Warum es nicht gelingt, die Polizei zu reformieren

In den USA läuft die Debatte, wie man die Polizei reformieren könnte. Und in der Schweiz? Hier wird das grösste Stadtpolizei-Korps des Landes seit 30 Jahren von Linken regiert. Gute Basis für Reformen also. Doch die Bilanz ist ernüchternd.

Von Benjamin Rothschild, 25.11.2021

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Zwei Polizisten machen sich bereit für ihren Einsatz am Frauenstreiktag im Juni 2021 in Zürich. Anne Gabriel-Jürgens/13 Photo

Im vergangenen zweiten Pandemie-Frühling, als die Stadt­polizei gewaltsam gegen linke Demonstrantinnen vorging, wurde die Frage wieder intensiv diskutiert: Wer hat in Zürich eigentlich das Sagen, wenn es um die Polizei geht? Die gewählten Stadträte oder das Korps? Und macht es einen Unterschied, dass die mit rund 2100 Mitarbeitern grösste Stadt­polizei des Landes schon seit drei Jahr­zehnten in linken Händen ist? Was taugt er eigentlich, der Slogan von Linken, man müsse die Polizei reformieren?

Die Frage stellt sich, seit sich zu Beginn der 1990er-Jahre mit Robert Neukomm ein Sozial­demokrat als Polizei­vorstand um die offene Drogen­szene in der Stadt Zürich kümmerte. Sie stellte sich 20 Jahre später, als mit Richard Wolff ein Vertreter der Alternativen Liste (AL), der polizei­kritischsten Ortspartei der Schweiz, die politische Verantwortung über die Stadt­polizei übernahm. Und sie stellt sich heute, wo mit Karin Rykart eine Grüne der Polizei vorsteht und einen Umgang mit Jugend­protesten der Gegenwart finden muss: der Klima­bewegung, die zunehmend an politische und juristische Grenzen stösst und von der Polizei ruppig behandelt wird.

Die Frage nach Möglichkeiten von Reformen und demokratischer Kontrolle stellt sich umso mehr, weil diese in den letzten Jahren auf weit grösseren Bühnen diskutiert wurde, im Zuge von Black Lives Matter oder nach der Aufdeckung mehrerer rechts­extremer Netzwerke in der deutschen Polizei.

In Zürich entzündete sich erneut die Frage, wer in der Polizei eigentlich das Sagen hat, welchen Einfluss linke Politikerinnen tatsächlich nehmen können, als im Vorfeld des diesjährigen Frauen­tags vom 8. März ein Gross­aufgebot der Polizei eine Demonstration mit einigen hundert Teilnehmenden im Keim erstickte. Dabei schlug ein Polizist einer bereits am Boden liegenden 19-jährigen Frau mehrmals gegen den Kopf, weil sie ihm in den Finger gebissen haben soll. Ein Video, auf dem der Vorfall zu sehen ist, schlug im Netz hohe Wellen. Der Stadtrat sprach in der Antwort auf eine Anfrage aus dem Parlament von «Ablenkungs­schlägen». Das sei gängige Polizei­praxis. Die Empörung darüber war gross, gerade bei jenen Gemeinde­räten, die mit der grünen Polizei­vorsteherin das Partei­buch teilen.

Kurz darauf dann der 1. Mai: Obwohl der Aufmarsch an der sogenannten «Nachdemonstration», einem nicht bewilligten Umzug der radikalen Linken, aufgrund der Pandemie überschaubar war, glich der Zürcher Kreis 4 an jenem Tag einer Polizei­sperrzone. Über dem Quartier kreiste ein Polizei­helikopter, die wenigen Demonstrantinnen wurden eingekesselt, kontrolliert, weggewiesen, genauso wie einige Journalisten, die das Geschehen dokumentieren wollten.

Sieht so eine Polizei aus, die entlang linker Grundsätze operiert und zum Beispiel gegenüber Demonstrationen das Prinzip der Verhältnis­mässigkeit höher gewichtet als etwa ein SVP-Hardliner?

Zwar wird die Zürcher Polizei­vorsteherschaft hin und wieder auch von bürgerlicher Seite kritisiert. Zuletzt zum Beispiel wegen einer angeblich allzu zurück­haltenden Linie im Umgang mit der Velo­bewegung Critical Mass oder den Klima­aktivisten von Extinction Rebellion. Unabhängig davon, dass sich Letztere bei all ihren gewalt­freien Aktionen mit einem durchaus stattlichen Polizei­aufgebot konfrontiert sahen und im Gegensatz zu den meisten «Corona-Rebellen» in Schweizer Kleinstädten auch abgeführt werden, wirkt bürgerliche Polizei­kritik in Zürich aber oft schrill und konstruiert.

Das Zürcher Ritual ist ein anderes: Polizisten schiessen mit Gummi­schrot eine Demonstration zusammen, kesseln Hunderte Leute ein, Vertreterinnen der Linken üben daraufhin scharfe Kritik an der Stadt­polizei – als wären es nicht ihre eigenen Exekutiv­politiker, die seit Jahrzehnten für die Polizei verantwortlich sind.

Haben die linken Polizei­vorsteherinnen allesamt versagt bei ihrem Bestreben, es anders zu machen? Die Polizei im Rahmen des Opportunitäts­prinzips entlang linker Grundsätze operieren zu lassen? Zurück­haltend zu sein bei Demonstrationen zum Beispiel? Etwa Sach­beschädigungen weniger gravierend einzustufen als Angriffe auf Menschen? Verabschieden sie sich im Amt zwangsläufig von ihren Prinzipien? Und ist es am Ende nicht die politische Führung, die den Kurs der Stadt­polizei vorgibt? Darf es für die Polizei, die das geltende Recht zu schützen hat, überhaupt eine Rolle spielen, welchem Lager die jeweilige politische Führung angehört?

Erst grosse Pläne, dann Tränen

Im April 1990 hatte mit dem neu gewählten SP-Stadtrat Robert Neukomm plötzlich ein Hippie das Sagen über die Stadt­polizei. So zumindest wurde Neukomm – von seinen Freunden «Bobby» genannt, ein ausgebildeter Forst­ingenieur mit vollem Bart – wahrgenommen. Der Sozial­demokrat folgte auf den LdU-Politiker Hans Frick, der den Ruf eines Hardliners gehabt hatte und gegen die Achtziger-Bewegung mit harter Hand vorgegangen war.

«In den Achtzigern war die Polizei ein Rambo­verein. Da gaben jene den Ton an, die vor allem zuhauen wollten», sagt Koni Loepfe, von 1991 bis 2009 Präsident der Stadt­zürcher SP. Als erster SP-Polizei­vorsteher seit 100 Jahren wollte Neukomm das ändern: Mehr Toleranz gegenüber Minderheiten, mehr polizeiliche Zurück­haltung bei Demonstrationen und eine Prüfung des Verzichts auf Kampf­monturen gehörten zu den Vorsätzen, die er bei Amts­antritt öffentlich verkündete.

Den Links­autonomen soll sich Neukomm am 1. Mai 1990 mit den Worten «Grüezi mitenand, ich bin der neue Polizei­vorstand» vorgestellt haben, offenbar getrieben vom Willen, zwischen Strasse und Staat zu vermitteln. Ein Angebot, das von den Autonomen ausgeschlagen wurde: Trotz Neukomms Vermittlungs­bemühungen kam es rund um den damaligen 1. Mai zu Ausschreitungen. Aber es waren nicht nur die Autonomen, die von Vermittlung nichts wissen wollten: Im Polizei­korps regte sich auch massiver Widerstand gegen den neuen Polizeivorsteher.

«Neukomm war frisch im Amt und versuchte, den Polizisten an einer Besprechung die Lage vorzugeben», sagt der Fotograf Klaus Rózsa. Er war ein Weggefährte Neukomms und ist seit Jahrzehnten einer der schärfsten Kritiker der Stadt­polizei, vom früheren (1990–2002) SP-Stadt­präsident Josef Estermann wurde er einst gar als «Intimfeind» bezeichnet. Neukomm habe den Befehl ausgegeben, kein Tränengas und Gummi­schrot einzusetzen – was die Beamtinnen nicht interessiert habe. «Stattdessen setzte man Tränen­gas und Gummi­geschosse en masse ein, ohne dass man Neukomm, der in der Einsatz­zentrale sass, informiert hätte», sagt Rózsa.

Am Ende des Tages sei er Neukomm wieder begegnet, sagt der Fotograf. Der linke Polizei­vorsteher habe aufgrund der Befehls­verweigerung und seiner missglückten Feuer­taufe geweint. Mit der Republik wollte Robert Neukomm darüber auf Anfrage nicht reden.

Bald war der Widerstand gegen Neukomms Einsatz­doktrin so stark, dass sich die Vertreter der damaligen Personal­verbände der Stadt­polizei mit einem offenen Brief an den Polizei­vorstand und den damaligen Kommandanten Peter Hofacher wandten. Im Zentrum ihrer Kritik: die zurück­haltende Linie im Umgang mit Demonstrationen und die nach Meinung der Polizisten allzu grosszügige Auslegung des Prinzips der Verhältnismässigkeit.

Es dürfe nicht mehr vorkommen, «dass Polizei­beamte zuschauen müssen, wie massive Sach­beschädigungen zum Nachteil der Bevölkerung verübt werden», hiess es im Schreiben der Polizisten. Es dürfe nicht so weit kommen, dass «die Stadt von immer mehr Demonstranten heimgesucht und von möglichen Bürger­wehren beherrscht wird». Die Unterzeichner forderten, «die Einsatz­doktrin betreffend Demonstrationen neu zu überdenken und die Verhältnis­mässigkeit zugunsten des Grossteils unserer Bevölkerung anzupassen».

«In den Achtzigern war die Polizei ein Rambo­verein»: Jugendliche auf der Flucht vor den Polizei­grenadieren nach der «Weihnachts-Demo» am 24. Dezember 1980 in Zürich. Photopress-Archiv/Keystone

Es war eine öffentliche Desavouierung Neukomms. Und es war nicht die erste Kraft­probe zwischen der neuen politischen Führung und dem Korps: Bereits im Herbst 1990 war es zwischen Polizei und Politik zum Streit über den richtigen Umgang mit der offenen Drogen­szene am Platzspitz gekommen. Der Stadtrat hatte seine Grundsätze formuliert, mit denen er das in Zürich grassierende Drogen­problem in den Griff bekommen wollte – dabei ging es um die Beschaffungs­kriminalität, aber auch um die Menschen, die an Überdosen und Krankheiten starben. Zu den neuen Grund­sätzen der Regierung gehörte das Credo, dass die offene Drogen­szene «vorerst toleriert» werden müsse.

Machtkampf um neue Drogen­politik

Was dann geschah, ist eine Blaupause dafür, welchen Spielraum der Polizei­vorsteher gegenüber dem Korps hat. Der grundsätzliche Auftrag der Polizei ist in der Schweizerischen Straf­prozess­ordnung geregelt. Dort heisst es: «Die Polizei ermittelt Straftaten aus eigenem Antrieb, auf Anzeige von Privaten und Behörden sowie im Auftrag der Staats­anwaltschaft.» Dabei gilt ein «Verfolgungs­zwang»: Die Straf­behörden sind verpflichtet, ein Verfahren einzuleiten und durchzuführen, wenn ihnen Straftaten oder Verdachts­gründe bekannt werden. Schauen sie bewusst weg, können sie sich der Begünstigung strafbar machen.

Anfang der Neunziger gab es zwar noch keine Schweizerische Straf­prozess­ordnung. Zürcher Stadt­polizistinnen beriefen sich damals aber auf ähnliche Grundsätze, als sie von der Stadt die Direktive erhielten, die offene Drogen­szene am Platzspitz vorüber­gehend zu tolerieren.

Der neue Weg einer liberalen Drogen­politik, die nebst Repression, Prävention und Therapie auch auf Überlebens­hilfe setzte, sollte Zürich vom Problem­fall zur Vorzeige­stadt machen. Neukomm als Polizei­vorsteher verteidigte ihn in seiner Entstehung – doch beinahe wäre er am Widerstand der Stadt­polizei gescheitert. Die Polizisten seien nicht bereit, die neue Drogen­politik des Stadt­rates mitzutragen, teilten deren Personal­verbände an einer extra einberufenen Presse­konferenz mit. Den Polizistinnen könne nicht zugemutet werden, dass sie strafbare Handlungen tolerieren müssten. Das Legalitäts­prinzip verpflichte sie, Gesetzes­verstösse zwingend zu verfolgen. Der Stadtrat, der die reine Repressions­politik als Teil des tödlichen Problems ausgemacht hatte, blieb hart.

Die Machtfrage lag offen auf dem Tisch: Wer hat das Sagen? Die politische Führung oder das Korps? Es war schliesslich Neukomm, der sich durchsetzte. Zwar gelte tatsächlich das Legalitäts­prinzip, hielt er fest. Jedoch verfüge die Polizei über beschränkte Mittel. Wie diese einzusetzen seien, entscheide der Stadtrat als demokratisch legitimierte Behörde. Neukomm betonte das «Primat der Politik», und in einer Volks­abstimmung am 2. Dezember 1990 fällten die Zürcher Stimm­berechtigten einen Grundsatz­entscheid zugunsten der Drogen­politik des Stadtrats.

Es folgte die nächste Macht­probe, die schliesslich das Schicksal des Kommandanten besiegeln sollte: Die Fichen­affäre warf ihre Schatten tief in die Zürcher Stadt­polizei hinein. Eine Kommission des Gemeinde­rats begann die Methoden des «KK III» zu durchleuchten: Dieses Kriminal­kommissariat war zur Zeit des Kalten Krieges für die politische Polizei zuständig. Die Untersuchungs­kommission kam zum Schluss, mangels politischer Kontrolle habe die Staats­schutz­tätigkeit in der Stadt Zürich eine «Eigendynamik entwickelt, die zu Auswüchsen geführt hat, die eines Rechts­staates unwürdig sind». Der Staats­schutz sei dem Primat der Politik entzogen worden. Die Stadt­polizei wurde in der Folge reorganisiert und das «KK III» in seiner damaligen Form aufgelöst.

Im Zuge der Untersuchung kam es zum Eklat zwischen Neukomm und seinem Polizei­kommandanten: Entgegen Neukomms Anweisungen hatte Kommandant Peter Hofacher seinem Korps befohlen, Fragen der parlamentarischen Untersuchungs­kommission nicht zu beantworten. Neukomm intervenierte zwar, doch einige «KK III»-Beamte verweigerten die Mitwirkung bis zum Schluss.

Neukomm drohte Hofacher, dass er sich eine neue Stelle suchen müsse, wenn er sich nicht vorbehaltlos hinter ihn stelle. Eine derart offen ausgetragene Macht­probe zwischen politischem Vorsteher und Kommandant gab es seither nie mehr, nicht unter Führung der Alternativen Liste, nicht unter Führung der Grünen. Hofacher trat schliesslich Ende Dezember 1992 zurück.

Neukomm hatte einer liberaleren Drogen­politik den Weg geebnet, die Stadt­polizei nach der Fichen­affäre reformiert, einen Hardliner als Kommandant vom Hof gejagt: Mit Blick auf die ersten Jahre geht er als erfolg­reichster Polizei-Reformator in die Zürcher Geschichts­bücher ein.

Massive Kritik von links

Trotzdem kam es bald zur Entfremdung zwischen der Linken und ihrem Polizei­vorsteher. Im Zusammen­hang mit der Letten-Räumung im Jahr 1995 kratzten regel­mässige brutale Übergriffe durch Stadt­polizisten gegen Drogen­abhängige und Dealerinnen an Neukomms Image als Gesicht einer liberaleren Polizei. Polizisten prügelten willkürlich auf Süchtige ein, zwangen sie, sich in der Öffentlichkeit nackt auszuziehen, schossen unvermittelt Gummi­geschosse in die Leute.

Und am 1. Mai 1996 scheiterte schliesslich Neukomms Vorhaben kolossal, die Situation rund um die Nach­demonstration zu entspannen: Es kam zu schweren Ausschreitungen. Die NZZ schrieb, es «wurde regelrecht um jede Kreuzung gekämpft». Die Polizei schoss Tränen­gas auf das friedliche Fest auf dem Kasernen­areal. Unter den Besucherinnen brach Panik aus. Die Vereinigung unabhängiger Ärzte sprach in einem Schreiben an Neukomm von «lebens­bedrohlichen Zwischen­fällen».

Die Kritik von links war massiv: Zwei­tausend Personen demonstrierten unter dem Motto «Stop dem Polizeiterror». Dem Sozial­demokraten, der bei seinem Antritt noch verkündet hatte, überprüfen zu wollen, ob die Polizei Kampf­ausrüstung überhaupt brauche, wurde der «Aufbau eines Polizei­staates» vorgeworfen. Vor den Stadtrats­wahlen 1998 fand die NZZ, die Neukomm in der ersten Hälfte der Neunziger bei fast jeder Gelegenheit kritisiert hatte, nun lobende Worte für ihn: Habe Neukomm Mannschaft und Polizei­führung anfangs mit «utopischen Vorstellungen» irritiert, habe er sich als Polizei­chef später «pragmatisch und lernfähig» gezeigt.

«Neukomm hat die Stadt­polizei Zürich verändert, und die Polizei hat Neukomm verändert. Den grösseren Wandel hat es aufseiten der Polizei gegeben», sagt der damalige SP-Präsident Koni Loepfe. Die Zürcher Stadt­polizei habe unter ihm gelernt, auch mal «einen Schritt zurück» zu machen, die «Rambo-Mentalität» der Achtziger habe sie weitgehend abgelegt.

Niklaus Scherr, von 1978 bis 2017 im Zürcher Gemeinde­rat, erst für die POCH, dann für die Alternative Liste, hatte Neukomm stets von links kritisch beäugt. Er mag denn auch in den Lobgesang von Loepfe so nicht einstimmen, zeichnet aber ein differenziertes Bild von Neukomms Wirken an der Polizei­spitze: «Neukomm führte das Polizei­departement in einer schwierigen Phase, als Zürich die Zeit des Kalten Krieges hinter sich liess und die Ära der rot-grünen Mehrheit einsetzte, die bis heute andauert», sagt Scherr. Die Bau­stellen und Graben­kämpfe seien entsprechend zahlreich gewesen.

Angesichts dessen attestiert Scherr Neukomm durchaus Reform­willen und in einigen Bereichen Loyalität gegenüber linken Anliegen, zum Beispiel, als es um die Abschaffung der politischen Polizei gegangen sei. Scherr sagt aber auch: «Die Ära Neukomm war so etwas wie ein Sozialisierungs­experiment. Nach seiner Amtszeit waren die Spiel­regeln und der Spiel­raum eines linken Polizei­vorstands in Zürich für die kommenden Jahre abgesteckt.»

Bei jedem Problem ein runder Tisch

Während die Stadt­polizei unter Neukomm gewisse Schritte in Richtung Reform machte, folgte danach ein Backlash. Esther Maurer (SP), politisch im rechten Spektrum ihrer Partei, führte das Polizei­departement nach ihrem Amts­antritt 1998 wieder wie eine Bürgerliche. Sie machte den Polizei­kessel zum Mittel der Wahl und liess beispiels­weise am Bahnhof Altstetten Hunderte Fans des FC Basel stunden­lang festsetzen, die für ein Auswärts­spiel nach Zürich gereist waren. Maurer habe zwar Workshops veranstaltet, um das Klima innerhalb der Polizei zu verbessern, an der Fehler­kultur hätte das aber rein gar nichts geändert, sagt zum Beispiel Rolf Zopfi, Sprecher der Menschen­rechts­gruppe «Augenauf»: «Im Korps ist die Haltung verbreitet, dass Polizisten keine Fehler machen.»

Maurers Nachfolger, der Grüne Daniel Leupi, schuf zu Beginn seiner Amts­zeit 2010 einen sogenannten «Echo­raum», in dem über sicherheits­politische Themen gesprochen werden sollte. Gleichzeitig liess der Grüne am 1. Mai 2011 so viele Polizistinnen aufmarschieren wie keiner seiner Vorgänger. Hunderte Personen wurden auf dem Helvetia­platz eingekesselt und anschliessend in der Kaserne festgehalten, ohne dass es davor zu Delikten gekommen wäre. Der Einsatz beschäftigt mittler­weile den Europäischen Gerichts­hof für Menschen­rechte in Strassburg.

Dann kam 2013 mit Richard Wolff (AL) ein Mann vom linken Rand des politischen Spektrums: Entsprechend gross waren die Hoffnungen der Linken, er werde das Polizei­departement reformieren. Doch als er das Departement schliesslich 2018 gegen seinen Willen verlassen musste, trauerte ihm von der linken Seite niemand nach. Wolff, politisch deutlich links von Neukomm positioniert, konnte weder Korps noch Kommando verändern.

Das habe unter anderem mit seiner Naivität zu tun, sagen Kritiker. Klaus Rózsa, der «Intimfeind» der Zürcher Stadt­polizei und ein alter Freund von Wolff, illustriert das mit einer Geschichte, von der Wolff behauptet, dass sie nie stattgefunden habe. Kurz nach seiner Wahl in den Stadtrat habe Wolff an Rózsas Geburtstags­feier eine Rede gehalten. «Er gab vor den Gästen bekannt, dass ich sein Presse­chef werde», sagt Rózsa. Er habe die Idee umgehend zurück­gewiesen und Wolff gewarnt, dass er sich mit solchen Aussagen in Schwierigkeiten bringe.

Rolf Zopfi von «Augenauf» bezeichnet den ehemaligen Polizei­vorsteher als «harmonie­süchtig». Manuela Schiller, Rechts­anwältin und Partei­kollegin von Wolff, sagt, dass dieser die Neigung habe, bei jedem Problem einen runden Tisch zu veranstalten. Wolff selbst stellt sich ein gutes Zeugnis aus: So sei etwa das Racial Profiling unter ihm zurück­gegangen und der Umgang mit Demonstrationen sei unter ihm stärker von Augen­mass geprägt gewesen.

Sein eigenes politisches Lager will davon jedoch nichts wissen und verweist auf Fussball­fans, die in Wolffs Amtszeit weiterhin eingekesselt und kriminalisiert worden seien. Gegenüber der linken Frauen­bewegung sei während der Ära Wolff sogar ein deutlich härterer Kurs gefahren worden, sagt Manuela Schiller – ein Kurs, den die Grüne Nachfolgerin Wolffs, Karin Rykart, heute so weiterführt, inklusive «Ablenkungs­schlägen» gegen junge Frauen. Bezüglich Racial Profiling hätten die Anstrengungen der Polizei in den letzten Jahren vor allem darauf abgezielt, schlechte Presse zu vermeiden, sagt Zopfi von «Augenauf». Für Betroffene habe sich kaum etwas verändert.

Einzig bei den Haus­besetzerinnen reizte Wolff als Polizei­vorsteher das Prinzip der Verhältnis­mässigkeit: Aber offenbar auch deshalb, weil seine Söhne dort verkehrten. Der Vorwurf der Befangenheit in diesem Dossier sorgte schliesslich für die Versetzung ins Tiefbau- und Entsorgungs­departement – gegen seinen Willen.

Wer heute das Sagen hat

Unter der amtierenden Polizei­vorsteherin Karin Rykart dauerte es nicht lange, bis es zur Ursünde kam. Als Jugendliche am Parade­platz den Eingang zur Credit Suisse blockieren, werden Dutzende von ihnen verhaftet, es folgen Anzeigen wegen Nötigung und Hausfriedens­bruchs. Kein Augen­mass, kein Verhältnismässigkeits­prinzip, das man in diesem Kontext von einer Grünen erwartet hätte. Stattdessen das Pochen auf das Legalitäts­prinzip: Die Polizei­vorsteherin stellte sich auf den Stand­punkt, ein solcher Einsatz sei keine Frage einer politischen Haltung – wider die Erfahrung aus der Ära Neukomm, wider die Debatten um ein Urteil eines Lausanner Bezirks­gerichts, das nun Strassburg beschäftigt, das die Klima­krise als «recht­fertigenden Notstand» für Aktionen von Klima­aktivisten bezeichnet hatte.

Eskalieren oder laufen lassen? Das liegt meist im Ermessen der Polizei: Sitz­blockade von Klima­aktivistinnen am 8. Juli 2019 vor dem Hauptsitz der CS in Zürich. Collective Climate Justice

«Die Polizei hat aufgrund des Opportunitäts­prinzips ein grosses Ermessen, ob sie bei ihrem Einsatz die Grundlagen für ein Straf­verfahren schafft oder nicht, und erst recht bei der Frage, wie konkret sie einfährt», sagt Rechts­anwalt Viktor Györffy, Beschwerden­führer in Strassburg gegen den bereits erwähnten Stadt­polizei-Kessel vom 1. Mai 2011. Das Vorgehen der Polizei greife letztlich in die Grund­rechte ein: «Der Entscheid, welche der auf dem Spiel stehenden Interessen wie geschützt werden, hat zwangs­läufig immer auch einen politischen Aspekt.»

Eine politische Komponente hat auch ein anderer Schlüssel­entscheid: die Wahl des Kommandanten der Stadt­polizei. Dabei änderte sich über die Jahr­zehnte, egal, wer dem Korps gerade vorstand, nichts an dessen Profil: Alle Kommandanten konnten bei ihrer Ernennung bereits auf eine Karriere im Polizei­wesen zurückblicken. Alle waren sie Männer. Alle waren sie Bürgerliche. Mit Spannung war deshalb die Wahl des Nachfolgers von Daniel Blumer erwartet worden, der Ende Mai 2022 das Kommando abgibt. Die Stelle war erstmals als 80-Prozent-Pensum ausgestaltet worden, und die Frage stand im Raum, ob nun erstmals eine Frau den Posten übernehmen würde. Die Wahl fiel auf einen Mann: Beat Oppliger. Profil: Siehe oben.

Wer in der Stadtpolizei heute das Sagen hat, machte der Kommandant Daniel Blumer in einem Interview mit der NZZ deutlich. Während Peter Hofacher in der Ära Neukomm schliesslich den Hut nehmen musste, weil er sich nicht bedingungslos hinter seinen Chef stellte, sagte Blumer im Mai 2021 gegenüber der NZZ, dass er die Errichtung alkohol­freier Zonen in Zürich entgegen der Haltung der Polizei­vorsteherin als sinnvoll erachte. Dann sagte der Kommandant über seine Chefin: «Letztlich habe ich eine operative Funktion, und Frau Rykart hat eine politische. Manchmal haben wir unterschiedliche Stand­punkte. Darüber diskutieren wir auf Augenhöhe.»

Wer so über seine Chefin spricht, empfängt keine Befehle. Er erteilt sie.

Zum Autor

Benjamin Rothschild ist Journalist und Jurist. Er arbeitet als Redaktor beim Rechts- und Polit­magazin «Plädoyer» sowie als freier Mitarbeiter für verschiedene Publikationen. Zuvor war er während sieben Jahren beim «Zürcher Oberländer», zweieinhalb davon als stellvertretender Chefredaktor.

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