Eine Art Normalität kehrt zurück: Café in Kiew.

Leben in Trümmern

Auto

Der alte Honda ist endlich aus der Reparatur zurück. Das vergrössert den Bewegungs­radius von Fotograf Lesha. Eingeschränkt bleibt aber nach wie vor seine Frau Agata. Das Paar steht vor einer schwierigen Entscheidung.

Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Annette Keller (Bildredaktion und Übersetzung), 07.04.2022

Synthetische Stimme
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Kiew erwacht aus der Schock­starre und wird Woche für Woche lebendiger. Immer mehr Cafés und Restaurants machen wieder auf, immer mehr Freunde kehren aus dem Westen der Ukraine zurück. Es fühlt sich nach Aufbruch an. Auch bei uns daheim kehrt ein bisschen Normalität zurück, wir haben uns getraut, das Schlaf­lager im Flur zu verlassen und für ein paar Nächte wieder in unserem Bett im Schlaf­zimmer zu schlafen. Das war toll.

Doch das ist alles mit Vorsicht zu geniessen. Obwohl sich die russischen Truppen aus Kiew zurück­gezogen haben, können wir nur vermuten, was sie vorhaben, und wir hoffen, dass sie Kiew, das Herz der Ukraine, nun in Ruhe lassen. Aber wer weiss das schon? Und es könnte wohl auch bedeuten, dass sie die Angriffe auf den Süden und den Osten verstärken, und das ist genauso beunruhigend.

Und auch wenn hier vieles wieder normaler erscheint – was ist schon normal? Es gibt immer noch Ausgangs­sperren, Luftalarme, und viele Verbindungen innerhalb von Kiew sind unterbrochen. Vororte, die von den Russen besetzt waren, sind zerstört und teilweise auch vermint, es ist nach wie vor gefährlich.

Spuren des Krieges.
Der Honda gibt ein Comeback.
Jahrgang 1988.

Die letzte Woche brachte eine positive Überraschung. Wir konnten unser Auto abholen. Die Geschichte unseres Autos ist eine lange – es ist letzten August zusammen­geklappt, als wir in die Karpaten gefahren sind. Es ist ein alter Honda, Jahrgang 1988, und jedes Mal, wenn wir eine längere Reise vorhaben, streikt er. Im August mussten wir den Motor auswechseln, und es dauerte ein halbes Jahr, bis wir Ersatz auftreiben konnten. So lange war der Wagen dann auch in der Werkstatt.

Wir haben nun nicht mehr erwartet, dass wir ihn bald zurück­kriegen: Die Jungs von der Werkstatt haben am 24. Februar Kiew verlassen, wie viele andere auch. Aber letzten Montag kamen sie für einen Tag zurück und haben den Motor in unser Auto eingebaut. Seit Dienstag haben wir es also wieder, sehr zu unserer Freude.

Vielleicht ist es gut, war es am 24. Februar noch in Reparatur. Wer weiss, was wir entschieden hätten und wo wir jetzt wären! Dafür schätze ich das Auto heute umso mehr, weil es unseren Radius erheblich erweitert. Nachdem dieser lange auf unsere unmittelbare Nachbarschaft begrenzt war, kann ich nun die Stadt erkunden, mit eigenen Augen sehen, was mit ihr geschieht. All die Check­points, Einschlag­löcher, Spuren von Explosionen, Gebäude mit kaputten Fenstern, ausgebrannten Autos.

Leider kann meine Frau Agata nicht mitkommen, denn wenn wir zusammen sind, riskieren wir wirklich Probleme wegen unserer Pässe. Solange ich allein bin, geht es gut. Ich werde oft kontrolliert, aber da ich meistens mit Besorgungen für andere Bewohnerinnen unterwegs bin, verstehen sie, dass ich helfe. Trotzdem, sie schauen meine Dokumente aus dem Donbass genau an und fragen mich dann aus.

«Wann bist du nach Kiew gezogen?», wollte kürzlich einer wissen und testete auch gleich meine Antwort: «Weisst du, wo die Stand­seilbahn ist?» Die ist zum Glück in unserer Nähe, also lächelte ich und nannte ihm den Strassen­namen.

Blick auf einen Wohnblock.
Lesha unterwegs mit Besorgungen …
… die dann ihren Bestimmungsort erreichen.

Es ist unfassbar, wie sich die Stadt verändert, ich würde gerne viel mehr fotografieren und diese Veränderungen festhalten; auch um sie zu verstehen. Aber das ist nicht so einfach – wer mit einer Kamera rumläuft, weckt Misstrauen. Aber ich nehme an, die Spuren werden noch eine Weile bleiben, dann hole ich das nach, wenn sich die Lage weiter entspannt hat.

Nach wie vor fahre ich viele Freiwilligen­einsätze. Freunde von mir haben ein Netzwerk aufgezogen, mit dem sie die Menschen versorgen, die in ihren Quartieren geblieben sind. Sie kaufen Nahrungs­mittel in grossen Mengen von Super­märkten oder direkt bei den Lieferanten. Dann wird in einem Lager alles sortiert und zusammen­gestellt. Ein typisches Set für eine Person besteht aus Mehl, Zucker, Eiern, Milch, Pasta, Reis, Hafer­flocken, zwei Dosen mit Fisch, einer mit Fleisch, Konserven mit Mais und Erbsen, Sonnen­blumenöl, Tee, Schokolade, Keksen, Äpfeln, Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln und Randen.

Medikamente sind immer noch schwer zu finden, aber einer Bekannten von mir ist es gelungen, in Polen welche aufzutreiben und nach Kiew zu schaffen, diese verteilen wir ebenfalls. Mit dem Auto kann ich nun auch in anderen Quartieren die Menschen versorgen, und mir bringt es Abwechslung.

Zuerst wird das Essen sortiert …
… und dann in den Honda gepackt.

Während sich mein Bewegungs­radius also vergrössert hat, befindet sich Agata auf einer emotionalen Achter­bahn­fahrt. Sie würde auch gerne mithelfen, aber weil sie Russin ist, kann sie sich nicht so frei bewegen, das ist schwierig für sie, für uns. Sie erhält immer noch Anfragen als Model, und wir überlegen uns deshalb, ob es vielleicht gut wäre, die anzunehmen. Arbeiten würde sie sicher auf andere Gedanken bringen, und in Europa könnte sie sich auch wieder unbesorgter bewegen. Aber es würde eben auch bedeuten, dass wir uns trennen müssten, ohne zu wissen, wann und wo wir uns wieder­sehen.

Eine schwierige Entscheidung, die wir gerade noch nicht treffen können.

Den Text für diese Kolumne schrieb Lesha, bevor die Massaker in Butscha bekannt wurden. Auf unsere Rückfrage, ob er sich dazu äussern möchte, meinte Lesha, er fühle sich derzeit dazu nicht in der Lage, und schlug vor, den Beitrag dennoch zu veröffentlichen, mit diesem entsprechenden Zusatz.

Zum Fotografen

Lesha Berezovskiy arbeitet als freier Fotograf in Kiew. Er ist 1991 im ostukrainischen Bezirk Luhansk geboren. Als dort 2014 der Krieg ausbricht, zieht er in die Haupt­stadt, wo er heute mit seiner Frau Agata lebt.

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