Szenen einer Krise

Wie schlimm hat Corona die Weltwirtschaft wirklich getroffen? Und was bleibt von der «Jahrhundert­krise»? Rückblick auf zwei ausser­gewöhnliche Jahre, Ausblick in eine ungewisse Zukunft.

Von Simon Schmid (Text) und Pieter Van Eenoge (Illustration), 22.02.2022

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Am 24. Februar 2020, einem Montag vor ziemlich genau zwei Jahren, beginnt der Sinkflug. Die Börsen­kurse rasseln nach unten – wegen Corona. «Anleger voller Angst vor Pandemie», titelt am Tag darauf die «Neue Zürcher Zeitung». «Panik an den Börsen» zum Ende der Woche die «Finanz und Wirtschaft».

Es ist einer der heftigsten Börsencrashs, die die Finanzwelt je gesehen hat. Innerhalb eines Monats sinken die Kurse um ein Drittel. Auch die Real­wirtschaft ist betroffen: Produzenten können nicht produzieren, Konsumentinnen nicht konsumieren – Covid-19 verschont niemanden.

Grenzen werden gesperrt, Veranstaltungen abgesagt, Läden geschlossen. Zum ersten Mal seit Generationen erlebt die Welt synchron einen solchen Ausnahme­zustand. Und bald steht die Frage im Raum: Wird sich die Corona-Krise zur «Jahrhundert­krise» auswachsen – zu einem Ereignis, das die Welt­wirtschaft nicht nur hart trifft, sondern sie auch fundamental verändert?

Die Antwort darauf ist bis heute nicht ganz einfach zu geben. Denn seit Beginn der Corona-Pandemie ist dermassen viel passiert, dass man leicht den Überblick darüber verliert, was wirklich wichtig war – und was nicht.

Doch der Blick zurück – die nochmalige Reise durch das Auf und Ab der vergangenen zwei Jahre – hilft, darüber nach­zudenken. Und der Corona-Krise, dieser so sonderbaren Episode, einen einordnenden Sinn zu geben.

Shutdown: Die Wirtschaft wird stillgelegt

Als Regierungen im Frühling 2020 den Shutdown verhängen, steht die Welt einen Moment lang still. Flugzeuge bleiben am Boden, Restaurants machen dicht. Wer keine «system­relevante» Arbeit verrichtet, darf nicht ins Büro.

Je nach Region werden bis zu 20 Prozent weniger Arbeits­stunden geleistet. Das ist ein historisch beispiel­loser Rückgang. Viele Länder sind vom Virus überrumpelt; es fehlt an Schutz­masken, Desinfektions­mittel, Testkits. Und niemand weiss zu jener Zeit, wie lange der Krisen­modus währen wird.

Für risikofreudige Spekulantinnen ist dies die goldene Gelegenheit, an der Börse einzusteigen, wie sich bald heraus­stellen wird. Für alle anderen ist es ein Schock­moment. Die Welt­wirtschaft tanze «auf einem Drahtseil», urteilt die Organisation für wirtschaftliche Zusammen­arbeit und Entwicklung (OECD).

Ihre Prognose ist düster: Um 12 Prozent soll die globale Wirtschafts­leistung kurzfristig einbrechen. Und selbst zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie soll sie immer noch 6,5 Prozent unterhalb ihres wahren Potenzials liegen.

Wie man sich die Krise vorstellte

Globale Wirtschaftsleistung

Prognose vor Pandemie
Prognose Juni 2020
Achse gekürzt201820192020202120228090100110 Ende 2019Mitte 2020Ende 2021

4. Quartal 2019 = 100. Quelle: OECD

Ein solcher Einschnitt wäre drastischer als während der Finanzkrise 2008 und sogar härter als während der Grossen Depression der 1930er-Jahre. Und so nennt auch der Inter­nationale Währungs­fonds (IWF) in seinem Outlook-Bericht vom Sommer 2020 die Corona-Krise «eine Krise wie keine andere».

Kickstart: Die Wirtschafts­politik greift durch

Doch was genau ist eigentlich derart einzigartig an dieser Corona-Krise? Ein Punkt, der auf der Hand liegt: Die Krise hat einen besonderen Auslöser.

Viele Krisen sind nach geplatzten Blasen entstanden – etwa die Finanzkrise als Folge eines waghalsigen Immobilien­booms in den USA; oder auch die Eurokrise, nachdem sich heraus­gestellt hatte, dass Investoren in Ländern wie Griechenland ihr angelegtes Geld verlieren würden. Andere Krisen folgten auf geopolitische Ereignisse: Als die Golf­staaten im Jom-Kippur-Krieg von 1973 den Ölhahn zudrehten, stürzten zahlreiche Länder in die Rezession.

Doch eine weltumspannende Wirtschafts­krise als Folge eines neuartigen Virus: Das hat es in der Menschheits­geschichte wohl noch nie so gegeben.

Und so sind die Gesundheits­behörden vielerorts zunächst überfordert. Masken­pflicht, Testing, Contact-Tracing: Besonders im Westen fällt es schwer, ein adäquates Pandemie­dispositiv zu organisieren.

Anders die Finanz­ministerien und Zentral­banken: Sie haben genügend Erfahrung mit Krisen. Rasch realisieren sie, dass jetzt – ein gutes Jahrzehnt nach der letzten grossen Krise – erneut eine überzeugende Reaktion gefordert ist.

Sinnbildlich dafür steht der 25. März 2020. An diesem Tag halten Ueli Maurer, Thomas Jordan und Mark Branson in Bern eine Presse­konferenz ab. Die Chefs des Schweizer Finanz­departements, der National­bank und der Eidgenössischen Finanzmarkt­aufsicht (Finma) verkünden ein milliarden­schweres Kredit­programm: Firmen können sich bei ihrer Hausbank gratis Geld leihen, um trotz Umsatz­einbussen liquid zu bleiben.

Der Auftritt ist ein Signal: Der Schweizer Staat wird keine Kosten scheuen, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzumildern. Nach und nach werden in der Folge auch die Arbeitslosen­versicherung, die Kurzarbeit und die direkte Unter­stützung betroffener Branchen ausgebaut. Obwohl die Massnahmen bei weitem nicht perfekt sind – so manche Selbst­ständige fällt durch die Maschen –, erfüllen sie doch ihren Zweck: Angestellte behalten ihre Jobs, Unter­nehmen bleiben im Geschäft, die Kaufkraft bleibt erhalten.

Ähnliche Efforts unternehmen zu dieser Zeit praktisch alle Industrie­länder, seien es die USA, Japan oder Frankreich. Und auch Schwellen­länder wie Indien bauen das soziale Sicherheits­netz im Rahmen ihrer Möglichkeiten aus. Sie verabreichen der Konjunktur damit einen substanziellen Booster.

Die Schatullen wurden geöffnet

Staatsdefizite während der Corona-Krise

USA−15 %Grossbritannien−13 %China−11 %Japan−10 %Eurozone−8 %Schweiz−3 %

Abgebildet sind die Jahreswerte für den Zeitraum von 2015 bis 2022. Angaben in Prozent des BIP. Quelle: IWF, IWF (Eurozone)

Auch die Zentral­banken stehen in der Corona-Krise bereit – wie eigentlich immer bei Krisen im vergangenen Viertel­jahrhundert. Viele von ihnen senken die Zinsen und pumpen Geld in die Finanz­märkte sowie ins Banken­system. Das stellt sicher, dass einen Kredit bekommt, wer ihn auch braucht.

Zum Jahresende dreht deshalb die Stimmung. Optimismus herrscht: Hatte der Internationale Währungs­fonds seinen Jahresbericht im Oktober 2020 noch unter die Überschrift eines «langen und schwierigen Aufstiegs» gestellt, so träumt die OECD im Dezember bereits von einer besseren Zukunft: «Turning hope into reality».

High life: Ein Stich in den Arm für die Konjunktur

So ungewöhnlich die Corona-Krise beginnt, so abgeklärt und konventionell begegnet ihr also die Wirtschafts­politik. Sie verschreibt noch mehr von derselben Medizin – geldpolitische und fiskal­politische Stimuli –, wie sie schon in der Finanz­krise zum Einsatz kam. Und sie wiederholt nicht die Fehler, die in der Eurokrise passiert sind – als manche Staaten zu sparen begannen, dabei hätte in dem Moment die Wirtschaft die Unter­stützung am dringendsten gebraucht.

Obwohl über die Nord­halbkugel gegen Ende 2020 die zweite Pandemie­welle fegt – und Regierungen erneut Einschränkungen für Bars und Restaurants, für Fitness und Wellness, für Konzerte und Theater­besuche beschliessen –, kommen die Konjunktur­schätzungen in dieser Phase deshalb entspannter daher.

Den Grund dafür formuliert die Bank für Internationalen Zahlungs­ausgleich rückblickend so: Als Covid-19 ausbrach, war unter Ökonominnen die Angst weitverbreitet, dass die Krise dauerhafte «Narben» im Konsum hinterlassen würde. Weil sie den Job verloren hätten – oder auch aus Furcht davor –, würden Menschen weniger Geld ausgeben, und das wiederum würde der Wirtschaft dauerhaften Schaden zufügen. Doch diese Befürchtung stellt sich als unbegründet heraus. «Das Verlangen nach Normalität war stärker.»

Massgeblichen Anteil daran haben die Impfungen, die in jenen Monaten ausgerollt werden. Nicht «im Kopf», wie der Slogan während der Rezession der 1990er-Jahre in der Schweiz hiess, sondern mit einem Stich in den Arm beginnt in der Corona-Krise also der Aufschwung. Das Vakzin verheisst eine baldige Rückkehr zum gewohnten Leben, fast so, wie es vor Covid-19 war.

«Konjunkturhilfen und Impfungen dürften die Aktivität heben», titelt denn auch der Internationale Währungs­fonds über sein Update vom Januar 2021. Die einschlägigen Indikatoren zeigen nun einhellig nach oben. In der Schweiz klettert etwa das Barometer der Konjunktur­forschungs­stelle KOF im März auf ein Zehnjahreshoch.

Und auch die Börse schüttelt das Corona­virus ab. Im Februar 2021, nur ein Jahr nach dem Crash, stehen die Kurse bereits wieder 15 Prozent über dem alten Spitzen­wert. Aktien, Immobilien, Rohstoffe, Krypto­währungen: Beinahe alles, was auf irgend­einem Markt gehandelt wird, legt an Wert zu.

Der Boom nach dem Crash

Börsenindex MSCI World

Achse gekürzt20192020202120226080100120140 Februar 2020März 2020

Februar 2020 = 100. Quelle: Onvista

In den USA schnürt Präsident Joe Biden ein 1,9-Billionen-Dollar-Hilfspaket, und in Europa nimmt der 750-Milliarden-Euro-Wiederaufbau­fonds Gestalt an, den die Staats- und Regierungs­chefs im Jahr zuvor beschlossen hatten. Für die EU, die in Krisen oft hilflos gewirkt hat, ist dies ein riesiger Erfolg.

So bringt der Frühling 2021 zumindest im Westen eine lockere Atmosphäre mit sich, die auch Schreckens­meldungen aus dem Rest der Welt verkraftet («Indiens massive zweite Welle ist ein Desaster für das Land und die Welt»).

Verwerfung 1: Vom Kauf­rausch zum Engpass

Doch die Zuversicht trübt sich ein weiteres Mal. Den Expertinnen wird klar: Ganz so einfach wird es mit dem Post-Covid-Aufschwung doch nicht.

Denn dieser Aufschwung ist «kein gewöhnlicher Aufschwung» (OECD), sondern ein «divergenter» (IWF), ein auseinander­laufender Aufschwung. Ansatzweise deutet sich das bereits in den ersten Krisen­tagen an, als ein Run auf Toiletten­papier einsetzt. Das simpelste aller Konsum­produkte wird plötzlich zur Mangel­ware, weil Menschen ihr Kauf­verhalten verändern.

Statt nach Ibiza zu reisen und im Pub Bier zu trinken, geben die Leute ihr Geld nun für andere Dinge aus. Hanteln und Home­trainer sind in, Laptops und Bild­schirme, Velos und Gebraucht­wagen. Ganz allgemein schnellen die Verkäufe von Konsum­gütern, speziell von langlebigen Gütern, in die Höhe. Jene von Dienst­leistungen brechen während­dessen ein. In Europa ist diese Ausgaben­verschiebung etwas schwächer, in den USA dafür umso stärker.

Der grosse Shift

Konsumausgaben in den USA, 2020

Langlebige Güter+6,3 % Kurzlebige Güter+2,6 % Dienstleistungen−7,3 %

Veränderung gegenüber dem Vorjahr. Quelle: Deloitte

Auch auf der Gegenseite, bei den Produzentinnen, werden die Auswirkungen der Pandemie zunehmend sichtbar. Es kommt zu Engpässen bei der Lieferung von Mikrochips. Die Autoindustrie muss ihre Produktion drosseln, Schuhe fehlen in den Regalen, Geschirr­spüler werden knapp.

Covid-19 hat die weltumspannenden Liefer­ketten empfindlich gestört, das wird nun offensichtlich. Nicht nur Fertig­produkte, sondern auch Bauteile und Materialien sind davon betroffen: Schrauben, Kunst­stoffe, Glas. Dinge mit dem Schiffs­container um die Welt zu verfrachten, kostet plötzlich ein Vielfaches. In chinesischen Häfen stapeln sich die Container, weil nicht voll gearbeitet werden kann. Es steigen die Preise von Holz, Eisenerz und Kohle. Und auch Nahrungs­mittel werden im Verlauf des Jahres 2021 deutlich teurer.

So dominieren jetzt wieder die Misstöne. Entsprechend übertitelt der Internationale Währungs­fonds seinen Juli-Bericht: «Zunehmende Verwerfungen in der globalen Wirtschaft».

Die Pandemie führt vielen Unternehmen vor Augen, auf welch wackligen Beinen ihre globalisierten, auf möglichst kurze Bestell- und Liefer­fristen getrimmten Produktions­abläufe stehen, die sie in den letzten Jahrzehnten aufgebaut haben. Braucht es also einen Gegentrend zu den Verlagerungen nach Ostasien? Sollen wieder mehr Dinge lokal hergestellt werden – mit möglichst kurzen Transport­wegen dorthin, wo sie auch konsumiert werden?

Solche Fragen beschäftigen Regulatoren, Thinktanks, Consulting­firmen. Auf die «Slowbalisierung» der vergangenen Jahre – eine politisch motivierte Verlangsamung des Welthandels – könnte nach Covid-19 eine Phase der «Deglobalisierung» folgen, mutmassen sie: ein Zeitalter, in dem Regierungen wieder mehr Wert auf heimische Jobs und Versorgungs­sicherheit legen.

Verwerfung 2: Das grosse Kündigen

Auch Arbeitnehmerinnen stellen sich Fragen: Warum soll ich genau diesen Job machen, bei genau diesem Arbeit­geber, zu genau diesen Bedingungen?

Die wiederholten Shutdowns werden für viele zur Offenbarung – im Guten wie im Schlechten. Sie lösen auf dem Arbeits­markt einen Trend aus, den Medien flugs als great resignation bezeichnen: das grosse Kündigen.

Besonders die Dienstleistungs­branchen sind davon betroffen. Angestellte im Gesundheits­wesen oder in der Gastronomie beschliessen, dass sie genug haben vom täglichen Stress, von miesen Löhnen und langen Schichten. Als die Covid-Restriktionen enden, kehren sie nicht mehr zur Arbeit zurück.

Stark ausgeprägt ist dieser Trend – abermals – in den Vereinigten Staaten. Zwei Faktoren begünstigen dort die Kündigungs­welle. Einerseits spielt in den USA die Kurzarbeit kaum eine Rolle: Der Staat garantiert während der Krise keine Lohn­fortzahlungen, so stellen klamme Firmen ihre Angestellten eben auf die Strasse. Zu Spitzen­zeiten ist in Amerika jede achte Erwerbs­person arbeitslos.

Kurzarbeit vs. Cash auf die Hand

Beschäftigung und Einkommen während der Corona-Krise

Eurozone
USA
BeschäftigungAchse gekürzt2019202290110Ende 2019EinkommenAchse gekürzt2019202290110Ende 2019

Einkommen = verfügbares Einkommen. Quelle: OECD

Andererseits baut die US-Regierung die Arbeitslosen­versicherung aus. Und sie schickt der Bevölkerung Checks per Post: Erst 1200 Dollar im April 2020, dann 600 Dollar im Dezember 2020 und nochmals 1400 Dollar im März 2021. Viele Amerikaner erfahren dadurch erstmals so etwas wie sozialen Schutz.

Auch in Europa bekunden Firmen im Lauf der Pandemie zunehmend Mühe, Stellen zu besetzen. Allerdings scheint es sich hier eher um eine akzentuierte Version des bekannten Fachkräfte­mangels zu handeln: Es sind tendenziell Hoch­qualifizierte, die bei der Jobwahl wählerischer werden. Ähnlich ist es in China (aber anders in Südamerika, wo weitaus mehr Leute im informellen Sektor arbeiten und der Wirtschafts­krise schutzlos ausgeliefert sind).

Das grosse Kündigen, das bald zur «grossen Wechslerei» umgetauft wird, hat seine guten Seiten. Die Menschen kehren der Arbeits­welt nicht den Rücken, sondern suchen nach dem Shutdown nach anderen – besseren – Jobs. Doch makro­ökonomisch kommt der Aufruhr auf dem Arbeits­markt zur Unzeit.

O mein Gott: Die Inflation kommt!

Bemerkbar macht sich dies in einer wirtschaftlichen Mess­grösse, die jeder versteht – oder von der zumindest jeder glaubt, sie zu verstehen: die Inflation.

Nachdem sie zwölf Monate lang auf Eis lag, meldet sie sich im Herbst 2021 furios zurück: mit Raten von bis zu 5 Prozent in der Eurozone und von bis zu 7 Prozent in den USA (in der Schweiz sind es allerdings nur 1,5 Prozent). Als stabil gilt die Inflation, wenn sie im Bereich von maximal 2 Prozent liegt.

Die Preise steigen

Inflation der Konsumentenpreise

USA201020200 %Dez. 20217,0 % Eurozone201020200 %Dez. 20215,0 % Schweiz201020200 %Dez. 20211,5 %

Veränderung der Preise gegenüber dem Vorjahres­monat. Quelle: OECD

Dass die Teuerung während Krisen wild ausschlägt, ist an und für sich nichts Ausser­gewöhnliches. Während der Finanzkrise war es genau umgekehrt gegenüber heute: Unmittelbar nach Krisen­ausbruch stiegen die Preise. Später kam es zur Gegen­bewegung nach unten, mit zeitweise sehr tiefen Inflations­raten.

Aus den Daten lässt sich auch ablesen, dass alles im Grunde halb so wild ist. Sonder­effekte wie die gestiegenen Energie­kosten verzerren die aktuellen Werte: Rechnet man den Anstieg der volatilen Strom-, Öl- und Gaspreise heraus, so beträgt die Teuerung im Euroraum nur noch rund 2 Prozent. Sie liegt damit genau dort, wo Zentral­banken sie eigentlich haben wollen. In den USA haben derweil der Güter-Kaufrausch, die Liefer­engpässe und das «grosse Kündigen» die Inflation temporär angeheizt. Dass diese Effekte weit übers Ende der Pandemie hinaus anhalten, ist praktisch ausgeschlossen.

Nichtsdestotrotz treibt die Inflation nun den Wirtschafts­journalisten, aber zunehmend auch den Zentral­bankerinnen den Angst­schweiss ins Gesicht. Zwar haben Letztere noch bis vor kurzem zu verstehen gegeben, dass sie Teuerungs­raten über der Zielmarke eine Weile lang tolerieren würden – oder dass sie eine höhere Teuerung sogar explizit anstreben würden, weil diese zuvor während mehrerer Jahre ausser­gewöhnlich tief ausgefallen war.

Doch davon ist jetzt keine Rede mehr. Und so deutet nach dem Präsidenten der amerikanischen Notenbank, Jerome Powell, bald auch die Chefin der Europäischen Zentral­bank, Christine Lagarde, an: Mit den geld­politischen Nothilfen ist es künftig vorbei. Schon 2022 könnten die Zinsen steigen.

Die Corona-Krise wird damit abermals zum «Balanceakt», wie die OECD in ihrem Outlook vom Dezember 2021 schreibt. Kann es die Weltwirtschaft überhaupt verkraften, wenn ihr die Stimuli bereits jetzt entzogen werden?

High Noon: Die Wirtschaft am Wende­punkt

Zum Ende des zweiten Corona-Jahres überwiegen deshalb wieder die Sorgen. Regierungen und Zentral­banken könnten es mit ihrem Aktivismus übertrieben haben – und die Gesellschaft könnte bald den Preis dafür zahlen, in Form einer anhaltenden Stagnation oder, noch schlimmer, einer Stagnation mit zusätzlicher Inflation: einer sogenannten Stagflation.

Die Corona-Krise würde damit zum Bruch. Eine Politik, die ein gutes Viertel­jahrhundert lang die Party am Laufen hielt, aber eigentlich nicht nachhaltig ist, wäre nun am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt: Probleme mit gedrucktem oder geborgtem Geld zu bekämpfen statt mit Reformen.

Dass hier ein Funken Wahrheit drinsteckt, ist kaum zu bestreiten. Während der Pandemie ist der Schulden­berg weiter gewachsen: 226 Billionen Dollar haben Staaten, Firmen und Haushalte inzwischen gegenseitig ausstehend. Das ist Rekord und entspricht 256 Prozent der globalen Wirtschafts­leistung.

Blendet man private Kredite aus und misst man nur die Staats­schulden, so kommt manches Industrie­land auf über 100 Prozent des Brutto­inland­produkts. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Situation sofort kritisch wird. Aber so viel ist klar: Hohe Schulden mindern die Fähigkeit eines Staates, in die Zukunft zu investieren. Und sie erschweren es, künftige Krisen abzufedern.

Zunehmendes Handicap

Staatsschulden

2019
Veränderung bis 2023
JapanItalienUSAFrankreichGrossbritannienChinaDeutschlandSchweiz0 100 200 300 %

In Prozent des BIP. Quelle: IWF

Im Januar 2022 wird das nächste Wirtschafts­update fällig. «Steigende Fallzahlen, ein gestörter Aufschwung und höhere Inflation» heisst es, und der IWF spricht darin primär über «abwärts­gerichtete» Risiken. Zwar sind die Autoren zuversichtlich, dass die Krise mit der Zeit abklingt und sich alles bald wieder einpendelt. Aber so richtig erwartungs­froh klingt ihr Bericht nicht – auch weil eine neue Virus­variante aufgetaucht ist: Omikron.

Die Variante ist äusserst ansteckend: Von Japan über Frankreich bis Mexiko verzeichnen sehr viele Länder neue Ansteckungs­rekorde. Doch Omikron scheint mildere Verläufe zu verursachen. Beide Eigenschaften zusammen kommen gelegen: Während die Fallzahlen steigen, landen weniger Patienten im Spital – das ermöglicht es Regierungen, Öffnungen ins Auge zu fassen.

Manchen Ländern, darunter die Schweiz, kann es gar nicht schnell genug gehen. Alle Massnahmen sollen fallen, «Turbo-Öffnungen» stehen auf dem Programm. Das Wetter ist warm, die Laune ist gut, und während Athleten in einer hermetisch abgeriegelten Blase im fernen Peking die Olympischen Spiele abhalten, normalisiert sich der Alltag an vielen anderen Orten zusehends (zumindest für jene Personen, die nicht an Long Covid leiden).

The End: Und jetzt?

So abrupt sie kam, so unvermittelt scheint die Corona-Krise zu enden.

Diesen surrealen Moment einzufangen, ist schwierig genug. Noch schwieriger ist es, ein finales Fazit zu ziehen. Ist die Wirtschaft auch bald «genesen»? Oder wird sie ihre eigene Version von «finanziellem Long Covid» durchmachen?

Die verfügbaren Daten zeigen, dass die Rezession weniger heftig ausgefallen ist, als man ursprünglich dachte. Statt um 6,5 Prozent hinkt die Wirtschaft ihrem Potenzial heute nur um knapp 3 Prozent hinterher. Es gab keinen Finanz­kollaps, und die Krisen­politik hat alles in allem gut funktioniert.

Alles halb so schlimm

Globale Wirtschaftsleistung

Prognose Juni 2020
Tatsächlicher Verlauf
Achse gekürzt20182019202020218090100110 Ende 2019Ende 2021

Quelle: OECD

Offenkundig sind aber auch die Diskrepanzen. Schwellen­länder hat die Krise härter getroffen. Ihr Gesundheits­wesen, ihr Sozial­staat und auch ihre Betriebe waren schlechter für das Virus gerüstet, als dies etwa in der reichen Schweiz der Fall war, wo Laptops fürs Homeoffice schnell angeschafft waren. Wegen des starken Rückgangs beim Tourismus steht Sri Lanka vor der Zahlungs­unfähigkeit.

Zudem stehen Aufräum­arbeiten an. So manche Firma wird ihren Covid-Kredit nicht zurück­zahlen können – und nach der Krise in Konkurs gehen. Betroffen davon sind vor allem kleine und mittelgrosse Unter­nehmen. Und obwohl die Arbeits­losigkeit gesunken ist, hat sich die Beschäftigung noch nicht erholt. Es wird dauern, bis alle einen Job haben, die einen Job wollen.

Krisen waren oft auch Zäsuren. Mit dem Ölschock von 1973 endeten die «Zeiten des unbedenklichen Optimismus» der Nachkriegs­zeit: Erstmals gab es in Industrie­ländern so etwas wie eine Sockel­arbeitslosigkeit, die auch in der Hoch­konjunktur nie ganz verschwand. Und den Menschen wurde bewusst, dass Energie etwas ist, mit dem man sparsam umgehen muss.

Die Finanzkrise besiegelte die Ära der trickle-down economics. Die Idee, dass Reichtum in einer deregulierten Wirtschaft von selbst zu den Armen hinunter­sickert, wird seither nur noch belächelt. Regierungen haben gelernt, dass sie Banken regulieren müssen – und dass die Gewinne der Wall Street nicht gleich­bedeutend sind mit dem Wohlstand der restlichen «99 Prozent».

Auch die Corona-Krise hält einige Learnings bereit:

  • Resilienz ist wichtig, Effizienz ist nicht alles: Billigere Güter sind nicht zwingend die besseren Güter, wenn sie in der Krise nicht verfügbar sind.

  • Gesundheitspolitik ist auch Wirtschafts­politik: Man muss Ausgaben für die Gesundheit nicht nur als Kosten, sondern als Investitionen begreifen.

  • Sozialpolitik ist auch Wirtschafts­politik: Wären die Menschen in der Krise sich selbst überlassen worden, wäre die Wirtschaft total eingebrochen.

  • Entschleunigung ist okay: Man muss nicht jedes Jahr in die Ferien fliegen. Abende mit den Nachbarn, Spazier­gänge im Quartier sind auch ganz nett.

  • Freiheit ist nicht absolut: Manchmal braucht es die Unter­ordnung unter das Kollektiv, um das Wohl der Individuen zu maximieren.

Ob die Corona-Krise tatsächlich einen Mentalitäts­wandel hervorbringt, ist offen. Oft dauert es eine Weile, bis sich nach Krisen heraus­kristallisiert, wo ein Kurswechsel stattfindet und wo nicht. Die Sehnsucht, es möge einfach alles wieder so werden wie früher, ist im Augenblick noch sehr mächtig.

Doch auch das ist eine Eigenheit dieser Pandemie: Man kann hoffen und bangen, antizipieren und relativieren – am Ende passiert meistens doch etwas Überraschendes. Etwas, mit dem die wenigsten wirklich gerechnet haben.

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