Covid-19-Uhr-Newsletter

Wie reizend

29.11.2021

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Liebe Leserinnen und Leser – and everyone beyond

Nur ein einziges Land konnte bisher direkt­demokratisch über die eigenen Covid-Bekämpfungs­massnahmen entscheiden: die Schweiz. Und das gestern gleich zum zweiten Mal.

Das ist zweifellos ein Privileg. Nur – wie überraschend viele Privilegien – ein nicht nur angenehmes. Der Abstimmungs­kampf war ein Höhepunkt der allgemeinen Gereiztheit: Ein kleiner Teil versteifte sich sogar darauf, eigentlich in einer Diktatur zu leben. Und entsprechend eskalierten die Behauptungen, Vorwürfe, Demonstrationen und Drohungen.

Es war weniger eine Debatte als Dynamit: Freundschaften und Familien zerbrachen.

Das Ergebnis gestern war dann paradoxer­weise Stabilität. Die Abstimmung ging praktisch gleich aus wie die davor: 62 Prozent Ja, 38 Prozent Nein. Trotz der Lautstärke der Gegner, darunter die grösste Partei des Landes, fand die offizielle Politik sogar noch einen Hauch mehr Unter­stützung als im Juni.

Verblüffenderweise stieg der Ja-Anteil vor allem dort, wo die Werbung der Zertifikats­gegner am flächen­deckendsten war – ihre Argumente mobilisierten offensichtlich auch überzeugend gegen die eigene Position.

Doch letztlich spielten Argumente und Aufregung kaum eine Rolle. Das Ja-Nein-Verhältnis spiegelte längst gefallene persönliche Entscheidungen – das Ergebnis von Region zu Region folgte fast eins zu eins der Statistik, wie viele Einwohnerinnen geimpft waren oder nicht.

Kurz: die Stabilität von zwei Schützen­gräben.

Kein Wunder, machte die Verlierer­seite nach der Abstimmung kaum Konzessionen: Sie sprachen von Unfairness, einige sogar von Betrug und alle von der Fortsetzung des Kampfes.

Das hat eine gewisse Logik: Denn harte Polarisierung (etwa Diktatur vs. Widerstand) ist keine kluge Strategie, um politische Mehrheiten zu gewinnen.

Aber sie ist das perfekte Marketing, wenn man entschlossene Anhänger will.

Ein schönes Anschauungs­beispiel dafür ist der Cybertruck von Tesla (hier ein Bild davon in all seiner eckigen silbernen Pracht). Dieser gleicht weniger einem Fahrzeug als einer fahrenden Festung. Was viele Kunden absurd oder abstossend finden, aber andere gerade deshalb hellauf begeistert: ein Auto, um es all den sensiblen Weich­bechern zu zeigen.

Denn allgemeines, aber lauwarmes Wohlwollen verkauft weder Autos noch Überzeugungen. Lieber wenige überzeugen, diese dann aber so richtig.

Spaltung ist in der Politik kein Mehrheits­beschaffer, sondern ein Geschäfts­modell. Kein Wunder, sagte etwa Josef Ender vom Nein-Komitee zur Frage, ob er die Niederlage eingestehe: Man habe zwar die Abstimmung verloren, aber viele Mitglieder gewonnen.

Das heisst: Mit der Abstimmung ist nicht viel entschieden worden. Weil das politische Geschäft weiterrollt. Kühn, aber konsequent forderte Michael Bubenberg von den «Freunden der Verfassung» zum Ende des Abstimmungs­kampfes den Aufbau einer «Parallel­gesellschaft».

Immerhin brachte der Abstimmungs­sonntag in einer Frage Klarheit: Als die National­rätin Jacqueline Badran Josef Ender vorwarf: «Sie haben keine Eier!», weil er nicht dazu stehe, in Wahrheit «für eine Durchseuchungs­strategie zu sein».

Worauf Herr Ender dann genau dies zugab: Man sei für den Schutz der Risiko­gruppen. Und beim Rest für «natürliche Immunisierung». (Den vollen Dialog finden Sie hier, ab Minute 13:50.)

Was bis auf den Halbsatz zu den Risiko­gruppen ehrlich war: Denn ohne allgemeine Massnahmen wären Alters­heime oder Spitäler nur dann sicher, wenn man sämtliche Eingänge zumauern würde.

Das heisst, die Alternativen sind tatsächlich unangenehm klar: Angesichts der mit den neuen Covid-Varianten gestiegenen Ansteckungs­rate bleibt im Kern nur die Wahl zwischen einer Impf- oder einer Durch­seuchungs­strategie.

Im Moment machen wir eher Letzteres. Denn während der Debatte zum Covid-Gesetz folgte das Virus dem einzigen Gesetz, das es kennt: dem mathematischen. Es verbreitete sich exponentiell. Was, falls kein Wunder passiert, uns schon im Dezember nur drei gleicher­massen üble Möglichkeiten offenlässt: 1. Ein neuer Lockdown für alle. 2. Eine allgemeine Impfpflicht mit brutalem Ärger. 3. Die Durchseuchung mit Triage – also der selektiven Behandlung von Patienten nach Überlebens­chancen. (Die ausführliche Auslege­ordnung dazu finden Sie hier.)

Das sind keine weihnachtlichen Aussichten. Man kann nur froh sein, nicht Pfleger oder Ärztin zu sein – oder im Bundesrat zu sitzen.

Vielleicht eine kleine Chance im Üblen ist das Phänomen, dass in der Pandemie bisher der Widerstand gegen entschlossene Massnahmen umso härter war, je weicher die Einschränkungen waren. Paradoxer­weise führte in der Schweiz wie anderswo nicht das Übermass, sondern der Mangel an Führung zu immer härteren Diktatur­vorwürfen.

Das ist kein Wunder, denn das Problem bei Massnahmen­gegnern ist keinesfalls mangelnde Intelligenz. Sondern mangelndes Vertrauen. Denn die Antwort auf die Frage, ob Impfung wichtig ist oder nicht, ist letztlich eine Frage der Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten: Ist der mögliche Schaden durch eine neue Impfung grösser oder durch eine neue Krankheit?

Eine vernünftige Abwägung lässt sich nur dann wirklich treffen, wenn man den offiziellen Daten und den dahinter­liegenden Institutionen vertraut. Tut man das nicht, ist man aufgeschmissen – egal wie klug man ist.

Was heisst, dass eine Anbiederungs­strategie fehlschlägt. Die oft schwankende, beschwichtigend gemeinte Kommunikation von Bundesrat und BAG, das traditionell wirre Meinungs­spektrum in Kantonen und Parteien – kurz: die üblichen Instrumente der Schweizer Politik –, dies alles wirkte diesmal alles andere als integrierend. Weil Taktieren in einer Pandemie keine Strategie ist. Weil in Notlagen Zögern und Konzessionen nicht zur Besänftigung, sondern zur Befeuerung von Zweifeln führen.

Was auch heisst: dass die Schützen­gräben nicht auf ewig zementiert bleiben müssen. Bei entschlossenem Handeln – etwa einer allgemeinen Impfpflicht – würde der Widerstand wohl schnell an Breite verlieren. (Allerdings auch an Radikalität zunehmen.)

Aber selbst wenn die Politik nun entschlossen handeln würde, wären die Aussichten zwielichtig. Auf einen unerfreulichen, wirren Abstimmungs­kampf im November wird – falls nicht alles täuscht – ein noch unerfreulicherer, wirrerer Dezember folgen.

Und auch dieser Newsletter hier wird an seine Grenzen stossen. Traditionell verabschieden wir uns ja mit «Bleiben Sie freundlich. Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie gesund» – also mit einer individuellen Botschaft.

Nur, wie sich immer deutlicher zeigt, ist eine Pandemie keine individuelle Sache. Auch keine medizinische. Oder eine logistische. Sondern eine gesellschaftliche. Gegenüber einem Virus, das keine Argumente und keine Einzel­personen kennt, zählt unter dem Strich das gemeinsame Handeln.

Was Sie jetzt machen können?

Wir können uns nur wiederholen. Vor einigen Wochen brachten wir den Witz von dem Bauern, der Masern hat und den Landarzt fragt, was er nun tun solle. Worauf der Arzt antwortet: «Seien Sie glücklich. Denn wenn Sie nicht glücklich sind, werden Sie auch Masern haben.»

(Was übersetzt doch wieder heisst: Bleiben Sie freundlich. Bleiben Sie gelassen. Bleiben Sie gesund.)

Was Sie diese Woche wissen sollten

  • Kommen Corona-Massnahmen für die ganze Schweiz? Bundesrat Alain Berset hat letzte Woche erneut die Kantone aufgefordert, neue Massnahmen zu ergreifen. Der Wert der Infektionen pro 100’000 Einwohnerinnen ist in den letzten Wochen enorm angestiegen und wächst wieder exponentiell. Derzeit sind die Intensiv­stationen zu 80 Prozent ausgelastet. Diverse Kantone – etwa Genf und St. Gallen – haben reagiert und die Masken­pflicht in Innen­räumen ausgeweitet. Trotzdem verlangte die Konferenz der kantonalen Gesundheits­direktorinnen und -direktoren letzte Woche ihrerseits Massnahmen vom Bundesrat. Morgen Dienstag trifft sich der Bundesrat zu einer ausser­ordentlichen Sitzung. Wie es der Name schon sagt: Das ist sehr ausser­ordentlich – kann also sein, dass wir morgen Nachmittag schon sehr viel mehr darüber wissen, wie es weitergehen soll.

  • Das BAG empfiehlt die Auffrischungs­impfung nun auch für Personen ab 16: Bis anhin hat das Amt die dritte Dosis nur für über 65-Jährige und Personen mit schweren Vorerkrankungen empfohlen. Als Grund für die neueste Ausweitung gibt das BAG die steigenden Fallzahlen an. Mit dem Booster solle der Impfschutz verbessert und die Virus­verbreitung abgebremst werden, teilte die Behörde am Freitag mit. Zuvor hatte das Heilmittel­institut Swissmedic den mRNA-Impfstoff von Pfizer/Biontech als Auffrischungs­impfung für alle ab 16 Jahren zugelassen. Auch den Impfstoff von Moderna gaben die Behörden frei – allerdings erst ab 18 Jahren.

Und zum Schluss: Düstere Infektions­lage. Auftritt Omikron

Harry Potter und die Verzögerung von Omikron. Omikron vs. Predator. Avengers: Age of Omikron. Omikron – dieser Name klingt nach einem Schurken, der uns Böses will.

Die Weltgesundheits­organisation WHO hat im griechischen Alphabet zwei Buchstaben ausgelassen, um die neue Variante B.1.1.529, die sie seit Freitag als «besorgniserregend» einstuft, zu benennen. (Ny war phonetisch zu nahe an new, Xi identisch mit einem gebräuchlichen chinesischen Nachnamen.)

Am Mittwoch war die WHO gewarnt worden: Forschende in Südafrika haben die Variante mit den besonders vielen mutmasslich ungünstigen Mutationen entdeckt. Dort nahmen gleichzeitig auch die Infektionen rasch zu. Mittlerweile konnte Omikron in vielen, auch europäischen Ländern nachgewiesen werden. Einen Verdachtsfall gibt es auch in der Schweiz. Diese Warnung kommt, anders als damals bei Alpha oder Delta, sehr früh. Das verschafft dem Rest der Welt etwas Vorsprung.

Was kann Omikron, was Delta nicht kann? Vieles ist noch unbekannt, denn was die im Labor gesichteten Mutationen in Kombination miteinander und in freier Wildbahn anstellen, weiss man noch nicht genau. Es gibt (schon) Grund zur Sorge, aber (noch) nicht zur Panik:

Vermutlich ist Omikron immun­evasiver als Delta, führt also bei schon immunisierten Menschen vermehrt zu Reinfektionen. In Südafrika leben viele Genesene (aber eher wenig Geimpfte). Was mit grosser Wahrscheinlichkeit gilt, sagte der Virologe Christian Drosten im ZDF: dass die Variante dennoch nicht mehr schwere Verläufe verursachen wird. Denn unser durch Impfung oder Infektion trainiertes Immun­system kann mehr als kurzlebige Antikörper produzieren (die dem Virus den Eingang in unsere Zellen versperren und die Infektion verhindern): Die zelluläre Immun­antwort wehrt sich mit anderen Mitteln gegen virus­befallene Zellen. Wie sie mit Omikron klarkommt? Wir werden es herausfinden – in ein paar Wochen. (Pfizer/Biontech und Moderna kündigten schon an, falls nötig ihre Impfstoffe für Omikron-Booster anzupassen.)

Vielleicht ist Omikron ansteckender, vielleicht nicht. Es hat zwar Mutationen, die ihm das Anbinden an die menschlichen Zellen erleichtern könnten. Wie sich das im echten Leben auf seine Übertragbarkeit auswirkt, ist aber unklar. Beta zum Beispiel, eine immunevasive Variante, die ebenfalls von südafrikanischen Forschenden entdeckt wurde, konnte sich in diesem echten Leben nicht besonders gut durchsetzen. Und in Südafrika gab es gerade eine Art Vakuum: Delta zirkulierte bedeutend weniger stark als in Europa. Wie sich die Variante in einem Delta-dominierten Land mit angespannter epidemiologischer Lage verhalten wird, wissen wir schlicht noch nicht. Omikron könnte Delta verdrängen oder aber keine Chance haben. Wir werden es herausfinden, in Tagen bis Wochen.

Vielleicht macht Omikron weniger krank, vielleicht kränker. Die zunehmende Zahl der Spital­eintritte in Südafrika könnte auch lediglich an den zunehmenden Fallzahlen liegen. Und die milden Verläufe, die bei vielen frühen Omikron-Fällen beobachtet wurden, könnten auf das Alter der Infizierten – es sind viele Studierende dabei – zurück­zuführen sein. Wir werden es herausfinden.

Wir brauchen also mehr Wissen, um zu wissen, wie fest wir uns sorgen müssen: «Den Schweregrad der Omikron-Variante zu verstehen, wird Tage bis mehrere Wochen dauern», schreibt die WHO. Die frühe Warnung südafrikanischer Forschenden verschafft der Welt einen Vorsprung, den es zu nutzen gilt: in der Forschung wie beim Verschärfen von bewährten Massnahmen wie Testing, Contact-Tracing, Einreise­quarantänen. Bis wir mehr wissen, ist es hilfreich, auf Prävention zu setzen. Für den Fall, dass nomen tatsächlich omen ist.

Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Elia Blülle, Oliver Fuchs, Marie-José Kolly und Constantin Seibt

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

Ein PS über PS: Wussten Sie, dass wir in der Geschichte dieses Newsletters einmal ein PPPPPPPS hatten – also mit sieben P? Oder dass es keinen statistisch signifikanten Zusammen­hang zwischen der Anzahl PS im Newsletter und den aktuellen Fallzahlen gibt? Wir auch nicht. Aber jetzt wissen wir es – und finden es grossartig, merci, Peter Gassner!

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