Am Gericht

Zur falschen Zeit auf dem falschen Klo

Unter einer Bar-Schlägerei stellt man sich eine Rauferei zwischen besoffenen Männern vor. Doch auch Frauen können die Contenance verlieren, und wie! Tatort: die Toilette im Unter­geschoss.

Von Brigitte Hürlimann, 23.03.2022

Synthetische Stimme
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Die Grenze zwischen einer einfachen und einer schweren Körperverletzung ist schmal; vor allem dann, wenn es um Schläge und Tritte gegen den Kopf geht. Oft ist es reines Glück, wenn nichts Schlimmeres geschieht. Von einer schweren Körperverletzung im strafrechtlichen Sinn ist die Rede, wenn die Verletzung lebensgefährlich ist – in diesem Fall droht eine Höchststrafe von bis zu zehn Jahren.

Andere Verletzungen können entweder eine einfache Körperverletzung sein (die Vorsatz verlangt), eine fahrlässige Körperverletzung oder aber eine Tätlichkeit. Auch hier ist die Abgrenzung nicht immer einfach. Tätlichkeiten sind beispielsweise Ohrfeigen, Faustschläge, ein heftiges Schütteln, aber auch: Das Zerzausen einer kunstvollen Frisur oder das Verschmieren eines Stücks Patisserie im Gesicht des Widersachers – auch entartage genannt.

Dass es sich um einfache Körperverletzung und Tätlichkeiten handelt, ist im Fall einer Bar-Streitigkeit mitten im Zürcher Ausgehviertel (in der Vor-Corona-Epoche) unbestritten. Ebenso, dass es um drei Frauen geht; zwei Angreiferinnen und ein Opfer, die auf dem WC zufällig aufeinanderprallen.

Strittig ist: Wer hat geschlagen? Warum und wie? Oder hat sich das Opfer seine Verletzungen allenfalls anderswo geholt?

Ort: Bezirksgericht Zürich
Zeit: 18. März 2022, 8.30 Uhr
Fall-Nr.: GG210363 und GG210364
Thema: mehrfache einfache Körperverletzung und mehrfache Tätlichkeiten

Sie schauen sich nicht an.

Sie grüssen sich nicht.

Ausserhalb des Gerichtssaals, in den Pausen und später beim Warten auf die Urteils­eröffnung, gehen sie sich tunlichst aus dem Weg. Drinnen sitzen sie zwar auf der gleichen Anklagebank, sind aber gut zwei Armlängen voneinander entfernt. Erzürnte Blicke, wenn die eine bei der richterlichen Befragung schlecht über die andere spricht. Der jeweils anderen die Schuld in die Schuhe schiebt. Oder sich selbst als Unschulds­lamm darzustellen versucht.

Damals, sagen sie übereinstimmend, seien sie Kolleginnen gewesen. Na ja, also nicht die besten.

Von Freundinnen, sisters oder von Sauf­kumpaninnen ist nicht die Rede. Eindeutig ist: Heute wollen sie nichts mehr miteinander zu tun haben.

Jene Nacht in jener Zürcher Bar ist ausgeartet, da sind sie sich einig. Und auch, dass beide vor Ort waren, als es geschah – im WC, im Untergeschoss. Dass eine dritte Frau im Spiel war, die sie vorher nicht kannten. Die betrunken gewesen sein soll. Und die zur falschen Zeit ins falsche Klo kam, in einer Aprilnacht 2019.

«Sie hat provoziert. Wie? Verbal!», sagt die Ältere der beiden Beschuldigten, heute 27 Jahre alt.

«Die andere ist völlig ausgerastet»

Die zwei Jahre Jüngere gibt sich vor Einzelrichterin Sabrina Hürlimann auskunftsfreudiger: «Wir waren auf dem WC, haben unser Geschäft verrichtet und so. Da ist sie torkelnd reingestürzt, völlig betrunken, sie hat rumgepöbelt, provoziert und uns beleidigt. Meine Kollegin wurde megahässig und rastete aus. Ich wollte nichts damit zu tun haben und ging wieder rauf, habe draussen eine Zigarette geraucht. Ich hatte keine Lust auf unnötigen Stress.»

Die dritte Frau, das Opfer, nimmt am Prozess vor dem Bezirksgericht Zürich nicht teil.

Sie hat ihre Aussagen in der Straf­untersuchung deponiert und lässt sich von einem Anwalt vertreten. Staatsanwältin Sabine Schuler, die ebenfalls nicht anwesend ist, stützt sich in ihrer Anklageschrift im Wesentlichen auf die Schilderungen des Opfers. Schuler hält fest: Die dritte Frau habe ebenfalls das WC aufsuchen wollen. Weil die Türe zum Vorraum gesperrt gewesen sei, habe sie geklopft und gefragt, ob sie wenigstens den Spiegel benutzen dürfe. Die Türe sei daraufhin einen Spaltbreit geöffnet worden. Eine der beiden beschuldigten Frauen habe die Anklopfende in den Innenraum gezerrt und angespuckt.

Danach hätten die zwei Schweizerinnen mit der Faust das Gesicht der Dritten traktiert und deren Kopf gegen die Wand geschlagen. Andere Barbesucher hätten die Auseinander­setzung beenden können.

«Ich habe nicht geschlagen und nicht an den Haaren gerissen», beteuert die Ältere.

«Ich habe nicht geschlagen und nicht an den Haaren gerissen», sagt auch die Jüngere. Und ergänzt: «Die andere ist völlig ausgerastet. Unnötigerweise. Ich habe versucht, mich da rauszuhalten.»

Der Angriff wird auf die Strasse verlegt

Mit der Episode auf der Toilette war die Prügelei allerdings noch nicht beendet. Staatsanwältin Schuler schildert in der Anklage­schrift den weiteren Verlauf: Die dritte Frau habe kurz nach dem Zwischenfall im WC die Bar verlassen und sei von ihren Widersacherinnen verfolgt worden. Die Angreiferinnen hätten ihr Opfer auf dem Trottoir zu Boden geworfen und ihr mehrfach in den Bauch und den Rücken getreten. Die Geschlagene habe unter anderem zwei Rippen­brüche und eine Prellung an der Stirne erlitten.

Was nicht in der Anklageschrift steht, jedoch am Prozess erwähnt wird: Es war der damalige Freund des Opfers gewesen, der die Schlägerei beendete und später im Strafverfahren als Zeuge aussagte.

«Ich bin ihr nicht nachgerannt, es stimmt nicht, dass ich sie zu Boden geworfen und getreten habe. Ich war beim Vorfall draussen gar nicht mit dabei», sagt die ältere Frau.

«Sie ist ihr nachgerannt», widerspricht die Jüngere. «Sie waren ineinander, haben sich an den Haaren gerissen, liegend und stehend. Von Fusstritten habe ich nichts gesehen. Ein grosser Mann hat die beiden getrennt und meine Kollegin auf die Strasse geschleudert.»

Waren es Hooligans?

Die verletzte Frau verlangt am Prozess via Anwalt eine Genugtuung von 5000 Franken und die solidarische Verpflichtung der beiden Beschuldigten für einen Schadenersatz, der sich heute noch nicht beziffern lasse. Rechtsanwalt Marino Di Rocco betont die glaubwürdigen, konsistenten, detailreichen und logischen Schilderungen des Opfers. Die Aussagen der zwei anderen Frauen hingegen: «Absurd.» Jede schiebe die Schuld auf die andere, es werde bagatellisiert.

Die zwei Schweizerinnen auf der Anklagebank kämpfen um einen Freispruch im Bar-Fall. Ihre Verteidiger, Daniel Schläpfer und Kenad Melunovic, sagen, es sei nicht erwiesen, welche der Beschuldigten für welche konkreten Handlungen verantwortlich sein solle. Wer also wo und wie geschlagen habe. Das habe die Staatsanwältin nicht herausgefunden, die Anklage bleibe vage – viel zu vage.

Ein konkretes Tatverhalten könne den Frauen nicht nachgewiesen werden und von Mittäterschaft keine Rede sein. Weder liege ein gemeinsamer Tatplan oder Tat­entschluss vor noch ein gemeinsames Handeln. «Es war ein dynamisches, spontanes Geschehen», so Schläpfer.

Beide Verteidiger erwähnen, die verletzte Frau habe in den Einvernahmen angegeben, wenige Tage nach dem Zoff in der Bar von Hooligans angegriffen worden zu sein. Sie sei dabei vom Velo gestürzt. Aus den Arztberichten, die eingereicht wurden, sagt Melunovic, sei nicht ersichtlich, woher die Verletzungen stammten. Und es sei ja das Opfer selbst gewesen, das von einem Vorfall mit Hooligans berichtet habe, der nach dem Rencontre in der Bar passiert sei.

Also waren es Hooligans gewesen? Und nicht die zwei Frauen auf der Anklagebank, die beide wegen Raufhandels vorbestraft sind?

Ein Bartisch fliegt auf die Strasse

Die 25-Jährige muss sich am Strafprozess vor dem Bezirksgericht Zürich auch noch wegen einer geringfügigen Sach­beschädigung verantworten und wegen der Verletzung des Strassen­verkehrs­rechts. Beides gibt sie zu.

Der Sachschaden betrifft einen Vorfall in einer anderen Bar an einem anderen Ort. Sie soll einen Tisch und circa drei Stühle auf die Strasse geschmissen haben; der aufgebrachte Barbesitzer sitzt als Privatkläger im Gerichtssaal und schnaubt vor Wut, wenn von diesem Vorfall die Rede ist. Die Frau sei besoffen und völlig unkontrolliert gewesen, sagt er und verlangt einen Schadenersatz von 1400 Franken.

«Völlig überrissen», erwidert die Frau. Sie habe nur einen Bartisch auf die Strasse geworfen, und der sei ein Werbe­geschenk der Brauerei Feld­schlösschen gewesen. Beim anderen Anklagepunkt geht es darum, dass sie mit einem ungültigen Lernfahr­ausweis Töff gefahren ist und einen Selbstunfall verursacht hat.

Die zwei Frauen verzichten auf ein Schlusswort. Sie müssen draussen vor dem Saal nicht lange auf die Urteils­eröffnung warten, die kurz vor Mittag erfolgt. Wieder sitzen sie auf der hölzernen, denkmal­geschützten und denkbar unbequemen Anklagebank, gut zwei Armlängen voneinander entfernt. Und blicken gespannt nach vorne.

Einzelrichterin Sabrina Hürlimann eröffnet das Verdikt.

Beide Frauen werden wegen mehrfacher einfacher Körper­verletzung und mehrfacher Tätlichkeiten schuldig gesprochen, die Jüngere auch wegen der beiden zusätzlichen Vorfälle. Beide kommen mit bedingten Geldstrafen und Bussen davon.

Die Ältere kassiert 120 Tagessätze à 90 Franken und eine Busse von 300 Franken, die Jüngere 150 Tagessätze à 100 Franken und eine Busse von 500 Franken. Dazu kommen für beide Gerichts­gebühren in der Höhe von mehreren tausend Franken – pro Person.

«Sie müssen sich bewähren!»

Das Opfer, sagt die Richterin, habe glaubhafte Aussagen gemacht, ohne grosse Widersprüche und ohne Über­treibungen. Ihre Schilderungen stünden in Einklang mit dem, was die Zeugen berichteten. Auch das Verletzungs­bild passe dazu. Der Sachverhalt sei erstellt, auch wenn das Opfer einmal ausgesagt habe, von Hooligans zusammen­geschlagen worden zu sein.

Die beiden Frauen hätten die ihnen unbekannte Dritte angegriffen, mit einer «relativ massiven Gewalt­anwendung». Und beide seien zwar einschlägig vorbestraft, aber das Gericht gehe trotzdem von einer guten Prognose aus; die Probezeit werde wegen der «Restbedenken» auf drei Jahre angesetzt. Dem Opfer müssen die zwei eine Genugtuung von 1000 Franken bezahlen, plus Zinsen. Und beide haften sie solidarisch für einen allfälligen künftigen Schaden der verletzten Frau.

«Es läuft wieder eine Probezeit», ermahnt Richterin Hürlimann. «Sie müssen sich bewähren.»

Illustration: Till Lauer

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