Waren gibt es noch, doch sie sind für immer mehr Menschen in Afghanistan unerschwinglich: Markt in Kabul, Mitte August 2021. Andrew Quilty/VU/laif

Wenn ein Land kollabiert

Brot kostet in Kabul immer noch umgerechnet 10 Rappen, doch der Laib ist nur noch halb so gross: Wie die afghanische Bevölkerung im zusammen­krachenden Wirtschafts­system überlebt. Und wieso der Kollaps nicht nur an der Unfähigkeit der Taliban liegt.

Eine Analyse von Emran Feroz, 28.01.2022

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Abdul Rahman steht im November 2021 in Stuttgart vor einem Platten­bau in einer Wohn­siedlung und wählt eine Nummer. Niemand hebt ab. Der 38-jährige Exil­afghane dreht mehrere Runden um den Block. Während er durch den Neuschnee stapft, fragt er sich, ob die genannte Adresse die richtige ist. Kurz darauf klingelt sein Handy. «Ich komme gleich zu dir. Hast du das Geld genau?», fragt ihn die Stimme in Dari, dem afghanischen Persisch.

Zwei Minuten später steht Hassan (Name geändert) vor Abdul Rahman. Dieser händigt ihm hundert Euro aus. Die Gebühr beträgt fünf Euro, erklärt Hassan. «Den Rest klären wir einfach über Whatsapp», sagt Hassan.

Was war das gerade für ein Deal? Für die meisten Aussen­stehenden dürfte diese Beobachtung zwischen Stuttgarter Platten­bauten verdächtig wirken. Man würde sich wohl zu Recht die Fragen stellen, ob und was für zwielichtige und womöglich illegale Geschäfte zwischen Abdul Rahman und Hassan abgewickelt wurden. Dabei ist das Geschehen leichter zu verstehen, wenn man die Lage im Heimat­land der beiden Männer in Betracht zieht.

Ein Land ohne funktionierendes Wirtschaftssystem.

Geld zum Überleben

Afghanistan befindet sich praktisch im freien Fall: Seit der Macht­übernahme der Taliban hat der Afghani, die afghanische Währung, gegenüber dem Dollar rund 25 Prozent an Wert verloren. Während das Bargeld im Land tagtäglich knapper wird, steigt die Armuts­quote drastisch. Hunger und Arbeitslosigkeit dominieren den Alltag der meisten Afghanen. Millionen von Menschen sind auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen, und oftmals sind es Verwandte, die das Geld zum Überleben überweisen. Neben Moneygram und Western Union, den bekanntesten Geld­transfer-Institutionen, greifen viele Afghaninnen noch auf das sogenannte Hawala-System zurück, ein Vertrauens­netzwerk, in dem Transaktionen ausschliesslich mit Bargeld erfolgen. Hassan aus Stuttgart gehört zu jenen Personen, die Teil dieses Systems sind.

Sein Kontakt­mann sitzt im Sarai Shahzada, Kabuls Finanz­zentrum, in dem meist Muslime, Sikhs und Hindus an ihren Schreib­tischen und Schaltern mit dem Zählen von Bargeld beschäftigt sind, und zahlt die Geld­empfänger nach Überprüfung der Personalien direkt aus. In der Praxis läuft das wie folgt ab: Abdul Rahmans Geldwert landet nach der Übergabe binnen weniger Minuten bei Hassans Kontakt­mann in Kabul. Dieser wird daraufhin vom Zahlungs­empfänger, Abdul Rahmans Bruder, aufgesucht und nimmt einen Ziffern­code entgegen, den Abdul Rahman von Hassan erhalten hat. Der Code dient der Authentifizierung. Nach der Auszahlung schuldet Hassan seinem Kontakt­mann den jeweiligen Betrag. Diese Schulden werden entweder durch weitere Transaktionen oder durch Waren­lieferungen, Dienst­leistungen oder Wert­gegenstände beglichen. Im Fall von Hassan und vielen anderen afghanischen «Hawaladars» besteht etwa meist die Möglichkeit, dass diese einen beträchtlichen Teil an Bargeld auch vor Ort in Kabul besitzen und dieses vom Kontakt­mann verwaltet wird. In Afghanistan ist Hawala oft ein Familien­geschäft, das seit Generation betrieben wird.

Das Hawala-System ist in vielen westlichen Staaten illegal und wird auch zur Geld­wäsche verwendet. Doch aus dem Alltag der Afghaninnen ist es, ähnlich wie in anderen Ländern, in denen es kein funktionierendes Bank­wesen gibt, seit langem nicht mehr wegzudenken. «Ich muss die Miete meines Bruders in Kabul bezahlen. Hawala ist zurzeit der einzige sichere Weg für den Geld­versand», erklärt Abdul Rahman. Er besucht Männer wie Hassan regelmässig. Sie existieren überall, wo es in Deutschland Afghanen gibt. In Stuttgart und Frankfurt, aber auch in Zürich, Basel oder Wien.

Kein Krieg mehr, dafür Hunger

«Natürlich ist die Anzahl meiner Kunden in den letzten vier Monaten gestiegen. Das hat mit der aktuellen Krise zu tun», meint auch Hassan.

Er betont die gegenwärtige Zuverlässigkeit des Hawala-Systems. Denn während das Geld von Abdul Rahman und anderen Kundinnen sicher ankommt, sei dies bei Western Union und Co. nicht mehr stets der Fall. «Deren Mitarbeitende verlangen mittlerweile ‹Zusatz­gebühren›, weil sie selbst hungern, sprich, wenn ich meinen Eltern 200 Euro schicke, verlangt die Person am Schalter vom Empfänger die Hälfte davon. Das ist praktisch Diebstahl», erzählt Abdul Rahman.

Die Republik hat Western Union mit diesem Vorwurf konfrontiert. Eine Sprecherin teilte uns mit, man nehme diese Information sehr ernst. Es sei darum nun eine systematische Untersuchung eingeleitet worden. Moneygram hat auf die Anfragen der Republik nicht reagiert.

Ich will es genauer wissen: Das Statement von Western Union im Wortlaut

Western Union connects people seeking walk-in money transfer services in both cities and remote corners of the world. We do this by maintaining a global Agent network of approximately 600,000 retail locations in 200 countries and territories. Trust, compliance and consumer protection are a cornerstone to our operating model. We enter into agreements with our Agents to offer Western Union services to our consumers. We take all information received from outside parties regarding our Agents seriously and we will systematically act on any practices that are in breach of contract and/or are a violation of law. We are currently investigating this matter accordingly.

Der Ruf von Western Union und Co. hat in Afghanistan gelitten, doch kein seriöser Hawaladar will, dass ihm Ähnliches widerfährt. In solch einem Fall würde man aufgrund des Vertrauens­verlustes von der Zunft ausgestossen und nie wieder aufgenommen werden.

Kunden warten Anfang September 2021 in Kabul vor der New Kabul Bank: Wegen Liquiditätsproblemen darf jede Person maximal einen Betrag von umgerechnet 200 US-Dollar pro Woche abheben. Kaveh Rostamkhani
Ende November 2021 in Kabul: Geld­wechsler und Geld­übermittler – Hawaladar – im Finanz­zentrum Sarai Shahzada. Aria Xinhua/eyevine/laif

Die Taliban, die neuen Macht­haber in Kabul, werden von vielen im Land für die aktuelle Wirtschafts­krise verantwortlich gemacht. Nicht nur hat der Afghani massiv an Wert verloren, zugleich sind die Preise für Grund­nahrungs­mittel und Rohstoffe fort­während gestiegen. Ein Brot kostet weiterhin etwa 10 Afghani, weniger als 10 Rappen, allerdings ist der Laib aufgrund der hohen Mehl­preise fast um die Hälfte geschrumpft. Ähnlich verhält es sich mit Nahrungs­mitteln wie Milch, Joghurt oder Eiern. Fleisch war bereits vor dieser Krise für die meisten Afghaninnen ein Luxus. «Das Problem ist, dass nicht nur die Preise für importierte Waren gestiegen sind, sondern auch jene für lokale. Das erdrückt die meisten Haushalte, weshalb die Armut tagtäglich steigt», sagt Ahmad Zubair aus Kabul.

Bis zum Sturz der letzten Regierung war Ahmad Zubair für das Städtebau­ministerium als Ingenieur tätig. Heute ist er arbeitslos. Seine letzten Löhne hat er bis heute nicht erhalten. Mittler­weile spielt Zubair mit dem Gedanken, Afghanistan zu verlassen. «Die Taliban haben gewonnen. Es herrscht kein Krieg mehr. Das bringt allerdings nicht viel, wenn die Menschen hungern. Der wirtschaftliche Kollaps treibt viele Afghanen in die Flucht», sagt er.

Geschäftszweige, die weiterhin bestehen, sind etwa der Export von Trocken­früchten, der allerdings auch teils eingebrochen ist, sowie der Drogen­handel, der von den Taliban weiterhin gewährt und versteuert wird.

Mädchen und Frauen betteln Mitte Oktober vor einer Bäckerei in Kabul um Brot und Almosen: Preise und Armut steigen ins Unermessliche. Kaveh Rostamkhani

Dass die Taliban Herr der Lage werden können, bezweifelt Ahmed Zubair. Dorf­mullahs und andere religiöse Kleriker seien nicht imstande, Banken oder Ministerien zu führen. In den letzten Wochen traten allerdings einige Experten in den Vordergrund. Vor kurzem wurde etwa Abdul Latif Nazary, ein promovierter Wirtschafts­experte, zum stellvertretenden Wirtschafts­minister ernannt. Nazary ist kein Mitglied der Taliban und gehört der mehrheitlich schiitischen Hazara-Ethnie an, die in der Vergangenheit von den Extremisten teils gejagt und unterdrückt wurde.

Auch in den letzten Monaten sollen in einigen Landes­teilen Taliban-Verbrechen gegen die Hazara stattgefunden haben. Mit der Nominierung Nazarys wollen die Taliban wohl auch verdeutlichen, dass sie sich verändert haben und auf Inklusion im afghanischen Kontext Wert legen.

Taliban? Die Korruption war vorher da

Klar ist allerdings auch, dass der gegenwärtige Kollaps trotz berechtigter Kritik nicht nur auf die Rückkehr der Taliban zurück­zuführen ist. Und das hat auch mit der westlichen Intervention zu tun: In den letzten zwanzig Jahren wurde nämlich seitens der USA und ihrer Verbündeten kein wirtschaftlich unabhängiger Staat geschaffen, sondern in erster Linie ein korruptes politisches System, das in jederlei Hinsicht von westlichen Hilfs­geldern in Milliarden­höhe abhängig war.

Die neu geschaffenen Institutionen waren weder nachhaltig noch eigen­ständig, sondern wurden von jenem Korruptions­sumpf verschlungen, der von den neuen Macht­habern – Warlords und korrupten Politikern wie Ex-Präsident Hamid Karzai – in Kabul gelegt wurde. Diese Misere wurde von Washington und Co. mitkreiert und gefördert. Immerhin war es die CIA, die bereits vor dem offiziellen Beginn der Intervention in Afghanistan am 7. Oktober 2001 vor Ort mit Geld­koffern erschien, um potenzielle Verbündete zu kaufen. Es waren auch jene Männer, die nach dem Sturz der Taliban den politischen Alltag in Kabul dominierten. Die gewohnte Auszahlung der Gelder ist nun aufgrund der Rückkehr der Taliban weggefallen.

Hinzu kommt, dass die afghanischen Devisen­reserven im Ausland in Höhe von rund neun Milliarden US-Dollar von Washington seit der Macht­übernahme der Taliban blockiert werden. Dass es diese überhaupt gibt und dass sie haupt­sächlich bei der US-Zentral­bank (Fed) liegen, wurde bereits im August ausgerechnet von Ajmal Ahmady, dem ehemaligen Chef der afghanischen Zentral­bank (DAB), nach dessen Flucht in die USA verkündet. Ahmady, ein afghanischer US-Staats­bürger, pflegte ein enges Verhältnis zu Ex-Präsident Ashraf Ghani, der ins Ausland floh, als die Taliban vor Kabul aufmarschierten.

Ahmady war in den letzten Jahren auch als Ghanis Wirtschafts­berater tätig. In den letzten Monaten vor dem Kollaps der Regierung machte er vor allem mit Korruptions­skandalen auf sich aufmerksam. Ahmady, der mit Ghanis Nichte verheiratet ist, und andere junge Technokraten aus dem westlichen Ausland wurden zum Sinnbild der Korruption unter der Ghani-Administration.

Die nächste Runde Zynismus

Internationale Sanktionen sind so wenig präzis wie Drohnen­angriffe: Sie treffen oft die Falschen. «Die USA und andere westliche Staaten bestrafen die Afghanen im Kollektiv, weil man mit dem Ausgang des Krieges und vor allem den Siegern, sprich den Taliban, nicht zufrieden ist. Diese Sanktionen treffen in erster Linie allerdings nicht das Taliban-Regime, sondern die einfachen Menschen vor Ort», sagt Thomas Ruttig, Co-Direktor des Afghanistan Analysts Network, einer Denk­fabrik, die sich seit Jahren auf das Land fokussiert. Die USA und andere Geldgeber argumentieren in diesem Kontext hingegen vor allem mit Menschen­rechts­fragen. Teile der aktuellen Taliban-Regierung gehörten jahrelang zu den meist­gesuchten Terroristen der USA.

Das prominenteste Beispiel dafür ist wohl Sirajuddin Haqqani, Kopf des sogenannten Haqqani-Netzwerkes und jahre­langer Militär­chef der Taliban.

Seine Kämpfer waren in den letzten Jahren für zahlreiche blutige Anschläge in Kabul und anderswo verantwortlich. Das FBI schrieb ein Kopfgeld in Höhe von zehn Millionen US-Dollar auf Haqqanis Kopf aus. Mittler­weile agiert er als neuer afghanischer Innen­minister. Hinzu kommt, dass die Taliban seit ihrer Macht­übernahme trotz einer im August verkündeten General­amnestie Jagd auf ehemalige Mitglieder der afghanischen Armee, der Polizei und des Geheim­dienstes machen und in zahlreichen Provinzen Mädchen und Frauen den Gang zu Schulen und Universitäten verwehren.

Das muss dann oft für die Legitimierung von Sanktionen hinhalten. Ruttig betont allerdings, dass der Westen in Afghanistan aufgrund seines brutalen «War on Terror», unter anderem durch zahl­reiche Drohnen­angriffe auf Zivilistinnen oder der Folter­hölle im ehemaligen US-Stützpunkt Bagram, dem «afghanischen Guantánamo», seine moralische Deutungs­hoheit verloren habe – und dass die zunehmende wirtschaftliche Isolation die Taliban eher stärken würde, anstatt Gegenteiliges zu bewirken.

«Abgesehen davon muss man bedenken, wie brutal und pervers allein schon der Gedanke ist, durch Sanktionen einen Hunger­aufstand gegen die Taliban zu provozieren», sagt er. Für die aktuelle Krise im Land seien nicht nur die Taliban verantwortlich zu machen, sondern vor allem jene kurz­sichtige Kriegs­wirtschaft, die in den letzten zwei Jahr­zehnten seitens der USA und ihrer Verbündeten betrieben wurde, die Warlords und korrupte Politiker stärkte, Milliarden von Hilfs­geldern in Paläste und Privat­armeen pumpte.

Allein Washington kostete der Krieg in Afghanistan mindestens 1,5 Billionen US-Dollar. Von Nachhaltigkeit fehlte bei all den unregulierten Investitionen allerdings jede Spur. Von dieser Realität wurde der Westen spätestens Mitte August 2021 eingeholt, als etwa der gesamte afghanische Sicherheits­apparat in sich zusammen­brach und aufmerksame Beobachterinnen darauf hinwiesen, dass viele Fuss­soldaten seit Jahren nicht entlohnt wurden oder de facto nur auf dem Papier existierten, während hochrangige Militärs deren Sold einsteckten.

Dass sich die aktuelle Situation ändern muss, wissen nicht nur die betroffenen Menschen in Afghanistan, sondern auch jene, die Teil der afghanischen Diaspora sind und tagtäglich versuchen, ihre Familien im Land zu unterstützen. Die amerikanisch-afghanische Aktivistin und Unter­nehmerin Masuda Sultan hat jüngst etwa den Hashtag #unfreezeafghanistan initiiert, um auf die Lage in ihrer Heimat aufmerksam zu machen.

Vor dem endgültigen Kollaps

«Praktisch über Nacht verlor Afghanistan 45 Prozent seines BIP sowie 75 Prozent seines Gesamt­budgets. Hinzu kommen Staats­reserven in Höhe von rund neun Milliarden US-Dollar. Rund zwei bis drei Milliarden davon gehören einfachen Leuten, die ihr Geld in lokalen Banken angespart hatten. Ohne diese Gelder befindet sich das Land praktisch im freien Fall», sagt Masuda Sultan. Die milliarden­hohen Staats­reserven werden weiterhin von der US-Zentral­bank zurückgehalten.

Rund 650 Kilometer westlich von Kabul, Anfang September 2021: Der Devisenmarkt in Herat, der einen erheblichen Einfluss auf den US-Dollar­kurs im Land, aber auch im Iran hat. Kaveh Rostamkhani

Masuda Sultan fordert die Freigabe dieser Gelder. In den letzten Wochen beteiligten sich zahlreiche Afghanen weltweit an der Aktion. Es kam auch zu Demonstrationen, unter anderem vor dem Weissen Haus in Washington.

Sultan hat jahrelang mit Menschen in ihrer Heimat zusammen­gearbeitet und ist mit der Situation vor Ort vertraut. Bereits vor dem Kollaps haben mehr als 70 Prozent der Afghaninnen in Armut gelebt. Nun werden sie sich selbst überlassen, während viele Verantwortliche der Krise geflüchtet sind oder schon seit langem im Ausland verweilen. Das beste Beispiel hierfür ist wohl Ex-Präsident Ashraf Ghani höchst­persönlich, der gemeinsam mit seinen engsten Vertrauten aus dem Arg, dem afghanischen Präsidenten­palast, flüchtete, noch bevor die Taliban Kabul einnahmen.

Gegenwärtig hält er sich in den Vereinigten Arabischen Emiraten auf, die sich in den letzten Jahren zum Hort afghanischer Korruption entwickelten. Vor wenigen Tagen ernannte das Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP), eine Journalisten-Organisation, die sich unter anderem auf Korruption fokussiert, Ghani zu den korruptesten politischen Führern des Jahres – neben Männern wie Bashar al-Assad, Recep Tayyip Erdoğan, Sebastian Kurz und Alexander Lukaschenko. Grund hierfür war wohl auch eine OCCRP-Recherche aus dem vergangenen Jahr, die verdeutlichte, wie Ghani seinem Bruder, dem Politiker Hashmat Ghani, lukrative US-Verträge für den Abbau von Boden­schätzen zugeschanzt haben soll.

Einigen Berichten zufolge soll der Ex-Präsident Mitte August 2021 mit Koffern voller Bargeld vor den Taliban geflüchtet sein. Insgesamt war von 150 Millionen US-Dollar die Rede. Laut der Nachrichten­agentur Reuters sollen die Gerüchte zwar von der russischen Botschaft in Kabul gestreut worden sein. Doch viele Afghanen sahen die Geld­taschen nur als eine Metapher für die Korruption des ghanischen Staats­apparats, die zum damaligen Zeitpunkt bereits mehr als bekannt war. Im Moment sind es die Afghaninnen im Ausland, die ihre Heimat am Leben erhalten – sei es durch regel­mässige Zahlungen über Hawala oder Western Union oder durch gross angelegte Spenden­aktionen, die in diesen Tagen mehr denn je benötigt werden.

Den endgültigen Kollaps werden all diese Beträge allerdings auf Dauer nicht verhindern können. Abgesehen von der Freigabe der Geld­reserven in den USA ist ein umfassender Wirtschafts­plan für das Land notwendig. Hinzu müssen ein gewisser Pragmatismus kommen sowie die Einsicht, Realitäten vor Ort zu akzeptieren – und zu diesen gehören nun einmal, ob man will oder nicht, auch die Taliban. Bis dahin werden weiterhin Millionen von Menschen vor Ort von den finanziellen Möglichkeiten und vom Goodwill ihrer Verwandten und Bekannten in der Diaspora abhängig bleiben.

Zum Autor

Emran Feroz ist austro-afghanischer Journalist. Er berichtet regelmässig aus und über Afghanistan, meist für deutsch- und englisch­sprachige Medien wie «Foreign Policy», Deutschland­funk Kultur oder die WOZ. Vor kurzem erschien sein Buch über den Afghanistan­krieg, «Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror».

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