«Die Ankläger spielten mit den Emotionen»

Der Anwalt und Podcaster Duri Bonin ist einer der schärfsten Beobachter des Strafverfahrens gegen Pierin Vincenz und sechs Mitbeschuldigte. Im Interview erklärt er, warum es dem Prozess an Transparenz mangelt, weshalb Akteneinsicht für Journalistinnen essenziell wäre – und er verrät, ob er in diesem Verfahren lieber verteidigen oder anklagen würde.

Ein Interview von Philipp Albrecht und Brigitte Hürlimann, 09.02.2022

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Pierin Vincenz hat die Raiffeisen von einer einfachen Bauern­bank zur Nummer 3 der Branche im Land aufgebaut. Das ist weitgehend unbestritten. Aber hat er sie auch um Millionen geprellt? Diese Frage steht im Zentrum des grössten Schweizer Wirtschafts­prozesses seit Jahren. Die auf Wirtschafts­kriminalität spezialisierte 9. Abteilung des Bezirks­gerichts Zürich tagt derzeit im Zürcher Volkshaus, unter dem Vorsitz von Sebastian Aeppli.

Begleitet wird der Strafprozess nicht nur von zahlreichen Journalistinnen, sondern auch von juristisch versierten Beobachtern. Darunter der 46-jährige Strafrechtler Duri Bonin, der auf der Empore im Zürcher Volkshaus oder vor den Livetickern der Newsportale sitzt und das Geschehen mit seinem Anwalts­kollegen Gregor Münch im Podcast «Auf dem Weg als Anwält:in» verarbeitet. Ohne Akten­einsicht, wie Bonin und Münch in ihren Gesprächen immer wieder betonen – und bedauern.

Die zahlreichen Vorwürfe der Staats­anwaltschaft an die Haupt­beschuldigten beschäftigen Bonin und Münch nur am Rande. In den bislang über drei Dutzend Podcast­­folgen zum Prozess analysieren sie den Ablauf des Straf­prozesses insgesamt; die Plädoyers, die Aussagen, die gerichtlichen Anordnungen, die Stimmung im Saal.

Ich will es genauer wissen: Darum gehts im Raiffeisen-Prozess

Der frühere Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz und sein ehemaliger Geschäfts­partner, Berater und Weggefährte Beat Stocker sollen sich heimlich an vier Firmen beteiligt und diese später als Chefs von Raiffeisen und deren Tochter­firma Aduno übernommen haben. Die Gewinne aus dem Verkauf sollen sie in ihre eigenen Taschen gesteckt haben. Die Staats­anwaltschaft sagt: Diese Gewinne gehören Aduno (heute Viseca) und der Raiffeisen. Nach fast dreijähriger Untersuchung und je 106 Tagen in Untersuchungs­haft für Vincenz und Stocker hat die Anklägerin im Jahr 2020 die beiden Haupt­beschuldigten wegen gewerbs­mässigen Betrugs, Urkunden­fälschung und unlauteren Wettbewerbs angeklagt. Vor Gericht stehen ausserdem fünf weitere Beteiligte. Wegen mutmasslich unberechtigter Spesen­bezüge für Nachtclub­besuche und privater Reisen sind Vincenz und Stocker zudem auch noch wegen Veruntreuung angeklagt. Insgesamt verlangt die Staatsanwaltschaft 6 Jahre Freiheits­strafe und Rückzahlungen in Höhe von 16 Millionen (Stocker) und 9 Millionen Franken (Vincenz). Der Prozess dauert bis Ende März, das Datum der Urteils­eröffnung steht noch aus. Da die Entscheide an zwei Instanzen weiter­gezogen werden können, dürfte es noch Jahre dauern, bis rechtskräftige Urteile vorliegen.

Herr Bonin, der Prozess begann Ende Januar mit einem Eklat: Sie wurden gleich zu Beginn aus dem Gerichts­saal geworfen …
Genau, ich wurde polizeilich hinaus­begleitet! Und zwar in der ersten Minute am ersten Prozesstag.

Was haben Sie angestellt?
Ich hatte noch vor Prozess­beginn draussen vor dem Volkshaus einen Podcast aufgenommen. Dann setzte ich mich in die Zuschauer­reihen auf der Empore, um die Aufnahmen auf dem Laptop zu schneiden. Dazu trug ich meine Kopfhörer. Die Sicherheits­leute dachten vermutlich, ich würde die Verhandlung aufzeichnen.

Was verboten ist. Ausser fürs Gericht.
Wer den Prozess heimlich aufnehmen will, sitzt ja kaum mit dem Laptop auf den Knien in der ersten Zuschauer­reihe. Aber offenbar ist es eine Anweisung des Gerichts­vorsitzenden, dass Laptops auf der Empore generell verboten sind. Nur die Journalisten unten im Saal dürfen damit arbeiten. Dass das Gericht dieses Verbot für nötig befindet, erstaunt mich umso mehr, als an andere, wichtigere Massnahmen nicht gedacht wurde.

Welche denn zum Beispiel?
Dass die Beschuldigten nach einer Pause vor verschlossenen Türen mit einer Medien­traube auf dem Trottoir warten mussten. Die richterliche Beratung über die Vorfragen dauerte länger als geplant. Das war für die Betroffenen sichtlich unangenehm und wird das Bild des Prozesses prägen. Hier geht es um die Fürsorge­pflicht des Gerichts den Parteien gegenüber.

Sie haben innerhalb von 10 Tagen 37 Podcast­folgen über den Raiffeisen-Strafprozess publiziert. Sind Sie besessen von diesem Verfahren?
Gregor Münch und ich machen diesen Podcast, um aufzuzeigen, wie ein Strafprozess funktioniert. Das finden Sie in keinem Schulbuch und in keinem Medien­bericht. Was ist eine gute Anklage? Was ein gutes Plädoyer? Wie arbeitet die Verteidigung? Was sind die Vor- und Nachteile, wenn Beschuldigte vor Gericht Aussagen machen? Das ist der tiefere Sinn dieses Podcasts, den ich seit gut vier Jahren produziere. Deshalb nein: Ich bin nicht besessen vom Raiffeisen-Prozess. Rein juristisch betrachtet ist er auch nicht besonders spannend. Aber er bietet sich an, um alle Aspekte und Facetten des Straf­prozesses aufzuzeigen.

Die Öffentlichkeit scheint den Prozess auf jeden Fall spannend zu finden, die Aufmerksamkeit ist gross. Gilt das auch für Ihren Podcast?
Wir haben enorm viele Reaktionen. Ich glaube, sogar die Prozess­parteien hören ihn. Die Einschalt­quoten haben sich im Januar verfünffacht. Wenn der «Tages-Anzeiger» schreibt, die Verhandlung sei langweiliger denn je, finden Gregor Münch und ich: Wahnsinn, ist das spannend!

Wären Sie lieber Ankläger oder Verteidiger an diesem Prozess?
Ganz klar Verteidiger. Aber nicht, weil ich fürs Verbrechen bin. Ich bin für den funktionierenden Rechts­staat. Dazu braucht es die Verteidiger als Gegen­gewicht zur mächtigen Staats­anwaltschaft. Sonst überrollt uns der Staat. Am Strafprozess geht es um Fairness, Wahrheit und Gerechtigkeit. Das ist das Ziel.

Wird der Raiffeisen-Prozess diesem Ziel gerecht?
Das Problem ist, dass ich die Akten nicht kenne. Und an den Zürcher Gerichten werden oftmals keine Beweise mehr abgenommen, wie nun auch im Vincenz-Prozess. Das Gericht stützt sich auf das, was die Staats­anwaltschaft vorlegt, auf die Untersuchungs­akten. Auf dieser Basis machen sich die Richter ein Bild und meinen, das sei die Wirklichkeit. Und so steigt man in den Prozess. Wir als Öffentlichkeit wissen nicht, was in den Akten steht.

Können Sie das genauer erklären?
Wir hören die Staatsanwaltschaft – es überzeugt uns. Dann hören wir die Verteidigung – und es überzeugt uns ebenfalls. Je weniger Akten­kenntnisse man hat, desto eher ist man manipulierbar. Darum kommt es auch zur Skandalisierung in den Medien. Ohne Akten­kenntnisse bleibt den Journalisten nichts anderes übrig, als nachzuerzählen, was der eine und was der andere sagt. Sie können die Arbeit des Gerichts nicht überprüfen, ihre Wächter­funktion nicht wahrnehmen. Das ist ein grosses Learning von mir seit diesem Prozess, das habe ich vorher nie so reflektiert. Die eigentliche Aufgabe der Medien wird durch den begrenzten Zugang zu den Fakten verunmöglicht.

Hatten Sie als Podcaster und Prozess­beobachter Zugang zu den Akten?
Im Laufe der Verhandlung haben wir einige Plädoyers bekommen, aber am Anfang hatten wir gar nichts. Nur die Plädoyers allein nützen allerdings wenig. Man kann höchstens sagen, dass das Narrativ gut ist, für sich stimmig erscheint. Aber ob die Ausführungen sich in die Beweislage einfügen, ob diese auch in Kenntnis der Akten überzeugen: keine Ahnung.

Die Gerichte könnten am Prozess Zeugen und Experten befragen. Dann würden die Journalistinnen und die Zuschauer deutlich mehr erfahren.
Die Gerichte sollten die wichtigsten Beweise selbst abnehmen, so verlangt es jedenfalls die Strafprozess­ordnung. Die Richterinnen müssten neugierig sein und der Wahrheit auf den Grund gehen wollen. Die Sache ist oft nicht so eindeutig, wie es auf dem Papier scheint. Dieses Interview wird schriftlich vermutlich auch ganz anders aussehen, als unsere Interaktion gerade jetzt.

Hat es nicht auch mit der drohenden Verjährung zu tun, dass zügig durchverhandelt werden muss?
Ja, natürlich. Aber es ist grundsätzlich eine Krankheit in der Zürcher Justiz, dass die Prozesse schnell und sec durchgezogen werden. Das sieht in anderen Kantonen ganz anders aus. Da wird mehr Zeit eingeplant, und es werden regelmässig Zeuginnen und Experten vor Gericht befragt, also Beweise abgenommen. Und was die drohende Verjährung eines Vorwurfs betrifft: Das Thema ist nur deshalb akut, weil das Gericht schlecht geplant hat.


Am Raiffeisen-Prozess kritisieren Duri Bonin und Gregor Münch nicht nur die viel zu knappe Abhandlung der Vorwürfe, sondern auch den Umgang mit der Öffentlichkeit. Bonin und Münch wurden Zeugen davon, wie interessierte Zuschauerinnen am Eingang abgewiesen wurden. Die Abgewiesenen wussten nicht, dass man sich im Voraus hätte anmelden müssen, was für einen öffentlichen Prozess ungewöhnlich ist. Diese Anmelde­pflicht, sagt Bonin, sei nicht einmal auf der Website des Bezirks­gerichts vermerkt worden.

Die Podcaster Bonin und Münch wurden vom Gericht nicht als Medien­schaffende akzeptiert. Sie durften deshalb der Verhandlung nur an den ersten zwei Tagen beiwohnen. Weil der Prozess am dritten und vierten Tag in kleinere Säle des Volks­hauses verlegt werden musste, waren von da an keine Zuschauer mehr zugelassen. Bonin und Münch erfuhren erst kurz vor der Verhandlung vom eingeschränkten Zugang – zu spät, um sich mit Rechts­mitteln wehren zu können.

An zwei weiteren Verhandlungs­tagen im März sind wiederum nur die akkreditierten Journalistinnen zugelassen. Eine Video­übertragung für weitere Prozess­beobachter ist nicht vorgesehen. «Man wird einfach vor Tatsachen gestellt und ist der Obrigkeit hilflos ausgeliefert», sagt Bonin.


Es fällt generell auf, dass an diesem Prozess das Publikum nur beschränkt Zugang erhält. Ist das mit dem Öffentlichkeits­prinzip vereinbar?
Es ist eine zentrale Errungenschaft, dass wir keine Geheimjustiz mehr haben, dass die Prozesse grundsätzlich öffentlich sind, und zwar für jedermann. Wenn man Zuschauer nicht zulässt und sich nicht einmal der Diskussion über diesen Entscheid stellt, dann ist das verheerend. Gerade bei einem so grossen Fall, der die Öffentlichkeit derart beschäftigt. Das hat auch nichts mit Corona zu tun. Es ist schlichtweg eine schlechte Planung. Und dass Video­übertragungen in einen anderen Raum im Jahre 2022 nicht möglich sein sollen, erschliesst sich einem auch nicht ohne weiteres.

Warum ist das problematisch?
Weil es das Gesetz anders vorsieht. Verletzt werden die Bundesverfassung, die Europäische Menschenrechts­konvention und die Strafprozessordnung. Kollege Gregor Münch meint zwar, wir seien die Einzigen, die sich darüber aufregen. Aber es geht nicht darum, ob sich die Öffentlichkeit im grossen Stil aufregt oder nicht. Es geht darum, dass sich eine staatliche Institution nicht an die eigenen Regeln hält. Oder die Regeln nach Gutdünken anpasst.

Wo geschieht das?
Es gibt derzeit eine repressive Tendenz. Es sind zum Beispiel Bestrebungen im Gange, die Rechte der Verteidigung einzuschränken – dabei ist sie der Gegenpart zur immer mächtigeren Staats­anwaltschaft. Die Spielregeln, die man ja erst 2011 in der ersten eidgenössischen Strafprozess­ordnung festgelegt hat, werden laufend geändert. Und es ist fast immer zum Nachteil der Verteidigung und der Beschuldigten. Das nimmt eine unschöne Dynamik an. Das Primat müsste sein: Würden wir als Bürgerinnen wollen, dass die Spielregeln so sind, wenn wir selber in einem Straf­verfahren landen? Das geschieht schneller, als die meisten denken.

Die Staatsanwaltschaft verlangt für die beiden Haupt­beschuldigten Pierin Vincenz und seinen ehemaligen Geschäfts­partner Beat Stocker Freiheits­strafen von je 6 Jahren. Sie haben das Plädoyer der Anklägerin in höchsten Tönen gelobt.
Das, was ich gehört habe, war überzeugend. Der Vortrag war geschickt aufgebaut und rhetorisch gut vorgetragen – gleich von drei Staats­anwälten, das ist höchst ungewöhnlich. Die Ankläger spielten mit den Emotionen, sie setzten die Rotlichtmilieu­geschichten an den Anfang, um Stimmung zu machen. Auch die Beweislage wurde nachvollziehbar präsentiert. Aber eben: Das heisst nicht, dass die Beweise im geforderten Mass vorliegen. Man kann das ohne Akten­kenntnisse nicht beurteilen. Ich habe das Plädoyer übrigens nur zu zwei Dritteln gehört, danach konnte ich nicht mehr im Saal sein, weil keine Zuschauer mehr zugelassen waren. Und obwohl ich gefragt habe, wurde mir das Manuskript nicht ausgehändigt.

Gleich anschliessend folgte das Plädoyer von Lorenz Erni, dem Verteidiger von Vincenz. Und auch davon waren Sie begeistert.
Diesen Vortrag habe ich vorab schriftlich erhalten. Ich ging an jenem Tag, als Erni es im Saal vortrug, im Wald joggen und liess es mir von Siri mit doppelter Geschwindigkeit vorlesen. Mir war richtig Sturm im Kopf danach. Aber wir konnten anhand von Ernis Notizen erklären, was die Qualität eines Plädoyers ausmacht. Eine gute Verteidigung bringt eine alternative Sachdarstellung, sie entwickelt ein eigenes Narrativ, das ebenfalls überzeugend ist. Sie hat die gleichen Akten und präsentiert eine völlig andere Geschichte. Ein und dasselbe Beweis­mittel kann völlig unterschiedlich gewürdigt werden. Darum ist es auch wichtig, wie sich das Gericht vorbereitet. Am besten wäre es, wenn es die Akten und die Beweis­mittel studiert, sich ein eigenes Bild macht – und erst danach die Anklage­schrift liest.

War es ein Vorteil, dass Pierin Vincenz und Beat Stocker vor Gericht Aussagen machten? Sie hätten auch schweigen dürfen.
Das Problem bei Aussagen ist, dass sich die Erinnerungen ändern, weil das Gehirn nicht statisch ist. Wenn Sie sieben- oder achtmal aussagen, widersprechen Sie sich zwangsläufig, und das wird Ihnen dann um die Ohren gehauen. Das haben wir auch an diesem Prozess gesehen: Die Beschuldigten werden mit Aussagen konfrontiert, die sie in der Untersuchung machten. Sagen sie am Prozess etwas anderes – und sei es auch nur eine kleine Abweichung –, kommen sofort Zweifel. Man glaubt den Beschuldigten nicht mehr. Das ist das Risiko von Aussagen. Und das muss nichts mit Lügen zu tun haben. Viele Beschuldigte haben den Reflex, aussagen zu wollen, weil sie doch nichts zu verheimlichen hätten. Aber am Schluss werden sie an Widersprüchen aufgehängt.

Vincenz und Stocker werden sich ihr Verhalten vor Gericht gut überlegt haben.
Wir wissen nicht genau, was sie in der Untersuchung gemacht oder gesagt haben. Sie mussten zwei unterschiedliche Entscheidungen treffen: Sprechen sie in der Untersuchung und wie oft? Und was machen sie vor Gericht, wo der Auftritt wichtig ist? Offenbar soll es Widersprüche in ihren Aussagen gegeben haben. Aber um es genau beurteilen zu können, müsste man die Akten studieren.

Es geht ja auch darum, was von den Verteidigern empfohlen wurde.
Die Beschuldigten am Raiffeisen-Prozess sind Leute, die in machtvollen Positionen waren oder sind. Sie sind es nicht gewohnt, dass man ihnen sagt, wie sie sich zu verhalten haben. So jemanden dazu zu bringen, am Anfang einer Untersuchung zu schweigen, kann schwierig sein. Aber ein wiederholtes oder ein frühes Aussagen ist hoch gefährlich; weil man nicht weiss, was am Ende das Entscheidende sein wird.

Beat Stocker gab kurz vor Prozess­beginn ein grosses Interview. Wie beurteilen Sie das mit Blick auf die Verteidigungs­strategie?
In einem Strafverfahren sind Sie als beschuldigte Person in einem hohen Mass Objekt. Sie müssen permanent zur Verfügung stehen, es wird gegen Sie ermittelt, Sie werden vorgeladen und eingesperrt. Das heisst, es wird über Sie verfügt. Für Herrn Stocker war es wohl schwierig, nicht mehr Herr der Situation zu sein. Meine Vermutung ist, dass es bei dem Interview darum ging, die verlorene Handlungs­macht zurückzuholen, nicht als willenloses Schaf zum Schafott geführt zu werden, sondern um zu zeigen: Hier bin ich! Auf den Prozess hat das aber keine Auswirkungen.

Fanden Sie die Auftritte von Vincenz und Stocker überzeugend?
Sie waren sehr kontrolliert, sehr ruhig, sehr gut vorbereitet. So, wie man es machen muss.

Die Staatsanwaltschaft änderte während der Untersuchung urplötzlich ihre Strategie, weil es unmöglich wurde, eine Schadens­summe für die Raiffeisen zu definieren: Wem hilft eine solche Strategieänderung mehr – den Beschuldigten oder der Anklägerin?
Ich kann Ihre Frage leider nicht beantworten, weil ich die Akten nicht kenne. Die Antwort findet sich in den Details. Es ist legitim, dass die Staats­anwaltschaft ihre Strategie ändert. Und es ist nachvollziehbar, dass Vincenz’ Verteidiger genau dies ausnützt. Lorenz Erni zeigt mit dem Finger auf den Strategie­wechsel, spricht von schwachen Argumenten und nützt diesen Umstand, um den fehlenden Vorsatz seines Mandanten aufzuzeigen. Das ist schon recht genial.

Den Finger auf die Schwächen der Staats­anwaltschaft zu legen?
Ja, der Verteidiger thematisiert den Paradigmen­wechsel in der Untersuchung und sagt: Die haben ihre Meinung geändert – Überzeugung sieht anders aus. Und dann fährt Erni weiter: Dieser Meinungs­umschwung der Staats­anwaltschaft basiert auf einem Bundesgerichts­entscheid, der noch gar nicht existierte, als die mutmasslichen Delikte begangen wurden. Also konnte es mein Mandant auch nicht wissen, es fehlt am Vorsatz. Für mich ist das ein schöner Dreh. Wenn ein Beschuldigter seine Meinung ändert, haut man ihm das auch um die Ohren.

Im Zentrum des Prozesses stehen unter anderem versteckte Firmen­beteiligungen von Pierin Vincenz. Sein Verteidiger behauptet, es gebe keine Beweise dafür, und stützt sich dabei auf private Notizen und Aussagen von Mitbeschuldigten. Da muss man doch davon ausgehen, dass die sich abgesprochen haben.
Erni muss ja nicht den Unschulds­beweis führen, sondern er muss Zweifel an der Version des Staats­anwalts wecken. Und seine Aussagen sind wiederum verknüpft mit weiteren Beweisen. Im Recht gibt es oftmals nicht einfach richtig oder falsch. Es gibt nur bessere oder schlechtere Argumente.

Vincenz und der Mitbeschuldigte Stocker schoben Millionen hin und her. Erni bezeichnet diese Geld­verschiebungen als Darlehen. Ist es plausibel, dass sich zwei Gross­verdiener ständig gegenseitig Geld ausleihen?
Man müsste jedes Darlehen einzeln anschauen. Aber das ist genau das Problem: Wir können nicht mitreden, weil wir die Akten nicht kennen. Wir bekommen zwei Narrative erzählt, aber wie diese mit den Beweis­mitteln zusammen­hängen, wissen wir nicht. Kollege Münch und ich haben uns überlegt, ob wir eine ‹geheime› Podcastfolge aufnehmen wollen, wo wir uns über den möglichen Urteils­spruch unterhalten; wobei wir diese Folge erst nach der Urteils­eröffnung ausstrahlen würden. Jetzt eine Prognose abzugeben, wäre unseriös. Wir haben ja nicht einmal alle Partei­vorträge gehört.

Als Sie als Zuschauer nicht mehr zugelassen waren, verfolgten Sie die Verhandlung via Liveticker. Wie beurteilen Sie die Arbeit der verschiedenen Newsportale?
Also, der «Blick» war entlarvend. Während sich Erni im Plädoyer zum komplexen Thema der wirtschaftlichen Beteiligungen äusserte, gabs dort ab und zu einen knappen Satz und sehr lange Pausen. Erst als der Verteidiger zu den Rotlicht­eskapaden von Vincenz kam – ganz am Schluss des Vortrags –, wachte der Journalist plötzlich auf und hörte nicht mehr auf zu schreiben.

Und die anderen Medien: Haben sie den Prozess adäquat aufgearbeitet?
Sie haben nacherzählt, was die Leute vor Gericht gesagt haben. Aber ich werfe ihnen nicht vor, dass sie nur das machen, was im Rahmen ihrer Möglichkeiten liegt. Teilweise ist auffällig, wie viel an Äusserlichkeiten aufgehängt wurde. Dass etwa der Staatsanwalt gegen Verteidiger Lorenz Erni schon drei Prozesse verloren habe und es jetzt zum Showdown der beiden komme. Solche Zuspitzungen verkennen die Aufgabe des Staats­anwaltes. Es geht nicht ums Gewinnen. Er muss die Sache zur Anklage bringen und seinen Standpunkt vertreten. Selbst wenn es zu einem Freispruch kommt: Letztlich ist der Rechts­staat der Sieger. Wie gesagt, es geht um Richtigkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit.

Sie bringen in Ihrem Podcast auch Persönliches ein. Sie erzählen, wie Sie und Ihr Gesprächs­partner in einer Prozess­pause an der Sonne sitzen, wie Sie in einem Hipsterlokal einen überteuerten Kaffee holen – oder von Ihrer Erschöpfung nach den stundenlangen Plädoyers.
Wir durften im Saal ja nicht arbeiten, also rannten wir immer wieder rein und raus, um zu podcasten und zu schneiden. Daneben haben wir auch noch unsere Hauptarbeit, unsere Anwalts­kanzleien. Wir hatten daher kaum Pause, und nach den Prozess­tagen galt es, die dringendsten Arbeiten in unseren Büros zu erledigen. Entspanntes Prozess­beobachten sieht anders aus.

Haben Sie die Sache unterschätzt?
Noch schlimmer: Ich habe mir überhaupt keine Vorstellung gemacht, wie es sein würde. Und die Verfügung des Gerichts, im Gerichts­saal den Laptop nicht verwenden zu dürfen, habe ich nicht im Traum antizipiert.

Hinweis: Der Prozess begann nicht «letzte Woche», wie wir ursprünglich geschrieben haben, sondern am 25. Januar. Wir haben die Stelle angepasst.

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