelnen und mehr gemeinsame Verantwortung für die Chancen unserer Kinder.»

Universelle Haftbarkeit

Was hat sich verändert? Heute sind wir im Namen der Verantwortung der Gemeinschaft keine Opfer mehr schuldig. Stattdessen schulden wir für unser Handeln Rechenschaft. Das stellt eine gesellschaftliche Veränderung dar, deren Reichweite gar nicht überschätzt werden kann.

Das Ethos der Eigen­verantwortung bejaht persönliche Freiheit – knüpft sie aber an Haftbarkeit. Ich bin frei zu tun, was ich will, solange ich dafür die Folgen auf mich nehme. Eigen­verantwortung bedeutet: Es wird abgerechnet. Das zeigte sich exemplarisch auch in der Schweizer Eigen­verantwortungs-Debatte aus Anlass der Pandemie – wenn schon nicht in der realen Corona-Politik, so doch in der Debatte.

Gerhard Schwarz, der Grand Old Man des Schweizer Wirtschafts­liberalismus, sah sich provoziert durch Lukas Bärfuss’ scharfe Kritik an der pandemischen Eigenverantwortungs­rhetorik der Schweizer Regierung. Seine Entgegnung auf ein Bärfuss-Interview lässt sich auf einen Kern­gedanken reduzieren: Eigen­verantwortung sei nicht unethisch, im Gegenteil. Sie beruhe auf dem moralischen Grundsatz, dass alle Bürgerinnen für ihre freien Handlungen haften. «Eigen­verantwortung, die die Haftung einschliesst», sei auch in der Pandemie eine wertvolle moralische Orientierungs­hilfe.

Die zentrale Rolle von Haftbarkeit führt allerdings dazu, dass eine Politik, die sich auf Freiheitlichkeit im Sinne der Eigen­verantwortung beruft, mit einem ständigen Dilemma konfrontiert ist. Sie hat einen liberalen, vielleicht sogar libertären Grundaffekt, was bedeutet, dass sie alle Akteurinnen sich möglichst ungehindert entfalten lassen will. Soweit diese Freiheitlichkeit an authentische Eigen­verantwortung gebunden sein soll, müssen aber die Voraussetzungen für Haftbarkeit geschaffen werden. Einerseits soll der Spielraum des Handelns mit maximaler Grosszügigkeit bemessen werden, andererseits müssen die Handlungs­folgen zugerechnet werden können. Die Eigen­verantwortung, die im Namen der Freiheit propagiert wird, hat deshalb paradoxer­weise eine Neigung, zu engmaschiger Überwachung zu führen.

Das Politikfeld, das am tiefsten von diesem Dilemma geprägt wird, ist wiederum die Sozial­politik. In den meisten westlichen Demokratien sind die Sozial­systeme seit den Achtziger­jahren permanenten Reformen und Veränderungen unterworfen worden – was allerdings weniger zu einem massiven Abbau (auch wenn das häufig das erklärte Ziel gewesen ist) als zum ständigen Ausbau der Rechenschafts­pflichten der Empfänger sozialer Hilfe­leistungen führte. Eine reich­haltige soziologische Literatur hat diese in allen Ländern feststellbare Trans­formierung des Sozial­staates beschrieben.

Wer staatliche Unter­stützung in Anspruch nehmen will – sei es Arbeitslosen­geld, eine Invaliden­rente oder Sozialhilfe –, muss immer aufwendiger unter Beweis stellen, dass er alles versucht hat, um sich selber zu helfen. Mehr und mehr beruhen die sozialen Sicherungs­systeme auf dem Grundsatz, dass Unter­stützung nur da zulässig ist, wo der normative Regelfall – nämlich dass die Betroffenen eigen­verantwortlich eine Lösung finden – mit Gewissheit ausgeschlossen werden kann.

Gerade in der Schweiz sind diese Entwicklungen offensichtlich – man denke nur an die in die Neunziger­jahre zurück­reichende Reform der Arbeitslosen­versicherung, die ganz auf «Aktivierung» ausgerichteten IV-Reformen, welche die Renten­bezüger unter ständig wachsenden Evaluierungs- und Recht­fertigungs­druck setzen; oder an die umstrittenen Gesetzes­reformen zur immer invasiveren Überwachung von Sozialhilfe­empfängerinnen. Es müssen immer bessere und solidere Gründe geltend gemacht werden können, weshalb eine Bürgerin für die Notlage, in der sie sich befindet, nicht selber zur Rechenschaft gezogen werden kann.

Der Gegensatz zwischen libertärer Grund­neigung und Ethos der Haftbarkeit ist ein nur schwer zu entschärfender Wider­spruch. In der Regel wird er mit einer Differenzierung nach Zielgruppe aufgefangen. Sozialhilfe­empfänger sollen haftbar sein, Leistungs­trägerinnen hingegen sollen Ellenbogen­freiheit haben. Erstere werden einem ständig ausgebauten Überwachungs­regime unterworfen, bei Letzteren begnügt man sich häufig mit Appellen an ein freiwilliges Verantwortungs­bewusstsein; zum Beispiel die sehr häufig lancierten und kaum je gehörten Appelle, Spitzen­saläre strikt von der Performance abhängig zu machen.

Das führt dazu, dass nicht nur die Linke, sondern auch die Rechte durch die gesellschaftliche Geltungs­macht von Eigen­verantwortung in schwer zu lösende Wider­sprüche geführt wird. Sozial­ethische Prinzipien müssen universell gelten: Man kann nicht die Sozialhilfe­empfängerinnen auf ihre Haftung verpflichten und dem Wirtschafts­kapitän einen Freipass erteilen beziehungs­weise den einen überwachen und vom anderen bloss freiwillige Verantwortlichkeit einfordern.

Die Rechte bekennt sich mit der Eigen­verantwortung zu einem universellen Ethos der Haftbarkeit – hat aber die Tendenz, ausgerechnet die Eliten, die doch beispiel­gebend sein sollten, davon auszunehmen.

Vom Nutzen zum Vertrag

Dieses Prinzip der Haftbarkeit geht zudem einher mit einer zweiten, nicht minder fundamentalen Verschiebung: der «Kontraktualisierung». Das Paradigma des Kontrakts, des Vertrags wird immer wichtiger für unsere Auffassung von sozialen Beziehungen. Wenn Haftbarkeit das regulative Prinzip sein soll, auf dessen Basis die Gesellschaft organisiert ist, wird der Vertrag – oder mindestens die informelle Verhaltens­anweisung – fast zwangsläufig zum Modell von gesellschaftlichen Bindungen. Haftung beruht immer auf einem expliziten oder impliziten Vertrag. Sie kann nur entstehen, wo der Handelnde so etwas wie eine Garantie abgibt.

In Wirklichkeit bestehen Gesellschaften zwar aus einem komplexen Gewebe sozialer Bindungen unterschiedlichster Natur, zum Beispiel aus Zugehörigkeits- oder eben Verantwortungs­gefühlen. Diese werden aber mehr und mehr überlagert vom Vertrags-Paradigma: Heutige Gesellschaften orientieren sich stark an der Vorstellung von Grund­verträgen, die zu erfüllen wir in der Pflicht stehen. Und deren Nichterfüllung sanktionierbar ist.

Jedenfalls ist die Juridifizierung sämtlicher Lebens­bereiche eine der gesellschaftlichen Entwicklungs­tendenzen der letzten Jahrzehnte. Es geht dabei nicht nur um Verrechtlichung im eigentlichen Sinn, sondern darum, dass soziales Verhalten stärker regelgeleitet ist und auf Regel­verstösse gescannt werden soll. Grundlage dafür können rechtliche Verpflichtungen oder auch blosse Sprach­regelungen oder alle möglichen code of conducts sein. Es ist aktuell sehr beliebt, diese Entwicklung zu denunzieren – als Über­regulierung oder auch als Überschiessen einer «politischen Korrektheit». Was jedoch kaum je thematisiert wird, ist die Verbindung, die diese Entwicklung zum Ideal der Eigen­verantwortung unterhält. Um Haftbarkeit festlegen zu können, brauchen wir Regeln und Kriterien, die mit der Erweiterung der Freiheiten und Handlungs­optionen paradoxer­weise immer umfassender und omnipräsenter werden.

Yascha Mounk analysiert diese Verschiebung zunächst anhand einer Diskussion der Entwicklung der politischen Philosophie in der angel­sächsischen Welt. Bis in die Siebziger­jahre hinein hatten Theorien der guten Gesellschaft ein Fundament, das man im weitesten Sinn als utilitaristisch bezeichnen konnte. Es ging im Wesentlichen darum, die sozialen Verhältnisse so zu organisieren, dass es einer möglichst grossen Zahl von Menschen einen optimalen Nutzen bringt: Allen sollte es möglichst gut gehen. Man konnte sehr unterschiedlicher Meinung darüber sein, wie die Wohlfahrt tatsächlich zu maximieren sei – ob durch eine eher elitäre oder eine eher egalitäre soziale Struktur –, aber die grundsätzliche Zielsetzung war klar. Wichtig war nicht, wem gerechter­weise was zusteht, sondern dass das Ergebnis für alle optimal wird.

Das ist eine ethische Haltung, die man «Konsequenzialismus» nennt. Wichtig sind die Folgen politischer Entscheide, wichtig ist das Resultat. Diese Haltung wurde in der angel­sächsischen Welt jedoch definitiv infrage gestellt mit dem Siegeszug der politischen Philosophie von John Rawls.

Rawls, der 1971 sein enorm einfluss­reiches Hauptwerk «Eine Theorie der Gerechtigkeit» veröffentlichte, verfolgte eine Sozial­philosophie, die liberale und egalitäre Prinzipien versöhnen sollte. Er wollte eine Theorie der Gerechtigkeit schaffen, die durch einen Gesellschafts­vertrag begründet war. Der Grund­gedanke lag darin, dass dieser Vertrag für alle Gesellschafts­mitglieder zustimmungs­fähig sein muss, bevor sie wissen, wo in der Gesellschaft sie ihren Platz finden werden und mit welchen Talenten sie ausgestattet sind, um sich gegen andere zu behaupten. Was hinter dem «Schleier der Unwissenheit» von allen als gerecht anerkannt wird, muss auch gerecht sein.

Auf der Basis einer solchen Aushandlung können gemäss Rawls Institutionen geschaffen werden, die für einen fairen gesellschaftlichen Ausgleich sorgen. Ein zentrales Anliegen von Rawls bestand darin, den Gerechtigkeits­begriff von den individuellen Tugenden zu lösen: Was den Individuen zusteht, sollte nicht nur durch ihre individuellen Fähigkeiten, also quasi von Natur aus, bestimmt sein, sondern als ethische und politische Frage aufgefasst werden. Der Gesellschafts­vertrag bei Rawls ist nicht natur­gegeben: Die Gesellschaft muss ihn nach vernünftigen Verfahren aushandeln.

Diese Theorie eines politischen Vertrags ist jedoch gemäss Mounk sehr weitgehend kompatibel mit dem Ethos der Eigen­verantwortung und sollte es sogar fördern: Schliesslich liegt es in der Verantwortung jedes Bürgers, ob er sich an die Abmachungen hält oder nicht. Aus dem Gesellschafts­vertrag ergeben sich «legitime Erwartungen», deren Erfüllung oder Nicht­erfüllung über die Ansprüche jedes Bürgers entscheiden soll.

Was einer Bürgerin zusteht und was nicht, wird bei Rawls deshalb stark von ihrer individuellen Vorgeschichte bestimmt. Sozial­philosophien vom utilitaristischen Typ interessieren sich für sinnvolle Strukturen und optimale Ergebnisse, nicht für die individuellen Verdienst- und Sünden­register der Bürgerinnen. Bei Rawls jedoch geht es nicht primär um das möglichst optimale Resultat. Und obwohl er die Pflicht zum Schutz der Schwachen in seinen Grund­prinzipien festschreibt, geht es auch nicht primär um sozialen Ausgleich. Es geht um «vertraglich» ausgehandelte Gerechtigkeit. Darum, dass alle ihr Los gemäss der Grund­vereinbarung finden – und deshalb auch ganz zentral um die Frage, ob sie sich an diese Grund­vereinbarung halten.

Etwas überspitzt formuliert: Gute Politik, auch in ihrer sozial­liberalen Variante, besteht heute nicht mehr darin, den Menschen Wohlfahrt zu verschaffen. Sie besteht darin, die Menschen nach den richtigen Kriterien zur Rechenschaft zu ziehen. Die angel­sächsische politische Philosophie hat im Anschluss an Rawls deshalb damit begonnen, wahnwitzig viel Energie darauf zu verwenden, solche Kriterien immer präziser zu definieren.

Glück oder Verdienst

Es ist eine komplexe Scholastik der Zurechnungs­theorien entstanden. Wenn es so sein soll, dass mein gerechter Platz in der Gesellschaft davon abhängt, wie ich selber gehandelt habe, und wenn es keinen anderen Weg gibt, meine Handlungen zu beurteilen als danach, ob ich selber die volle Kontrolle über die Vorgänge hatte oder ob ich zum Beispiel einfach zum Opfer von unverschuldetem Pech geworden bin – dann muss man anfangen, sehr präzise zu unterscheiden zwischen Verdienst und blossem Glück. Genau das tut die angel­sächsische Sozial­philosophie heute auch – unter dem Label des luck egalitarianism (Glücks-Egalitarismus), der sich im Anschluss an Rawls entwickelt hat und etwa von Ronald Dworkin ausgearbeitet wurde.

Der Grundgedanke besteht darin, dass Gleichheit im Prinzip unser Gerechtigkeits­ideal sein sollte, dass Ungleichheit aber gerecht­fertigt ist, solange man sie zurückführen kann auf Qualitäten wie Fleiss, Intelligenz sowie vor allem Willens­kraft und Entscheidungs­autonomie des Handelnden. Was aber, wenn jemand – aus Gründen, die sich seiner Kontrolle entziehen – ganz einfach Pech gehabt hat? Oder wie soll man es bewerten, wenn jemand, der unfähig und faul ist, durch glückliche Umstände plötzlich grossen Erfolg hat – viel grösseren als fähigere Mitbewerberinnen, denen der Zufall nicht in die Hände spielte?

Yascha Mounk zeichnet diese Debatten detailliert nach, nicht nur deshalb, weil er die entwickelten Argumente auf ihren Wahrheits­gehalt prüfen will. Der Punkt ist vielmehr, dass diese Theorien der Gerechtigkeit nicht nur eine perfektionierte philosophische Basis liefern für das Ethos der Eigen­verantwortung, sondern auch die gesellschaftliche Entwicklung widerspiegeln. Sie zeigen, wie ungeheuer aufgeladen und zentral das Problem der Zurechenbarkeit von Verantwortung geworden ist, wobei mit Verantwortung eben nie mehr die Fürsorge­pflicht für andere, sondern die immer präziser ausgemittelte Verantwortung für das eigene Schicksal gemeint ist.

Eine positive Verantwort­lichkeit

Es geht Mounk nicht darum, zu bestreiten, dass der Begriff der Verantwortung ein absolut zentrales Konzept für die politische Philosophie darstellt. Es ist auch nicht das Ziel, Verantwortlichkeit als solche in Zweifel zu ziehen, obwohl die Frage, ob Individuen für ihr Handeln überhaupt haftbar gemacht werden können, so alt ist wie die Debatten über Willens­freiheit. Politische Gemeinschaften lassen sich nur dann sinnvoll organisieren, wenn all ihren Mitgliedern zugestanden wird, dass sie Verantwortung tragen können und tragen müssen. Die Frage sollte jedoch sein, wie wir zu einem positiven Begriff von Verantwortung kommen. Der Verantwortungs­begriff, welcher der Eigen­verantwortung zugrunde liegt, ist einseitig und reduktionistisch.

Erstens verhindert der Fokus auf Eigen­verantwortung die adäquate Valorisierung der Verantwortung für andere. Es ist ein fundamentales menschliches Bedürfnis, für sein eigenes Handeln Verantwortung zu übernehmen, ein soziales Ethos, das darauf aufbaut, macht an sich nichts falsch. Wir definieren uns aber nicht weniger durch die Verantwortlichkeit, die wir gegenüber anderen empfinden. Diese basale Form der Solidarität wird vom Eigenverantwortungs­diskurs relativiert.

Zweitens sollte Sozialpolitik primär kein Strafsystem darstellen, sondern politisch gewollte Ziele der allgemeinen Wohlfahrt verfolgen. Die Haupt­aufgabe des Staates sollte es nicht sein, die sozial Schwachen zu überwachen, sondern ihnen zu helfen und sie zum Handeln zu ermächtigen.

Zwar mag es durchaus sinnvoll sein, Anreize zu schaffen, damit zum Beispiel Empfänger von Arbeitslosen­geld sich auch wirklich bemühen, wieder eine Arbeit zu finden. Es mag häufig aber auch viel zielführender sein, persönliches Versagen nicht zu sanktionieren und Anreize nicht über Straf­mechanismen zu setzen.

Schliesslich und endlich: Es sollte das Ziel der Gesellschaft sein, den Hilfs­bedürftigen die Handlungs­fähigkeit nicht abzusprechen. Der Opfer­status darf nicht die einzige Legitimation für soziale Absicherung und als sinnvoll anerkannte Umverteilung sein. Ganz im Gegenteil: «Ein positives Konzept von Verantwortung könnte den begrifflichen Spielraum so rekonfigurieren, dass nicht mehr die Bestrafung, sondern das Empowerment im Zentrum steht», sagt Yascha Mounk. Solange die Eigen­verantwortung den Diskurs beherrscht, wird dieses Vorhaben unmöglich bleiben.

Freiheit als Haftbarkeit ist ein hartes ethisches Regime – vielleicht das härteste, das denkbar ist. Nicht nur deshalb, weil Menschen an ihrem Potenzial und nicht an ihrem Sünden­register gemessen werden sollten. Sondern auch darum, weil die Frage, wie unsere Freiheit vereinbar ist mit unserer Hoffnung auf Solidarität – oder um es etwas altmodischer auszudrücken: mit unserer Hoffnung auf Gnade –, schon eines der gravierendsten Probleme der abendländischen Geschichte und der christlichen Theologie gewesen ist.

Wie lässt sich die Willens­freiheit und damit die Möglichkeit zur Sünde und zum Bösen vereinen mit der göttlichen Allmacht? Dieser eigentlich unlösbare Grund­widerspruch beherrschte die theologischen Kontroversen – und wurde entschärft durch die göttliche Gnade. Trotz seiner Allmacht gewährt der christliche Gott den Menschen die Freiheit, sich selber zu verdammen – aber er kann in seiner Gnade die Sünde auch vergeben. Nichts ist möglich – beziehungsweise alles ist von Gott schon festgelegt worden –, aber alles kann verziehen werden.

Unsere säkularisierte Welt, so scheint es, hat für Gnade jedoch keine Verwendung mehr. Das theologische Erlösungs­versprechen macht einem hartem Realismus Platz. Und deshalb wird nun alles vom Kopf auf die Füsse gestellt. Es gibt keine göttliche Allmacht und keinen grossen Plan mehr. Für uns Erdenbürgerinnen heisst das dann aber auch: Alles kann möglich sein – aber nichts wird verziehen. Die Eigen­verantwortung ist letztlich ein erdrückendes Ethos der Gnaden­losigkeit. Und wird erfolgreich verkauft als die letzte Utopie. Wir hätten Besseres verdient.

Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus mit einem Monatsabonnement oder einer Jahresmitgliedschaft!