Binswanger

Unwillensnation

Die epidemiologische Lage verdüstert sich. Die Schweizer Politik ist beschäftigt mit Staatsebenen-Gerangel. Verstehen Sie das?

Von Daniel Binswanger, 27.11.2021

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Letzte Woche wurde an dieser Stelle versucht, die Schweizer Covid-Politik zu rekonstruieren im Rückgang auf strukturelle Gegebenheiten. Nicht im Rückgang auf Personen und auch nicht auf die immer möglichen Fehler und Pannen, sondern mit Bezug auf die grund­legenden Mechanismen und Werte­präferenzen, die das Feld der Handlungs­optionen nun einmal abstecken. Sie haben uns wiederholt zu harscher Kritik angestachelt über die letzten gut anderthalb Jahre, legen letztlich aber fest, was in diesem Land nun einmal gewollt wird: wenig Massnahmen, viele Intensiv­patienten.

Doch nicht nur die epidemiologische Lage hat sich während der letzten Wochen verschärft. Auch die Lesbarkeit des politischen Geschehens verschlechtert sich momentan rapide. Diesen Samstag kann die Kolumne eigentlich nur noch mit einem Hilferuf beginnen: Ist da draussen noch jemand, der eine Rationalitäts­unterstellung zusammen­zimmern kann für das aktuelle Regierungs­handeln? Hat jemand noch ein paar Vorschläge übrig – wir nehmen gerne auch die etwas abgefahrenen –, weshalb das alles irgendwie Sinn ergeben soll?

Brauchbare Erklärungs­ansätze bitte in den Kommentaren deponieren, es wäre uns allen sehr gedient! Ich bin vermutlich nicht der Einzige, der gerade das Gefühl hat, am Ende seines Lateins zu sein.

Dabei geht es nicht einmal so sehr um die epidemiologische Lage per se. Sicherlich: Sie sieht verdammt düster aus. Die Republik hat gestern eine kurze Standortbestimmung veröffentlicht, der es nichts hinzuzufügen gibt. Wir bewegen uns momentan auf die Alternative zwischen Shut­down, Impf­zwang oder Triage zu, vielleicht auch auf eine Kombination. Keine dieser drei Not­strategien, die auf die Fest­tage hin unumgänglich zu werden drohen, bietet Aussichten, die besonders weihnachtlich zu nennen wären.

Ein neuerlicher harter Shut­down dürfte vielen Bürgerinnen als schlimmst­mögliches Szenario gelten und würde noch viel belastender durch die Tatsache, dass er de facto der Mehrheit der Geimpften von der Minderheit der Impf­verweigerer aufgezwungen würde. Ein Impf­obligatorium wirft explosive rechtliche und ethische Fragen auf und dürfte extreme Widerstands­reaktionen provozieren. Die Triage schliesslich ist per se eine Zwangs­situation, die unbedingt vermieden werden sollte, und dürfte unter aktuellen Bedingungen in unerträgliche moralische Dilemmata führen: Muss man geimpfte Bürgerinnen mit schlechter Lebens­erwartung sterben lassen, um Ungeimpfte mit besserer Prognose retten zu können? Sollen die Täter bevorzugt werden?

Keiner Politikerin dieser Welt wird man wünschen, mit solchen Fragen konfrontiert zu werden – und wir sind bereits in einer Situation, in der wir nicht mehr beeinflussen können, ob, sondern nur noch mit welcher Heftigkeit sie sich stellen werden. Aber siehe da: Die Schweizer Politik unternimmt bis anhin herzlich wenig, um zu vermeiden, dass genau diese Notlage uns auf Weihnachten hin mit voller Wucht überwältigen wird.

Die Bedrohung ist akut: Es muss jetzt auf die Bremse gegangen und die Dynamik der Fall­zunahmen wenigstens so weit als noch möglich gebrochen werden. Heute geht das noch mit sanfteren Mitteln, als wenn die Lage bereits vollständig ausser Kontrolle geraten ist. Die Reserven der Spital­kapazitäten dürften bei gleich­bleibender Entwicklung in etwa 3 bis 5 Wochen an ihre Grenzen stossen. Und was wird jetzt getan? Praktisch nichts.

Sicherlich: Man kann den Zeitungen entnehmen, dass wieder einmal das föderale Kompetenz­gerangel zwischen Kantonen und Bund die Ursache der allgemeinen Paralyse ist. Der Bundesrat will die Kantons­regierungen in die Pflicht nehmen, die Kantons­regierungen warten auf Bundes­verordnungen. Beide Seiten scheinen im Wesentlichen dieselben Massnahmen anzustreben – verschärfte Masken­pflicht in Innen­räumen, ausgedehnte Homeoffice-Empfehlung, Kapazitäts­beschränkungen für öffentliche Veranstaltungen –, sind jedoch wild dazu entschlossen, die Verantwortung dafür nicht selber zu übernehmen. Inzwischen sind der guten Ordnung halber die gegen­sätzlichen Stand­punkte auch brieflich übermittelt worden.

Der Bund argumentiert damit, dass es grosse regionale Unterschiede gibt und dass es deshalb der jeweils zuständigen Kantons­regierung unterliegen muss, die für eine bestimmte Region als angemessen betrachteten Massnahmen zu ergreifen. Die Kantone wiederum machen geltend, dass ein «kantonaler Flicken­teppich» weniger gut akzeptiert wird und dass es einfacher ist, Einschränkungen durchzusetzen, wenn sie überall im Land in Kraft treten. Beide Sicht­weisen dürften eine gewisse Berechtigung haben – und beide sind von brüllender Irrelevanz.

Wir wiederholen uns: Die Schweiz muss jetzt die exponentielle Entwicklung von Fallzahlen und Hospitalisierungen stoppen. Das ist, was zählt. Wer die Massnahmen anordnet, sollte unsere aller­letzte Sorge sein.

Da für den Augenblick keine stark einschneidenden Lockdown­massnahmen wie etwa Restaurant­schliessungen diskutiert werden, wäre es im Übrigen gar kein Problem, sämtliche Massnahmen auf dem ganzen Staats­gebiet anzuordnen, also auch in Regionen mit vergleichs­weise niedriger Inzidenz. Im Gegenzug mag man es verständlich finden, dass der Bund die Kantone in die Pflicht nehmen will, nachdem diese sich ständig beklagt haben, die Covid-Politik zu wenig mitgestalten zu können. Aber dass die Kantone nicht durch Aktivismus glänzen, ist weiss Gott keine neue Erfahrung. Bei allem Respekt für die Folklore und die Abgründe der helvetischen Regierungs­praxis: Es ist nicht die Zeit für Klein-Klein.

Sämtliche Empfindlichkeiten und potenziellen Nachteile, die Verantwortungs­trägerinnen aus dem Entscheiden oder Nicht­entscheiden von Eindämmungs­massnahmen heute entstehen könnten, verblassen vor den politischen Verwerfungen, die der Zusammen­bruch oder Beinahe­zusammenbruch des Gesundheits­systems schon sehr bald nach sich ziehen könnte. Auf die Verhinderung dieses Szenarios müssen alle Anstrengungen ausgerichtet sein. Sie müssen die Entscheidungs­trägerinnen jetzt auf Linie bringen. Der Rest ist Zeit­verschwendung.

Es bleibt die quälende Frage, wie wir nach fast zwei Jahren Pandemie in diese Situation hinein­geraten können. Hat unsere Fähigkeit, vorauszublicken, im Lauf der Zeit nicht zu-, sondern abgenommen? Sind die Verantwortungs­träger den Wissenschaftlerinnen der Taskforce gegenüber heute noch misstrauischer, als sie es in früheren Phasen waren? Oder ist das Referendum über das Covid-Gesetz vielleicht doch offener, als die Umfragen behaupten, und lässt sich das Agieren der Politik als taktischer Versuch verstehen, die Angriffs­fläche vor dem Abstimmungs­sonntag so klein wie möglich zu halten? Das alles wären Ansätze, um für die seltsamen Geschehnisse dieser Tage eine rationale Erklärung zu liefern. Aber wie gesagt: Das Problem damit ist, dass keiner richtig plausibel erscheint.

Vielleicht würde es wenigstens ein ganz klein wenig helfen, wenn wir kurzzeitig damit aufhören könnten, uns selber zu beweih­räuchern. Mit atem­beraubendem Sinn für Timing hat zum Beispiel Mitte-Präsident Gerhard Pfister am Mittwoch hymnische Lobgesänge auf die Schweizer Covid-Politik angestimmt: «Die Schweiz hat – bis jetzt – die Pandemie so gut wie kaum eine andere westliche Demokratie bewältigt», erfahren wir in seinem Meinungs­beitrag in der NZZ. Und worin gründet dieses unvermutete Mirakel? Natürlich im helvetischen Föderalismus.

«Die Schweiz», so Pfister, «ist ein geniales, austariertes und höchst modernes System.» Sie sei «ein vielfältiges, vielstimmiges demokratisch-freiheitliches Gesamtkunstwerk». Und falls die Politik manchmal doch etwas irrational wirken sollte: «Das genaue Hinsehen zeigt den Sinn.»

Was geht in diesen Köpfen vor? Wir steuern auf eine Situation zu, die dramatischer zu werden droht als im letzten Dezember. Mit einer Flut von schweren Fällen, hohen Todes­zahlen, einem Gesundheitssystem am Rande des Zusammenbruchs. Wir müssen jetzt handeln, solange sich der Epidemie­verlauf noch mit vergleichs­weise sanften Massnahmen unter Kontrolle bringen lässt.

Wenn es unverzichtbar sein sollte, bleibt für patriotische Gesänge über das «Gesamt­kunstwerk» dann auch im nächsten Jahr noch Zeit.

Illustration: Alex Solman

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