Abdulrazak Gurnah!

Der sansibarisch-britische Schriftsteller Abdulrazak Gurnah hat den Literatur­nobel­preis erhalten. Wer ist dieser Autor, den niemand auf der Rechnung hatte? Und warum sollte man ihn lesen?

Von Daniel Graf, 10.12.2021

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Kannten Sie ihn schon? Wir auch nicht: Abdulrazak Gurnah. Linda Nylind/Guardian/eyevine/laif

Europäische Leserinnen lernen gerade einiges über weisse Flecken auf ihrer literarischen Weltkarte. Bereits das zweite Jahr in Folge hat das Stockholmer Nobelpreis­komitee bei der Bekannt­gabe seiner Entscheidung einen Namen präsentiert, der bei den Spekulationen im Vorfeld nicht die geringste Rolle gespielt hatte.

Nach dem Preis für Louise Glück 2020 ist die höchste literarische Auszeichnung in diesem Jahr an einen Schrift­steller gegangen, von dem im hiesigen Literatur­betrieb die allerwenigsten vor der Bekannt­gabe des Jury­entscheids auch nur eine Zeile gelesen hatten (der Autor dieser Zeilen eingeschlossen).

Die Ironie dabei: Beide, Louise Glück ebenso wie Abdulrazak Gurnah, haben ihr – vollkommen unterschiedliches – Gesamt­werk nicht in einer marginalisierten «kleinen» Sprache verfasst, sondern auf Englisch. Und beide veröffentlichen seit Jahrzehnten nicht etwa in den Rand­gebieten des internationalen Literatur­betriebs, sondern bei renommierten Verlagen in den USA (Glück) beziehungsweise Grossbritannien (Gurnah).

Man kann also auch in der Welt- und Literatur­sprache Nummer eins ein unverwechselbares Œuvre vorlegen und trotzdem als grosse Unbekannte gelten. Wenn man, wie Louise Glück, zwar schon vor dem Nobel­preis Dutzende Auszeichnungen erhalten, die Meriten aber leider in dieser seltsamen Gattung namens Lyrik erworben hat. Oder, wie Abdulrazak Gurnah, über Welt­regionen ausserhalb der westlichen Aufmerksamkeits­zone schreibt; mit Themen, die in unseren Breiten­graden erst in jüngster Zeit, dafür allerdings umso dringlicher, in den Fokus einer breiten Wahrnehmung gerückt sind: die Nachwirkungen des Kolonialismus, die ausser­europäische Gewalt­geschichte der grossen europäischen Nationen.

Und doch fielen die Reaktionen, nachdem das Nobel­komitee Anfang Oktober seine Entscheidung bekannt gab, in diesem Jahr ein wenig anders aus als 2020.

Gefielen sich Teile des Feuilletons im letzten Jahr noch in breitbeinigen «Louise wer?»-Statements, anstatt von der eigenen Unkenntnis wenigstens ein bisschen peinlich berührt zu sein, wurde die Entscheidung dieses Mal nachdenklicher und fast durchgehend positiv aufgenommen. Lediglich die NZZ sah den Nobel­preis schon «krachend» auf dem Weg Richtung «Bedeutungs­losigkeit», ansonsten aber stiess die Entscheidung auf Beifall, Neugier und selbst­kritische Befragung des eigenen Kanons.

Es scheint sich die Einsicht durchzusetzen, dass der Nobel­preis seine Bedeutung langfristig nicht dadurch sichert, dass das Komitee möglichst überraschungs­frei entlang des rituellen name dropping entscheidet. Sondern die Selbst­provinzialisierung des Preises vielmehr dann droht, wenn die Jury einfach weiterhin brav das alteuropäische Augurentum in seinen vermeintlichen Gewissheiten (und teils erstaunlich markt­konformen Relevanz­behauptungen) bestätigt.

Fakt ist: Als Anfang Oktober der diesjährige Preis­träger bekannt gegeben wurde, gab es von Abdulrazak Gurnah kein einziges lieferbares Buch auf Deutsch. Obwohl es gerade die deutsche Kolonial­geschichte in Ostafrika ist, die in seinem Werk eine zentrale Rolle spielt. In den USA, dem grössten Buchmarkt der Welt, war die Lage ähnlich – obwohl Gurnahs Weg in den nord­amerikanischen Handel nicht einmal Übersetzungen braucht.

Das alles wird sich durch den Nobelpreis nun schlagartig ändern.

Anfang dieser Woche wurde Abdulrazak Gurnah in London geehrt, nicht wie traditionell am 10. Dezember in Stockholm – die offizielle Preis­verleihungs­feier war der Pandemie zum Opfer gefallen. Der ganz neuen Aufmerksamkeit für sein Werk tut dies keinen Abbruch.

Und doch wird sich den meisten Leserinnen und Lesern hierzulande zunächst die basalste Frage aufdrängen:

Wer ist Abdulrazak Gurnah?

1948 auf der Insel Sansibar geboren, war Abdulrazak Gurnah noch ein Teenager, als das Sultanat Sansibar 1963 die Unabhängigkeit von Grossbritannien erlangte. Es folgen eine Revolution gegen die arabische Oberschicht, die Absetzung des Sultans und die Vereinigung der Insel mit der Festland­region zur Vereinigten Republik von Tanganjika und Sansibar, aus der im November 1964 die Vereinigte Republik Tansania wird. Im Zuge der Umwälzungen kommt es zur Verfolgung und Diskriminierung der arabisch­stämmigen Bevölkerung, der auch Gurnah angehört. 1967 flieht er als 19-Jähriger nach England, die Einreise in sein Geburts­land wird ihm erst in den Achtziger­jahren wieder möglich sein.

Im Exil beginnt er zu studieren und zu schreiben – nicht in seiner ersten Sprache, Swahili, sondern auf Englisch. Neben dem literarischen Schreiben widmet sich Gurnah einer akademischen Laufbahn. 1982 wird er an der University of Kent promoviert und arbeitet dort bis zu seiner Emeritierung 2017 als Professor für Englisch und für postkoloniale Literatur.

1987 debütiert er als Schriftsteller mit dem Roman «Memory of Departure», neun weitere Romane sowie Short Storys und Essays folgen. Gurnahs Themen sind unmittelbar mit der eigenen Biografie und der Geschichte seines Herkunfts­landes verknüpft: Migration, Flucht, Exil, Heimatlosigkeit und Vertreibung. Und nicht zuletzt die Geschichte des Kolonialismus und seiner Auswirkungen bis heute.

Einen ersten internationalen Durchbruch erzielt er 1994 mit seinem vierten Roman «Paradise», der zwei Jahre später als erstes Buch von ihm auf Deutsch erscheint.

Die grossen Verkaufs­erfolge aber blieben ihm international wie auch in Grossbritannien verwehrt. Das macht auch seine Rezeptions­geschichte auf Deutsch kompliziert.

Immerhin fünf Romane von Gurnah sind in den Neunziger- und Nuller­jahren schon in unterschiedlichen, meist kleinen Verlagen auf Deutsch erschienen, in geringen Auflagen allerdings, und mangels Nachfrage waren sie alle längst vom Markt verschwunden, als diesen Herbst die Nachricht aus Stockholm eintraf.

Damit war die Lage eine andere als etwa bei der simbabwischen Autorin und Filme­macherin Tsitsi Dangarembga, die in diesem Herbst, ebenfalls für viele überraschend, den Friedens­­preis des Deutschen Buch­handels erhielt. Von dem dadurch sprunghaft angestiegenen Interesse konnte ihr kleiner deutscher Verlag Orlanda dann tatsächlich profitieren und die Früchte dafür ernten, dass sich das kleine Team um die Verlegerin Annette Michael seit Jahren im Bereich afrikanischer Literaturen engagiert.

Bei Gurnah hingegen mussten nach dem Nobelpreis-Entscheid die Buch­rechte überhaupt erst wieder neu ausgehandelt werden. So kommt es, dass seine Romane auf Deutsch künftig bei Penguin Random House erscheinen, der grössten Publikums­verlags­gruppe der Welt.

Pünktlich zur Preisverleihung hat Penguin eines von Gurnahs Haupt­werken in der deutschen Übersetzung von Inge Leipold neu aufgelegt und in die Buchläden gebracht: den Roman «Paradise», der im Deutschen schon seit der Erstausgabe den Titel «Das verlorene Paradies» trägt.

Für alle, die den Autor Abdulrazak Gurnah kennen­lernen wollen, ist dieses Buch tatsächlich ein guter Einstieg. Wer auf Englisch liest, sollte sich allerdings unbedingt auch Gurnahs neuesten Roman «Afterlives» besorgen. (Auf Deutsch soll der Titel laut Auskunft von Penguin-Verlegerin Britta Egetemeier bis nächsten Herbst vorliegen, ebenso wie ein bis zwei weitere Gurnah-Romane, deren Veröffentlichung für 2022 geplant sei.)

Doch der Reihe nach.

«Das verlorene Paradies»

Wollte man Gurnahs Geschichten auf einer Landkarte verorten, es müsste ein Zwischen­bereich sein. Das Gebiet zwischen dem tansanischen Festland und Sansibar; in einem weiteren Sinn die Handels­routen des Indischen Ozeans und die Kultur­­geschichte seiner Küsten­­regionen. Die prototypischen Orte seiner Literatur sind die lokalen und globalen Umschlag­plätze, Begegnungs- und Konflikt­zonen zwischen den Kulturen, Ethnien, Religionen und Sprachen. All die Orte, wo Waren und Worte getauscht werden, wo Besitztum neu verhandelt wird. Bis hin zur äussersten Perversion von Handel und Eigentums­denken: dem Anspruch auf ganze Länder und Menschen­leben. Bis hin zu Kinder­sklaverei und Kolonialismus.

«Das verlorene Paradies» handelt von beidem.

Der Roman beginnt so:

Erst der Junge. Sein Name war Yusuf, und in seinem zwölften Jahr verliess er ganz überraschend sein Zuhause. Er erinnerte sich, es war die Zeit der Dürre, in der ein Tag war wie der andere.

Aus: «Das verlorene Paradies» von Abdulrazak Gurnah.

Die «Zeit der Dürre» war in Yusufs Familie allerdings schon länger angebrochen. Nach Kawa, ins karge Landes­innere des heutigen Tansania, waren sie gezogen, weil die Kolonial­herrscher von «Deutsch-Ostafrika» dort eine Eisen­bahn­linie gebaut und Yusufs Vater auf den wirtschaftlichen Boom und eine berufliche Zukunft gehofft hatte. Was sich mehrt, sind dann aber vor allem Gerüchte über Gräuel­taten der Deutschen.

Der Aufschwung hingegen währt nur kurz, und die Einzigen, die im Haus der Familie genügend zu essen haben, sind die Holz­würmer im Gebälk der Veranda. Wenn Yusuf über Hunger klagt, bleibt der Mutter nur die Flucht in den Sarkasmus: «Iss Holzwürmer», sagt sie, «na los, stopf dich damit voll.» Und Yusuf seufzt «auf die welt­verdrossene Art, die er einstudierte, um ihr zu zeigen, wie armselig ihr Witz war».

«Würdest du gerne eine kleine Reise unternehmen, kleiner Krake?», fragt eines Tages sein Vater, und gibt die Antwort gleich selbst: «Du fährst mit Onkel Aziz.» Mit dem «reichen und berühmten Kaufmann» also, dessen Besuche in den vergangenen Jahren immer schon die einzigen Anlässe für ein Festmahl waren. Und der Yusuf jedes Mal, bevor er wieder fuhr, in einem ganz eigenen Ritual eine 10-Anna-Münze zusteckte.

Dieses Mal gibt es keine Münze, Yusuf selbst reist mit ab, um künftig Onkel Aziz in seinem Laden zur Hand zu gehen. Nur stellt sich bald heraus, dass Aziz gar nicht sein Onkel ist. Sondern ein Geschäfts­mann, bei dem Yusufs Vater tief verschuldet ist. Und Yusuf ist nun ein rehani, ein Pfand, eine Art Schulden­ausgleich. Genau wie Khalil, der ältere Junge, der Yusuf meist unsanft unter seine Fittiche nimmt, ihn in die Geschäfte des Seyyid sowie die Realitäten eines neuen Lebens einweist. Und der den abgemagerten Yusuf nur kifa urongo nennt: lebender Leichnam.

Abdulrazak Gurnah erzählt die Geschichte von Yusufs Coming of Age mit deutlichen Anspielungen auf Joseph Conrads «Herz der Finsternis», legt sie aber auch als Gegen­erzählung dazu an.

Yusuf muss in der Karawane des Seyyid («Herr, Meister»), wie er den vermeintlichen Onkel nun nennen soll, durch das Land ziehen. Der Menschen­schinder Mohammed Abdalla, von Khalil mit dem Beinamen «der Teufel» ausgestattet, begleitet den Tross und bestraft unerbittlich jeden Regel­verstoss. Dass er als «brutaler Männer­liebhaber» gilt und auf Yusuf ein besonderes Auge geworfen hat, macht die Sache nicht besser. Je weiter die Gruppe zieht, desto tiefer verstrickt sie sich in den Wirren von rivalisierenden Interessen und alten Konflikten, die mit dem Regime der Kolonial­herren nur umso unübersichtlicher geworden sind.

Wo auch immer sie hinzogen, überall mussten sie feststellen, dass die Europäer ihnen zuvorgekommen waren, Soldaten und Beamte eingesetzt hatten, die den Leuten erzählten, sie seien hier, um sie vor ihren Feinden zu schützen, die nur danach trachteten, Sklaven aus ihnen zu machen.

Wie tief Gurnah die Psychologie einer Erziehung zur Unfreiheit ausleuchtet; mit welcher Evokations­kraft er die Komplexität der multi­ethnischen Gesellschaft Tansanias vor Augen stellt; wie augen­öffnend er sie mit der Geschichte der Kolonial­herrschaft in Verbindung bringt, gehört zu den besonderen literarischen Leistungen dieses Autors. Gurnahs postkoloniale Kritik lässt keinerlei geschichts­klitternde Relativierungen zu. Nirgendwo allerdings neigt er zu stereotypen Figuren­konstellationen oder zu Verklärungen der vorkolonialen Welt. Vielmehr zeigt er den kosmo­politischen Raum des Indischen Ozeans in seinen Utopien ebenso wie in all seinen internen Spannungen und Konflikten und samt der vielfältigen Spielarten des Rassismus, die sich wiederum der europäische Kolonial­rassismus zunutze macht.

Es ist kein Zufall, dass Gurnah auch aus seiner Nobelpreisrede vom Dienstag ein vehementes Plädoyer gegen jede simplifizierende Geschichts­schreibung machte. Gurnahs Schreiben sucht immer das höher aufgelöste Bild.

Dabei gelingt es ihm, die weiten historischen Linien in konkreten Einzel­schicksalen aufscheinen zu lassen. Die Heldinnen und Helden seiner Romane sind nicht die grossen Figuren der Geschichts­schreibung, sie müssen auch nichts Heroisches verkörpern. Es sind die Normalos, oft genug die Ausgebeuteten und Unter­privilegierten, in deren Biografien sich die Verwerfungen der Geschichte auftun, ohne aus den Gebeutelten Super­helden zu machen.

Wenn «Paradise», der sarkastische Titel des Originals, im Deutschen ein wenig verkitscht als «Das verlorene Paradies» daherkommt, geht das am Kern von Gurnahs gänzlich unsentimentalem Schreiben vorbei. Der Roman ist nicht nur ein Gegen­entwurf zu Joseph Conrad, sondern auch ein retelling der Legende vom Propheten Yusuf beziehungsweise Joseph aus dem Koran und der Bibel. Gurnahs Yusuf aber ist letztlich keine dieser heraus­gehobenen charismatischen Persönlichkeiten, die den Lauf der Welt verändern. So wie er eben noch in der Karawane des Seyyid marschierte, wird er sich am Ende in eine neue Abhängigkeit begeben. Für Helden­geschichten aus heiligen Schriften lässt die kolonialistische Epoche keinen Platz.

«Afterlives»

Was in «Paradise» eher die historische Hintergrund­folie des Geschehens bildet, tritt in Gurnahs neuestem Roman in all seiner Abgründigkeit in den Fokus: die Verbrechen des deutschen und britischen Kolonialismus in Ostafrika.

«Afterlives», 2020 erschienen, knüpft genau dort an, wo «Paradise» endet. Und ist vielleicht Gurnahs dringlichster Text.

Khalifa was twenty-six years old when he met the merchant Amur Biashara.

(Khalifa war 26 Jahre alt, als er dem Kaufmann Amur Biashara begegnete.)

Aus: «Afterlives» von Abdulrazak Gurnah, deutsche Übersetzung hier und im Folgenden: D. G.

Es ist ein typisches Gurnah-Setting, schon mit dem ersten Satz. Der wie beiläufig eine leichte Spannung aufbaut, vielleicht sogar schon die Anzeichen eines Verhängnisses enthält. Virtuos und mit feiner Ironie skizziert Gurnah von dort aus ganze Familien­geschichten, die immer auch Migrations- und Netzwerk­geschichten sind. Dazwischen, wie zwangs­läufig in die Handlungs­stränge eingewoben, die realen historischen Ereignisse: Aufstände gegen die deutschen Kolonial­herren und ihre immer weiter gehenden Besitz­ansprüche in Ostafrika. Proteste, die der deutsche Oberst Hermann Wissmann mithilfe seiner soeben gegründeten «Schutz­truppe» mit grösster Brutalität niederschlagen lässt.

Khalifa also begegnet Amur Biashara, den er wegen seiner Geschäfts­praktiken im Stillen bald nur noch den «Piraten» nennen wird. (Am Beginn ihrer Bekanntschaft steht allerdings eine kleine Bestechung, der gegenüber sich auch Khalifa sehr offen zeigt.) Ausserdem begegnet er Amurs Nichte Asha, deren Schicksal an das von Yusuf aus «Paradise» erinnert. Ihr Vater war finanziell von Amur abhängig geworden. Nun, nach dem Tod des Vaters, gehört dem Onkel nicht nur das Haus, das Ashas Erbe hätte werden sollen. Sondern gewisser­massen auch Asha selbst, weil Amur als ältestes männliches Familien­mitglied über ihr Leben bestimmt.

Der Mensch als Ware mit Handels- und Tausch­wert: Das ist auch in «Afterlives» eines der zentralen Themen. Gurnah leuchtet es in all seinen Varianten aus: Sklaverei, Päderastie, sexuelle Übergriffe. Aber auch patriarchale Gesellschafts­strukturen und soziale Normen, mit deren Hilfe über Frauen nach Belieben verfügt wird.

Und dann wieder die Verschränkung von «kleiner» und «grosser» Geschichte:

It was early 1907 when Khalifa and Asha married. The Maji Maji uprising was in the final throes of its brutalities, suppressed at a great cost in African lives and livelihoods.

Khalifa und Asha also heiraten 1907 während des Maji-Maji-Krieges, als die deutsche Kolonial­macht den Aufstand der ostafrikanischen Bevölkerung mit grösst­möglicher Gewalt niederschlägt.

Khalifa und Asha sind allerdings nur zwei von einem halben Dutzend Haupt- und etlichen Neben­figuren. Gurnah meidet die Zentral­perspektive; die Vielstimmigkeit, die seine Prosa grundsätzlich prägt, ist in «Afterlives» auch ganz in die Plotstruktur übergegangen.

Und so rückt bald Hamza in den Fokus, wie eine Wiederkehr des Yusuf, der sich in «Paradise» am Ende einer deutschen Kolonne anschliesst. Hamza ist einer der sogenannten Askaris: afrikanische Soldaten, die in der «Schutz­truppe» für die deutsche Kolonial­macht, also auch gegen eigene Landsleute, kämpfen mussten und während des Ersten Weltkriegs den deutschen Kampf gegen die konkurrierende Kolonial­macht der Briten auszufechten hatten (Gurnahs Grossvater war einer von ihnen). Dass «Askari» zugleich die Bezeichnung für den niedrigsten Dienstgrad war, ist sprechend genug.

Gurnah erzählt nüchtern und in aller Klarheit von historischen Ereignissen, die in der breiten deutschen Öffentlichkeit bis heute kaum bekannt sind.

Er erzählt vom gnadenlosen Regime der «Schutz­truppe», in der die Askaris auch für die Bestrafung ihrer Kameraden zuständig sind. Vom Überlegenheits­denken und vom unverhohlenen Rassismus der deutschen «Zivilisierungs­mission» (Begriffe wie dieser stehen auch im englischen Original auf Deutsch). Davon, wie die Diskriminierung der sogenannten «Wilden» noch als eine Art Entwicklungs­hilfe verkauft wurde. Oder wie man selbst die Idee von Alphabetisierung und Bildung pervertierte und zur Indoktrinierung der afrikanischen Bevölkerung nutzte. Und Gurnah führt vor Augen, wie der Kolonialismus auch in Form familiärer Traumata fortlebt.

Für all das kommt er mit den ganz klassischen Mitteln des Erzählens aus. Seine Prosa steht in der Tradition des realistischen Romans, seine wichtigsten Techniken sind das erzählerische Präteritum, die souveräne Zusammen­führung unterschiedlichster Handlungs­stränge, der ausgiebige Einsatz von Figuren­rede, die sich immer wieder zu ausgreifenden Binnen­erzählungen steigert. Vielstimmigkeit, Mehr­sprachigkeit und Perspektiven­vielfalt sind hier keine avantgardistischen Erzähl­techniken, sondern Abbild einer komplexen, von Wider­sprüchen durchzogenen Welt.

Gurnahs Erzählkunst braucht keine sprach­artistischen Verstärker. Ihre Kraft kommt ganz aus dem Realitäts­gehalt seiner Geschichten, der souveränen Beherrschung aller dramaturgischen Finessen und der psychologischen Fein­sensorik in der Figuren­zeichnung.

Man sollte sich von der formalen Unauffälligkeit dieser Prosa nur nicht darüber hinweg­täuschen lassen, wie genau sie in den Details gearbeitet ist. Gurnahs Grundton ist melancholisch, kann aber jederzeit ins Lakonische kippen oder mit aufklärerischer Ironie einen Stachel setzen.

Mit Blick auf Ashas verhindertes Erbe etwa heisst es:

The house was the property Asha Fuadi inherited, only she did not inherit it.

(Das Haus war der Grundbesitz, den Asha Fuadi geerbt hatte, nur dass sie nicht zur Erbin wurde.)

Oder zum inoffiziellen Geld­verleih der arabischen und indischen Händler:

The old merchants’ business dealings depended on trust but that did not mean they trusted each other.

(Die Geschäfte der alten Kaufleute liefen auf Vertrauens­basis, aber das bedeutete nicht, dass sie einander über den Weg trauten.)

Schliesslich kann man bei Gurnah auch studieren, mit welcher Süffisanz sich das Wörtchen «und» einsetzen lässt. Etwa wenn vom frühen einheimischen Widerstand gegen den deutschen Herrschafts­anspruch in Ostafrika die Rede ist und der Erzähler fortfährt: «Die Deutschen und die Briten und die Franzosen und die Belgier und die Portugiesen und die Italiener und wer auch immer sonst hatten bereits ihren Kongress abgehalten, ihre Land­karten gezeichnet und ihre Verträge unterschrieben, so dass dieser Widerstand nicht gross ins Gewicht fiel.»

Es ist also gerade im alten Europa an der Zeit, Abdulrazak Gurnah zu lesen. Womöglich stellt sich heraus: Die Geschichte, von der er erzählt, ist unsere eigene.

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