Fahrstuhl­effekt, Fahrstuhl­defekt

Zu den gewichtigen Büchern dieses Frühjahrs gehört ein schmales Debüt: Natasha Brown hat einen spektakulären Roman über sozialen Aufstieg und die «feinen Unterschiede» geschrieben.

Von Daniel Graf, 09.02.2022

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Virtuose Beobachterin: Natasha Brown, Romanautorin mit Vergangenheit in der Finanzbranche. Hill & Aubrey/Suhrkamp

Ihr Kollege Lou hat sich nie «in all das hinein­ziehen lassen». Aber sie. Seit sie als schwarzes Arbeiter­kind diese steile Karriere im Finanz­sektor hingelegt hat, sitzt sie nicht mehr nur in den höheren Etagen ihrer Bank, sondern auch in Frauen­panels, vor Schul­klassen und Studentinnen und hält diese «Alles ist möglich»-Vorträge. Sie sind «Teil des Jobs», seit die Bank die identitäts­politische Image­pflege für sich entdeckt hat. «Die Diversität muss sichtbar sein.» Und die Diversität, das ist vor allem sie.

Die namenlose Erzählerin von Natasha Browns Debüt­roman «Zusammenkunft» hat es geschafft, dem rigiden englischen Klassen­system zum Trotz. Nach oben kommen, gegen alle Widerstände, das war immer der Antrieb. Und wenn ein schillernder Job Title «in einem Top-100-Börsen­unternehmen» oben bedeutet, dann ist sie tatsächlich angekommen. Du gehörst zu dem einen Prozent, sagt ihr Upperclass-Freund, sie habe sogar mehr Geld als er. (Das Familien­vermögen, das er einmal erben wird, lässt er bei dieser Rechnung weg.)

Wenn sie aber mit ihrer Mutter telefoniert, empfindet sie nur tiefe Scham ob der «absurden Luxusästhetik meiner privaten Kranken­versicherung». Statt des Stolzes, die generationen­alten Aufstiegs­träume ihrer Familie als Erste verwirklicht zu haben, ist da bloss «schuldige Benommenheit». «Ich habe alles», sagt sie an einer Stelle, und es ist ein Satz von verzweifelter Traurigkeit.

Scham und Schuldgefühle rühren nicht nur von dem Verdacht her, das eigene Leben «für ein Scheibchen Mittelklasse­komfort» eingetauscht zu haben. Sie kommen auch aus der bösen Ahnung, selbst zur Komplizin der meritokratischen Mär von gleichen Chancen und leistungs­gerechten Hierarchien geworden zu sein:

Wie viele Frauen und Mädchen habe ich angelogen? Wie viele haben mein grinsendes Gesicht werben sehen – für dieses oder jenes Unternehmen oder diese Branche, jene Uni, dieses Leben?

Natasha Brown: «Zusammenkunft».

Denn was sie weglässt, wenn sie auf Rekrutierungs­messen ihre Vorträge hält, ist nicht allein, wie unwahrscheinlich ihr Fall ist – in einer nach wie vor existierenden Klassen­gesellschaft, in der die soziale Mobilität beschränkt und Bildung, ebenso wie beruflicher Erfolg, noch immer eng ans Elternhaus gekoppelt sind. Was in der Vortrags­version ihrer Geschichte ausserdem fehlt, ist der Preis, den ihr Aufstieg neben harter Arbeit und eiserner Disziplin sonst noch gekostet hat: die Anpassung, das Erdulden. Das Hinweg­sehen über alltags­rassistische Demütigungen, das Schweigen angesichts sexuell übergriffiger Vorgesetzter. Die Losung hiess: Sich durch Leistung hervortun – aber bloss nicht auffallen.

Und nun? Ist ihr «schlecht vom Erreichen, vom Durch­halten. Vom Aufstieg.»

In guter Gesellschaft

Wenn Natasha Brown, die selbst jahrelang im Londoner Finanzwesen tätig war, mit ihrem ersten Roman von der Wirkmacht sozialer Klassen­grenzen erzählt, ist sie damit tatsächlich in guter Gesellschaft.

Angeführt von Autorinnen wie Annie Ernaux hat die Klassenfrage in der Literatur der letzten Jahre unverkennbar neue Präsenz und Dringlichkeit erlangt. Browns Roman, einen Text von gerade mal gut 100 Seiten, darf man in dieser Reihe ab sofort zu den gewichtigen Büchern zählen. Und zwar auch deshalb, weil der Stil der Autorin ein unverkennbar eigener ist (was ihre Übersetzerin Jackie Thomae insgesamt überzeugend ins Deutsche holt).

Mit dem Authentizitäts­gestus autofiktionaler Texte à la Ernaux geht Brown deutlich zurückhaltender um, zugleich ist sie experimentier­freudiger in der Form. Erzählt wird in einer Abfolge aus kleinen Prosavignetten, die gelegentlich an die US-amerikanische Schriftstellerin Claudia Rankine denken lässt, insgesamt aber viel plotgetriebener ist – ein Pastiche aus temporeich montierten Moment­aufnahmen.

Von Anfang an sind die Fragen von sozialer Herkunft und gesellschaftlichem Aufstieg in diesem Roman aufs Engste mit anderen identitäts­politischen Kategorien verknüpft. Niemals käme die Autorin auf die Idee, die Klassen­frage gegen Fragen von Ethnizität und Gender auszuspielen, so wie Teile der Linken es tun. Ihr Schreiben speist sich vielmehr aus der Überzeugung, dass all diese Aspekte beim Thema soziale Mobilität und Zugehörigkeit zusammen­gehören, weil die Ausschluss­mechanismen der «feinen Unterschiede» vielfältige (und miteinander verbundene) Formen annehmen können. Wer mag, kann das «Intersektionalität» nennen. Die Qualität von Browns Roman besteht jedoch genau darin, die Theorie hinter sich zu lassen und uns konkrete Szenen und Charaktere vor Augen zu stellen.

Wichtigster Treiber der Handlung ist, ganz klassisch, eine Liebes­geschichte.

Darin liegt ein wichtiger Unterschied zu den Romanen, mit denen Autorinnen wie Annie Ernaux, Deniz Ohde, Christian Baron oder Edouard Louis von sozialer Herkunft erzählen. All diese Bücher sind auch Familien­romane, weil sie von der eigenen Familie, also von familiärer Herkunft erzählen. Bei Brown hingegen richtet die Erzählerin den Blick vor allem auf die Upperclass-Familie des Freundes – ihre potenzielle familiäre Zukunft. So durchmisst sie den gewaltigen Abstand der Lebens­welten zwischen ihr und ihrem Freund: grundlegende Prägungen, die wirkmächtig bis in die Gegenwart hineinragen.

Ihr Freund, das ist: die verkörperte «Hugh-Grant-Charmeoffensive», Sohne­mann aus bestem Hause, Ivy League aus Familien­tradition, altes Geld und – auf den ersten Blick – ein unerschütterliches Grund­vertrauen.

Er: scheinbar schon immer ganz bei sich selbst.

Sie: gerade dabei, sich ganz neu zu erfinden.

Das Geld, selbst der relativ bescheidene Betrag, den ich angehäuft hatte, hatte mich verändert. Mein Stil, mein Auftreten, mein leicht affektierter City-Akzent, all das hat ihn angezogen. Er konnte die Person sehen, die ich da erschuf.

Als sie das Ergebnis einer Biopsie erhält, verschweigt sie ihrem Freund die schlechte Nachricht lieber: «Falscher Alarm». Und er, «an Happy Ends und schmerzfreie Lösungen gewöhnt», ist leicht zu überzeugen.

«Vielleicht ist es Zeit, diese Geschichte zu beenden»: Dieser Satz, gemünzt auf die Erfolgsstory aus ihren Vortrags­touren, schwebt von Anfang an auch über dieser Beziehung. Sein Elternhaus, das die neue Freundin des Sohnes toleriert, «wie sich das für gute, liberale Eltern gehörte», geht ohnehin davon aus, dass es sich bei der Sache «um eine Phase» handelt.

Herkunft, Zu(sammen)kunft

Während die erotische Leidenschaft eher auf Sparflamme lodert, bezieht der Text seine Energie aus der psychologischen Dynamik.

Es ist der durchdringende, analytische Blick der Erzählerin, der die Kräfte­verhältnisse innerhalb der Beziehung von Beginn an der sozialen Hierarchie entgegenstellt – und in durchaus unerbittlicher Weise das Standing des Freundes sabotiert.

Am Wochenende (…) hatte er mit seinem Kopf gegen meine Brust gepresst geschlafen, zusammen­gerollt wie ein Fötus. Am Montag­morgen schlang er seine Arme so fest um mich, dass ich länger liegen blieb und ihm über die Haare strich. Bis ich zur Arbeit musste.

Ein vermeintlich harmloses Bild – und doch kommen diese Sätze einer Degradierung vom Mann zum Kind gleich.

Als der Freund einmal, auf der Bettkante sitzend, ein Antidepressivum einwirft, schaut er, nachdem er das Wasserglas geleert hat, «erwartungsvoll» zu ihr herüber,

als hätte er gerade brav seinen Teller Brokkoli aufgegessen. Ich stand auf der anderen Seite des Zimmers und steckte mir die Haare hoch.

Wären das bloss Sprech­akte einer Abrechnung – sie wären immerhin noch brillant genug formuliert. Aber die Kunst von Natasha Brown besteht darin, all diesen Sätzen eine doppelte Stoss­richtung zu geben: Sie sind zugleich als Selbst­anklage lesbar. Aus der mühsam gedeckelten Aggression gegenüber dem Freund spricht immer auch die peinvolle Einsicht der Erzählerin, dass sie selbst es war, die dieses Leben gewählt hat. «Zog ich das hier dem Allein­schlafen vor?»

Nebenbei gesagt: Browns virtuose Beobachtungs­gabe (und der durchaus streitlustige Witz ihrer Erzählerin) kommt selbst in der Skizzierung des Hintergrund­geschehens zum Tragen. In der onkologischen Privat­praxis zum Beispiel:

Eigentlich ging ich ganz gern dorthin. Die Sprechstunden­hilfen – jung, hübsch, austauschbar – waren immer höflich. Und begrüssten mich, als wären wir im Spa.

Ist es nicht genau das, was Literatur ausmacht? Dass da Formulierungen sind, die derart ins Schwarze treffen, dass man sich wundert, warum sie einem nicht schon viel früher begegnet sind?

Geschichten beenden

In solch scharf geschliffenen Sätzen erfasst die Erzählerin auch die Ambivalenzen ihrer Aufstiegs­geschichte: dass der Wert ihrer Worte ganz an die Institutionen gekoppelt ist, für die sie spricht. Wie präsent die Angst ist, dort wieder aus der Gnade zu fallen, jeder Tag «eine Möglichkeit, es zu versauen». Wie das Gefühl der Heimat­losigkeit sich breitmacht, weil der sprichwörtliche Fahrstuhl nach oben irgendwo im Zwischen­deck stecken bleibt, entfremdet vom alten Milieu und nicht ausreichend zugelassen im neuen. Und wie schnell es geht von der Benachteiligung zur Unter­stellung eines Vorteils: «Es ist so viel einfacher für euch Schwarze und Hispanics.»

Das zunehmende Hadern der Heldin mit ihrer Aufstiegs­geschichte macht Brown ohne falsche Verallgemeinerungen fassbar. Als Kontrast­figuren gesellt sie der Erzählerin zwei Kolleginnen hinzu, die ihr neues Leben scheinbar reuelos geniessen: Rach, die «Lean-In-Feministin» mit dem Karriere­motto «Scheiss auf den Sexismus – mach ihn dir zunutze!». Und ihr Kollege Lou, der einst in einer Baracke aufwuchs und sich nun, ganz ohne inneren Konflikt, am Ziel wähnt, wenn die Jungs in der Bank ihn mit auf einen Drink nehmen.

Doch genau diese Zurück­haltung gegenüber fälschlich behaupteten Zwangs­läufigkeiten steht gegen Ende des Buches auf dem Spiel, wenn der Roman an seinen heikelsten Punkt kommt.

Die Geschichte der Erzählerin kulminiert in einer Gartenparty im Familien­anwesen ihres Freundes. Hier also, wo seit Jahrhunderten die Ahnen­galerie prangt, der Stammbaum der Familie als «kuratierte Geschichte» zu besichtigen ist und die Hausführung des Freundes lauter vielfach eingeübte Sätze enthält, hier soll nun auch sie ins Familien­porträt integriert werden. Wobei ihr Lover auch seine Ex zur Party eingeladen hat: eine alte Freundin des Hauses und seit kurzem im Besitz eines Welpen, der ihr über geplatzte Träume hinweghilft.

Als die Situation fast unmerklich, aber zielsicher eskaliert, getriggert von unbedachten Worten der Mutter und verbalen Herab­setzungen eines Arbeiters, ändert sich auch der Ton des Romans.

Die Erzählerin macht sich los und begibt sich, noch ehe die Gäste eintreffen, allein auf einen Spaziergang. Den Folianten in der Bibliothek ihres potenziellen Schwieger­vaters hält sie dabei gedanklich ihren eigenen Kanon entgegen: bell hooks, die Literatur des Antirassismus. Und plötzlich wird aus der Erzählung eine Abhandlung, ein Thesentext.

Eine Bilanz der britischen Kolonial­geschichte, sprach­philosophische Betrachtungen, Analysen von Lyndon B. Johnson: Alles, die ganze Geschichte, türmt sich plötzlich auf zu einem gewaltigen Einspruch gegen ihre Beziehung.

Aber ist das nun die Botschaft? Dass ihre Beziehung zum Scheitern verurteilt ist, weil es zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft keine gemeinsame Zukunft geben kann? Dass die Klassen­grenzen ebenso wie ethnische Unterschiede unüberwindbar seien? Dass es am Ende zwischen Weissen und Schwarzen nichts gibt als «Entmenschlichung», «Mittäterschaft» und Überlebens­kampf? Dass dieses «Überleben (…) mich zur Mitwirkenden ihres Narrativs» macht? Und dass deshalb «dieses Leben» im Ganzen abzulehnen, also die «gnädige Rückkehr zu Staub» vorzuziehen sei? Verliert sich letztlich alles Spezifische und Individuelle in den Gross­kategorien von Gesellschaft und Geschichte? Oder literarischer gefragt: Ist das Erzählen jetzt am Ende und weicht dröger Message-Prosa? Noch dazu mit einer resignativen, antiuniversalistischen Drift?

Diese Lesart würde die entscheidende Pointe verpassen.

Was die Erzählerin auf der Flucht vor der Gartenparty­gesellschaft entwirft, ist die spontane, von Demütigungen provozierte Gegen­erzählung zur lieblichen Aufstiegs­geschichte ihres Messe-Vortrags-Skripts. Und sie erkennt, dass sie beide Verallgemeinerungs­narrative zurückweisen muss: die meritokratische Lüge ebenso wie die deterministische Erzählung einer ausschliesslich partikularen Identitäts­politik.

«Ich bin ziemlich weit gegangen, merke ich», lautet dann auch der Schlüsselsatz der Spaziergängerin, den man unbedingt mehrdeutig lesen muss. Als kurz darauf von einem Riss die Rede ist, reisst auch der Text für einen Moment ab. Zwei Gedanken­striche, getrennt durch einen Seitenumbruch, markieren die Zäsur – und für die Heldin den Beginn einer zweifachen Korrektur.

Die Role-Model-Erzählung mit ihrem «Ihr werdet es schaffen»-Pathos täuscht darüber hinweg, dass nicht jede und jeder über so aussergewöhnliche Fähigkeiten verfügt, um es trotz eminenter Start­nachteile nach oben zu schaffen. Und dass nicht alle das Glück haben, das trotz grosser Fähigkeiten für den Aufstieg in einer Gesellschaft der «feinen Unterschiede» nötig ist.

Die Falle der anti­universalistischen Erzählung hingegen besteht darin, dass sie zwar momenthaft ein Ventil für berechtigte Wut und verletztes Gerechtigkeits­empfinden bietet, dafür aber einen hohen Preis verlangt: Sie bedeutet nichts weniger, als sich entweder im feindschaftlichen Gegen­einander oder fatalistisch in der Unabänderlichkeit der Verhältnisse einzurichten.

Was ist die Alternative?

«Mein Leben. Meine Entscheidung»: Dieser Satz aus einer Szene in der Arztpraxis erfährt im zweiten Teil der Spaziergangs-Szene ein Echo. Es ist der Satz, mit dem sich die Erzählerin das Ich und damit ihre Geschichte zurückholt. Sie erkennt klar und ohne Schönfärberei die Bürde, die eine lange Geschichte der Ungerechtigkeiten auch den heute Lebenden in sehr ungleicher Verteilung auferlegt. Aber sie befreit ihr Selbstbild davon, ganz im Repräsentativen aufzugehen. «Transzendieren», das war die ganze Zeit ihr Sehnsuchts­wort gewesen. Nun vollzieht sie es durch einen gedanklichen Sprung, heraus aus den begrenzenden Narrativen.

Die Schlussszene, in der der Freund noch einmal einen theatralischen Auftritt bekommt, wird damit zu einer Feier der eigenen Entscheidungs­macht. Der Roman vollzieht eine Rückkehr ins Erzählen. So radikal, dass nichts mehr erklärt, keine Deutung vorgekaut, nichts vereindeutigt wird.

An der Zeit, diese Geschichte zu beenden, ist es erst nach einem fulminanten Finish.

Zum Buch

Natasha Brown: «Zusammenkunft». Roman. Aus dem Englischen von Jackie Thomae. Berlin, Suhrkamp 2022. 113 Seiten, ca. 30 Franken.

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