Laute, Leute, Beute – oder: Wie übersetzt man Poesie?

Die US-amerikanische Lyrikerin Louise Glück erhält den Literaturnobelpreis 2020. Ihre Übersetzerin Ulrike Draesner erklärt, wie sie deren Texte ins Deutsche bringt: Übersetzen heisst verlieren – und daran wieder anbauen.

Von Ulrike Draesner (Text) und Benedikt Rugar (Illustration), 17.11.2020

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Einige Gedichte in Louise Glücks Band «Wilde Iris» tragen den Titel «Metten». Verstehen Sie dieses Wort? Metten ist der Plural von Mette. Eine Christmette ohne Christ.

Auf Englisch nennt man die Mette matin. Darin ist der Morgen leichter mitzuhören als in dem deutsch-lateinischen Wort, dem er ebenfalls zugrunde liegt. Gefeiert wird die Matutin, auch Nacht­offizium genannt, zwischen Mitternacht und dem frühen Morgen. Matutina war das lateinische Wort für die frühe Morgenstunde.

Bei uns nimmt das Sprachdenken anhand des Wortes einen andern Weg. Metten lässt auch «Matten» anklingen. Eine steile Wiese. Oder ein Gewebe. An Mette, den Frauen­namen, mag man ebenfalls denken. Seine Bedeutung: die Starke, die mächtige Kämpferin. Das ist ganz anders als die matutina-Bedeutung. Und doch, auf einer unter­gründigen Ebene, für Louise Glücks Gedichte als Übersetzung nicht unpassend, denn von der Frage nach Macht zwischen Männern und Frauen (und Menschen überhaupt) handeln ihre Gedichte häufig.

So sind wir mitten in Fragen der Übersetzung. Obwohl das Wort «Metten» für viele heutige Ohren ungewohnt ist, entschied ich mich am Ende dafür, es als Titel zu verwenden. Dem Original treu. Es ist semantisch richtig – hier bot sich kein Spielraum: ein Fachbegriff der Liturgie, dessen Verbindung zur Morgen­stunde wichtig ist (und im Deutschen in der Wortgeschichte mitenthalten bleibt). Auch im Englisch wird der eine oder andere Lesende stolpern und sich kurz fragen, ob in dem Wort nicht ein R vergessen wurde (für «Martin»).

Die Befremdung klärt sich im Lauf der Gedicht­lektüre rasch. Man erkennt, dass der Band aus verschiedenen Arten von Gedichten und Gebeten aufgebaut ist: Es sprechen Blumen – zu uns oder zu einer Gottheit. Es sprechen wir, zu dieser Gottheit. Und es spricht diese Gottheit zu uns – entweder unmittelbar oder durch Veränderungen des Wetters. Den Morgen­gebeten folgt, nach dem Mittsommer, die Zeit der Abendgebete.

Glanz und Elend des Übersetzens: Schon sind sie sichtbar geworden.

Auf die Frage, ob sich Gedichte übersetzen lassen, gibt es nur eine Antwort: ein beherztes Nein. Gefolgt von einer Atempause. Und einem Ja, ebenso beherzt, begleitet von einem Aber. Man beginnt immer mit Verlusten. Die Morgen­stunde wird undeutlich. Dafür tritt eine Matte hervor – und man fragt sich, was man mit ihr anfangen möchte.

Damit ist einem ein Faden in die Hand gegeben. Matten, Gewebe, Text: Die Untertöne des deutschen Worts bieten ein Bedeutungs­feld an, auf das sich im Lauf der weiteren Arbeit vielleicht (hoffentlich) zurück­kommen lässt.

Übersetzen heisst verlieren – und daran wieder anbauen.

Zur Autorin

Ulrike Draesner lebt als Schrift­stellerin, Über­setzerin und Hochschul­dozentin in Berlin und Leipzig. Für ihre Romane und Gedichte wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Gertrud-Kolmar-Preis (2019) und dem Solothurner Literaturpreis (2010). Seit 2018 ist sie Professorin am Deutschen Literatur­institut in Leipzig. Von Louise Glück hat sie die Gedicht­bände «Averno» und «Wilde Iris» übersetzt. Sie sind 2007 und 2008 zweisprachig bei Luchterhand erschienen.

Ein übersetztes Gedicht wird von mehreren Schatten­gestalten begleitet. Dem Resonanz­raum in der Sprache, in die es übertragen wurde. Den anderen Wörtern, Satzbildungen, rhythmischen Verschiebungen, die möglich gewesen wären.

Gefüttert wird das übersetzte Gedicht aus dem Schatten des Originals: nicht aus dem Ausgangs­text selbst, sondern aus der Art und Weise, wie die Über­setzerin das Gedicht aufnimmt, interpretiert, wendet, abklopft, streckt.

Zurück zu Louise Glück: Das Kommen des Morgens bedeutet die Wiederkehr des Lichts. In der Mette klingt das Lied an, wir hören Stimmen. Gesangs­formen also möchten die Gedichte in «Wilde Iris» sein. Es sprechen Menschen­stimmen, es sprechen Pflanzen. Sie beten? Sie suchen. Die Blumen sprechen unter den Namen, die wir ihnen gegeben haben: Schneeglöckchen, Taubnessel, Klee. Die Menschen sprechen zu einem «Vater» und versuchen, alttestamentarische Bilder (Garten) und Schöpfungs­erzählungen nachzuvollziehen.

So entsteht ein Wechselgesang, der den gesamten Band durchzieht. Seine Wirkung ist erstaunlich: Das Sprechen der Pflanzen und jenes der Menschen schmelzen aufeinander zu.

Beginnen sich auch die Macht­verhältnisse umzukehren? Wer überlebt wen? Wo oder was ist der Unterschied zwischen Pflanze und Homo sapiens?

Im Zuge der Diskussion um das Anthropozän, die menschen­gemachte Zeit, in der die Zerstörungen des Klimas und unserer Mitwelt hervor­treten und die Ängste des Endes nach uns greifen, gewinnen Louise Glücks Gedichte eine neue Prägnanz: Sie sprechen von der Mitwelt, von geschöpfter Welt, von Gefahr, Verletzung und Schmerzen. Es sind Gedichte, die Fragen des Endens im Licht des Anfangens verhandeln.

Glücks Pflanzengedichte entstanden in den Achtziger­jahren. Ich meine, dass Glück mir schrieb, schon in den Siebziger­jahren an ihnen gesessen zu sein. Ich suchte eine bestimmte, im Gedicht­band benannte Blume, konnte sie aber im gesamten Netz nicht finden. Glück meinte, sie sei sich sicher, ebendiese Art von Lilie viele Jahre vor Entstehung des Gedichts als Angebot in einem Pflanzen­katalog gesehen zu haben.

Beim Übersetzen half mir dieser Hinweis nicht, doch den Vorgang kannte ich. Gedichte sind nicht nur Gewebe, in der Regel stammen sie auch aus Geweben: einer Matte von Gedanken und Wörtern. Oft haben sie einen langen inneren Vorlauf.

Heute lautet eine brennende Frage, wie wir ein anderes Verhältnis zum «Natürlichen» entwickeln können – ein Verhältnis, das Fauna und Flora nicht als dinghaftes Gegenüber, sondern als Mit-Wesen begreift. In Louise Glücks Blumen­gedichten ist ein derartiges Verständnis schon früh ausgesprochen: Die Pflanzen erhalten einen eigenen Ton, eine Stimme. Ebenso der Schnee, der Winter, die Zeit. Sie sprechen mit uns – wir hören sie nicht, ausser im Raum des Gedichts.

Glück macht sich hier die Eigenheiten der Poesie auf leise, aber effektive Weise zunutze. Anders als die Prosa muss die Dichtung nur eine Stimme erklingen lassen, sie braucht keine auserzählte Figur mit spezifischem Körper und besonderer Geschichte. In Gedichten kann Gras sprechen, ohne dass wir als Lesende den Eindruck haben, in ein Sci-Fi-Universum zu geraten.

Louise Glücks Gedichte treten in gedankliche Auseinander­setzung mit religiösen und philosophischen Fragen. Literarische Anspielungen durchziehen die Texte. Der Gedicht­band «Averno» führt uns in eine dichte Welt unter der Welt. Antike Mythen werden umerzählt – insbesondere hinsichtlich ihrer althergebrachten Geschlechterrollen.

In der traditionellen westlichen Kultur führen gemeinhin männliche Dichter männliche Helden ins Reich der Toten: Homer schickt Odysseus in die Tiefe, Vergil begleitet Dante. Glück schreibt diese Geschichte, als wäre es unter der Hand eine Geschichte der Frauen. Persephone, die Tochter der Demeter (Erde), wird von Hades «begehrt». Glücks Verse nennen es beim Namen. Sie wird vergewaltigt. Ihre Mutter trauert um sie und handelt aus, dass die Tochter im Sommer zur Erde zurück­kehren kann. Zieht sie in die Unterwelt, schneit es bei uns. Louise Glück nennt Persephone «die Wandernde». Sie fragt danach, wo auf dieser Erde wir zu Hause sein können. Sie zeigt uns, wie der Mythos als Mutter-Tochter-Geschichte, nein, als eine Geschichte zwischen der Mutter und Hades, dem alten, begehrenden Gott der Unterwelt, gelesen werden kann.

Zurück zum Übersetzen.

Übersetzung heisst auch: Mischung. Mischung der Gestalten, der Handlungs­mächtigkeiten (wer ist Muse, wer Dichterin), Verschiebung der Sprachen. Eine Übersetzung ist ein Hybrid.

Orpheus mit Umkehr(ung)

Eines meiner liebsten Gedichte von Louise Glück heisst «Lute Song». Erschienen ist es in dem 1999 veröffentlichten Gedicht­band «Vita Nova», und seine Anfangs­verse lauten so:

Lute Song

No one wants to be the muse;
in the end, everyone wants to be Orpheus.

Valiantly reconstructed
(out of terror and pain)
and then overwhelmingly beautiful;

restoring, ultimately,
not Eurydice, the lamented one,
but the ardent
spirit of Orpheus (…)

Der Titel ist wörtlich und leicht übersetzt als Lautenlied. Oder wenn einem das nicht gefällt: «Lied der Laute». «Lied der Laute» klingt auch im Deutschen gut. Der erste Schritt, kleine Erleichterung.

Das Gedicht handelt von einem weiteren Abstieg in die Totenwelt. Der Mythos um den sagenhaften Dichter Orpheus wird nicht erzählt, sondern voraus­gesetzt. Eurydike, Orpheus’ Geliebte, ist verstorben. Mit seinen Liedern rührt der Dichter jedes lebende Wesen. Sogar den Herrscher der Unter­welt vermag er zu erweichen. Orpheus darf Eurydike wieder mit sich an die Oberwelt führen, wenn er sich auf dem Weg nicht nach ihr umsieht.

Als Kind fand ich es seltsam, dass er diesem einfachen Gebot nicht folgen kann.

Glücks «Lute Song» gefällt mir unter anderem, weil er – wie öfters bei Glück – unsere Vorstellungen von Gender unterläuft. Orpheus ist nur scheinbar sein Protagonist. Hat der beste aller Dichter mit Eurydike die Geliebte oder mehr doch die Muse verloren? Ist die Muse aktiv oder passiv?

Das Gedicht, ich sitze an der Übersetzung, interpretiert den Mythos von heute aus gesehen. Sein Ziel ist die Frage, ob wir lieber erinnert werden wollen – oder darauf pfeifen, wenn es darum geht, zu überleben.

Glanz und Elend des Übersetzens. Sehen Sie selbst. Die ersten Verse lauten:

No one wants to be the muse;
in the end, everyone wants to be Orpheus.

Roh übersetzt:

Niemand/Keiner/Keine will die Muse sein;
am Ende/schliesslich/langfristig will jeder/jede Orpheus sein.

Wenn das nicht hässlich klingt.

Im Englischen stehen die Wörter «muse» und «Orpheus» am Ende der beiden ersten Verse. Beide enden mit den Buchstaben u, s und e, jedoch in variierter Reihenfolge. Von fern erinnert das optisch noch an den klassischen Reim, auch wenn die Aussprache schon nicht mehr zu einem Echo führt. Beim Übersetzen ins Deutsche kann ich beide Wörter identisch übernehmen, aber sie ähnlich effektvoll ans Ende zu stellen – da will die Syntax nicht mitspielen.

Dies bleibt, abgesehen von der Genderfrage, die mit «niemand» wunderbar zu lösen ist, bei «jeder/jede» aber wiederkehrt (es spricht eine Dichterin), leider nicht das einzige Problem. Der Fortgang der Verse zeigt, dass das Gedicht von uns handelt: von unseren Liebes­erfahrungen, unseren Entscheidungen. «Uns» heisst auf Englisch bekanntlich us. Die Übersetzerin stöhnt, als ihr das klar wird. Beide Wörter, «muse» und «Orpheus», enthalten dieses us. Man hört es nicht, doch das Auge nimmt es wahr, stumm spricht es also schon in der Beziehungs­geschichte mit.

Im Bett hatte ich eine Idee: Ich würde das Gedicht «Laute – Leute – Beute (Lied)» nennen.

Ich höre die Kritik daran schon. Wie kommt sie denn darauf?

Nun, die «Leute» stammen aus dem versteckten «us». Und die Beute? Entschuldigung, ich vergass zu erwähnen, dass «lute» ausgesprochen wird wie das englische Wort loot (Beute). Und dass es auch lewd (obszön) mit anklingen lässt – was ich wiederum damit im Deutschen anstelle? Darüber muss ich noch nachdenken. Und die Rhythmen erst …

Sie verstehen, warum der Artikel hier abrupt endet. Ich tauche wieder ab in die Welt der Verschiebungen, der Interpretation, des Sprachen­reichtums. Wünschen Sie mir Glück.

Zum Salon der Republik

Im nächsten «Salon der Republik» am 24. November sprechen wir unter anderem über die Lyrik von Louise Glück. Alles zur Veranstaltung finden Sie hier.

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