Nicht viel los: Ein Spielplatz in Kiew.

Leben in Trümmern

Draussen

Sich immer nur im Haus verschanzen, das möchten Lesha und Agata nicht. Auf ihrem Streifzug müssen sie beweisen, dass sie keine russischen Saboteure sind. Und unser Fotograf macht ein Bild, das er vor Kriegs­ausbruch furchtbar kitschig gefunden hätte.

Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Annette Keller (Bildredaktion und Übersetzung), 19.03.2022

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Vor ein paar Minuten hat das Sirenen­geheul aufgehört. Ich liege noch im Bett und lausche den Explosionen, die in der Ferne weiter andauern. Ich vermute, sie sind etwa 10 bis 15 Kilometer weit weg. Dann höre ich auch den Fernseher in einer Wohnung über oder unter uns. Das Geräusch tröstet mich. Eine Geister­stadt, die doch nicht nur aus Geistern besteht.

In den letzten Tagen gingen wir ab und zu nach draussen. Wir sind nicht die Einzigen, die Strassen beleben sich allmählich. Menschen gehen mit ihren Hunden spazieren, Kinder spielen und springen um ihre Eltern herum. Ich spreche eine kleine Gruppe Männer an, die gemeinsam Wein trinken und den Eindruck erwecken, als hätten sie etwas zu feiern. Auf meine Frage, ob sie bereits auf unseren Sieg anstossen, meinen sie: «Das natürlich auch, aber wir haben andere Gründe.» Ich frage nicht nach, aber sie sehen aus wie drei alte Freunde, die glücklich sind, Zeit miteinander zu verbringen.

Wenig später kommt uns ein Hund entgegen, er ist ganz allein und trottet langsam vor sich hin. Wir wissen, dass Hunde manchmal zurück­gelassen werden oder verloren gehen, weil die Explosionen sie erschrecken und sie davon­rennen. Meine Frau Agata geht auf den Hund zu, um ihn zu kraulen, und findet an seinem Hals­band eine Telefon­nummer. Wir erreichen den Besitzer und warten zusammen mit dem Hund auf ihn. Wir erfahren, dass der Hund schon sehr alt ist und nicht mehr gut hört – und darum nicht reagiert hat, als er von seinem Besitzer gerufen wurde.

Agata mit dem entlaufenen Hund.
Klares Signal.
Agata im Lieblingsrestaurant.
Viele Freunde treffen – derzeit ein seltenes Glück.

Wir gönnen uns ausnahms­weise auch ein bisschen Wein. Man kann zurzeit keinen Alkohol kaufen, und es scheint auch etwas unpassend, ihn zu trinken, aber wir haben einen Grund: Freunde kommen zu Besuch. Sie leben in unter­schiedlichen Quartieren von Kiew, und die meisten engagieren sich für diverse Freiwilligen­projekte. Es ist schön, sie alle bei uns zu haben. Seit dem Beginn des Krieges konnten wir nicht mehr so viele Freunde auf einmal sehen. Es fühlt sich aber auch etwas surreal an; wie eine after-party nach einer durch­feierten Nacht. Anstatt über die DJ-Performance, den Club, angesagte Ausstellungen oder geplante Projekte zu sprechen, erzählen wir uns von den Erlebnissen in unserem neuen Alltag, von Freiwilligen­einsätzen und wie wir mit der dauernden Bedrohung umgehen. Ein sehr spezieller Abend.

Auf Instagram fällt uns ein Post eines unserer Lieblings­restaurants auf – es hat offen! Wie andere Restaurants auch kochen sie für die Armee und die Verteidigungs­kräfte, aber nun bewirten sie auch wieder Gäste. Wir beschliessen hinzugehen, um sie zu unter­stützen und natürlich auch, um uns wieder etwas aus unserem früheren Leben zu gönnen. Wegen des Mangels an frischem Gemüse können sie nicht ihre üblichen Menüs anbieten, aber das macht nichts. Es ist trotzdem sehr lecker. Für einen kurzen, grossartigen Moment vergessen wir, was eigentlich los ist.

Sonnenuntergang über dem Dnipro.

Auf dem Weg zum Restaurant werden wir das erste Mal angehalten und kontrolliert. Weil ich aus Donezk komme und Agata Russin ist, sind wir sehr verdächtig – wir könnten wie Saboteure wirken. Wir bleiben ruhig und gefasst, während unsere Papiere geprüft werden. Zum Glück befinden wir uns in einer Umgebung, in der wir uns auch sonst oft aufhalten. Mein Studio ist um die Ecke, unsere Wohnung nicht weit weg. Wir zeigen alle unsere Dokumente, unsere Telefone. Die Kontrolleure schauen sich noch ein paar Chats an, dann sind sie zufrieden. Agata erzählt ihnen von ihrer Familie in Russland, die immer noch nicht glauben oder verstehen will, was wirklich los ist. Sie lassen uns weiterziehen.

Als wir später nach Hause kommen, geht die Sonne gerade über dem Fluss Dnipro unter. Normaler­weise würde ich das total kitschig finden und sicher nicht fotografieren. Jetzt aber fühle ich mich etwas sentimental, mache ein Foto und poste es gleich auf Instagram. Es kommen viele emotionale Reaktionen, vor allem von Menschen, die Kiew verlassen haben und ihre Heimat vermissen. Ich bin sicher, sie kommen bald zurück.

Zum Fotografen

Lesha Berezovskiy arbeitet als freier Fotograf in Kiew. Er ist 1991 im ostukrainischen Bezirk Luhansk geboren. Als dort 2014 der Krieg ausbricht, zieht er in die Hauptstadt, wo er heute mit seiner Frau Agata lebt.

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