Am Gericht

Sie nehmen ihn aus wie eine Weihnachtsgans

Ein 94-jähriger Mann fällt auf zwei Betrügerinnen rein. Er zahlt und zahlt und zahlt. Eher durch Zufall werden die Täterinnen geschnappt – in diesem Fall. Oft bleiben Delikte gegen einsame alte Menschen unentdeckt und ungesühnt.

Von Brigitte Hürlimann, 10.11.2021

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Der Bundesrat hat letzten Herbst einen Bericht veröffentlicht, mit einem Titel, der zugleich Programm, Auftrag und Ziel ist: «Gewalt im Alter verhindern». Die demografische Alterung, der finanzielle Druck auf die Langzeit­pflege und die geringe Bereitschaft von Familien, ihre älteren Verwandten zu betreuen, verschärften das Risiko, heisst es in der Einleitung der Studie, die von der Hochschule Luzern verfasst wurde.

In der Polizei­statistik tauchen die älteren Leute nicht als besonders betroffene Opfer­gruppe auf; ab einem Alter von 70 Jahren sind sie sogar deutlich unter­repräsentiert. Doch die Statistik bildet nur die gemeldeten Fälle ab. Die Vermutung ist gross, dass ältere Opfer häufig darauf verzichten, Anzeige zu erstatten: weil sie auf jene, die sie misshandeln und ausbeuten, angewiesen sind. Oder weil sie gar nicht mehr in der Lage sind, zu erkennen, was mit ihnen geschieht. Weil sie sich schämen. Oder sich nicht getrauen, über das Erlebte zu sprechen – schon gar nicht auf einem Polizei­posten.

Um solche Fälle aus dem Dunkelfeld zu holen, hat die Kantons­polizei Zürich eine «Fachstelle Seniorenschutz» aufgebaut, die seit wenigen Monaten operativ tätig ist. Zu den ersten Fällen der neuen Stelle gehören die Ereignisse rund um einen 94-jährigen, alleinstehenden Mann, der von Betrügerinnen wie eine Weihnachtsgans ausgenommen wurde. Und der bis zum Schluss nicht realisierte, was mit ihm geschah.

Ort: Bezirksgericht Bülach
Zeit: 9. September 2021, 13.30 Uhr
Fall-Nr.: DH210021 und DH210022
Thema: Gewerbs­mässiger Betrug und mehrfache Geldwäscherei

Der Fall ist himmel­schreiend traurig – und der Prozess dauert kaum zwei Stunden. Das liegt daran, dass die beiden Betrügerinnen alles zugeben und sich auf ein abgekürztes Verfahren eingelassen haben. Mit anderen Worten: Die zwei Frauen und ihre Verteidigung haben schon vor der Gerichts­verhandlung einen Deal mit dem Staatsanwalt geschlossen, der vom Bezirks­gericht Bülach nur noch rudimentär überprüft werden kann.

Findet das dreiköpfige Richter­gremium keinen Haken an der Sache und wiederholen die angeklagten Frauen im Gerichtssaal ihr Geständnis – dann ist das Ganze gelaufen.

Und so geschieht es dann auch. Die zwei Frauen, 30 und 33 Jahre alt, die ziemlich zerknirscht und kleinlaut vor dem Richter­podest sitzen, beantworten die wenigen Fragen des Gerichts­vorsitzenden Marcus Müller wortkarg – und via Dolmetscher. Die beiden kommen aus dem Gefängnis, sie haben ihre Strafe vorzeitig angetreten. Eine Handvoll Uniformierter lässt sie nicht aus den Augen, keine Sekunde lang, weder im Saal noch draussen im Gang, wo sie nach ihrer Befragung auf die Urteils­eröffnung warten werden.

Herzzerreissende Storys aufgetischt

Zuerst wendet sich Richter Müller an die jüngere der beiden Frauen. Sie war es gewesen, die besonders häufig und besonders hartnäckig an die Tür eines einsamen, 94-jährigen Mannes im Zürcher Unterland geklopft hatte. Und ihm herzzerreissende Storys auftischte. Geschichten von Not und Elend, von finanziellen Sorgen und kranken Kindern, von einem kaputten Haus und fehlender Elektrizität.

Beide Frauen stammen aus Rumänien, sind Teil einer zwanzigköpfigen Grossfamilie. Staatsanwalt Andreas Wicky schreibt in seiner Anklage­schrift samt Urteils­vorschlag von einer «Roma-Sippe».

Die Frauen und andere Familien­mitglieder reisten in die Schweiz, um zu stehlen und zu betrügen. Die 30-Jährige besuchte das hochbetagte Opfer mindestens siebzehn Mal innerhalb von rund eineinhalb Jahren. Der alte Mann hatte sie mit der Zeit ins Herz geschlossen. Er freute sich über ihre Besuche und ihre Aufmerksamkeit – und ging davon aus, die Zuneigung sei gegenseitig. Darum hiess er auch weitere Familien­mitglieder seiner neuen Bekanntschaft willkommen. Und öffnete immer wieder sein Portemonnaie.

Die ältere der beiden Frauen kam sieben Mal vorbei. So viel liess sich im Nachhinein eruieren, so viel kann bewiesen werden.

Warum hat der Mann das Geld gegeben?

Richter Müller an die jüngere Frau: «Sie haben das Vertrauen des 94-Jährigen erschlichen und von ihm insgesamt 150’000 Franken erhalten, zusammen mit ihrer Mittäterin. Sie haben eine Notlage vorgegaukelt. Geben Sie das heute immer noch zu?»

Beschuldigte: «Ja.»

Richter: «Warum hat er Ihnen dieses Geld gegeben?»

Beschuldigte (seufzt tief): «Der Herr hat uns finanziell unterstützt, weil wir keine Arbeit hatten.»

Richter: «Sie haben ihm diverse Lügen­geschichten aufgetischt.»

Beschuldigte: «Das ist so.»

Richter: «Hat die Notsituation, von der Sie ihm erzählten, der Wahrheit entsprochen?»

Beschuldigte: «Teils ja, teils nicht. Ich hatte keine Arbeit, kein Einkommen, nur das Kindergeld.»

Staatsanwalt Wicky vermutet, dass mehr Geld geflossen ist als die 150’000 Franken, die er in der Anklage­schrift nennt. Und er schreibt, dem alten Herrn habe «wegen seines fortgeschrittenen Alters schlicht die nötige Widerstands­kraft und Abgrenzungs­fähigkeit» gefehlt, um sich gegen das «aufsässige, ja richtiggehend nötigende Auftreten» der Betrügerinnen wehren zu können – was die beiden Frauen gezielt ausgenutzt hätten.

Die zwei geständigen Rumäninnen werden, wie zuvor ausgehandelt, wegen gewerbs­mässigen Betrugs und mehrfacher Geld­wäscherei schuldig gesprochen; Letzteres deshalb, weil sie mit dem ertrogenen Geld zurück nach Rumänien gereist waren, es dort in die Landes­währung umtauschten und ausgaben. Damit wurde den Schweizer Strafverfolgern eine Einziehung des Delikt­betrags verunmöglicht.

Die jüngere Frau hat zudem einen Diebstahl begangen, Opfer war eine Frau. Beide Beschuldigten werden zu teilbedingten Freiheits­strafen verurteilt (18 Monate die Jüngere, 15 Monate die Ältere), wovon sie 6 Monate absitzen müssen. Was sie zum Zeitpunkt des Strafprozesses bereits getan haben. Die Frauen werden zudem für sieben Jahre des Landes verwiesen. Und zu diesem Zweck direkt «dem Migrationsamt überstellt».

«Sie sind hier nicht mehr erwünscht»

Das diene dem Schutz der Schweiz, sagt Richter Müller bei der Urteils­begründung: «Sie sind hierzulande nicht mehr erwünscht.» Und: «Sie müssen sich nicht beim Gericht entschuldigen, sondern beim Geschädigten.»

Der hochbetagte Mann hat am Strafprozess nicht teilgenommen. Die Sache war nicht etwa deshalb aufgeflogen, weil er die beiden Frauen angezeigt hätte. Wie Staatsanwalt Andreas Wicky am Rande des Prozesses erzählt, fehlten ihm nach einem Bankbesuch plötzlich 10’000 Franken, die er im Auto nicht mehr fand. Wegen dieses Verlustes kontaktierte er die Polizei. Und die Polizistin, die sich seine Schilderungen anhörte, wurde hellhörig. Sie ahnte, dass es um mehr geht. Dass ein genaues und vor allem behutsames Nach­fragen nötig sein könnte.

Als der Spuk mit den Betrügerinnen zu Ende war, hatte der 94-jährige Mann die Hälfte seiner Ersparnisse weggegeben. «Ein solches Opfer», sagt Franziska Schubiger, Chefin der Ermittlungs­abteilung Allgemeine Kriminalität bei der Kantonspolizei Zürich, «dürfen wir nicht einfach im Stich lassen. Ein Strafverfahren allein genügt nicht, um ihm nachhaltig zu helfen.»

Sieben Fragen an die Fachstellen-Chefin

Franziska Schubiger leitet neu auch die «Fachstelle Seniorenschutz», die bei der Kriminal­polizei angegliedert ist. Drei Mitarbeiterinnen sind dort tätig: eine Polizistin, ein Polizist und seit Anfang dieses Monats eine Gerontologin.

Frau Schubiger, warum war es nötig, diese Fachstelle zu eröffnen?
Der Zürcher Regierungsrat hat für die Legislatur­periode 2019 bis 2023 den Schutz von Seniorinnen und Senioren vor Gewalt- und Vermögens­straftaten als Schwerpunkt festgelegt. Diesen Auftrag erfüllen wir mit der Fachstelle. Wir haben rasch gemerkt, dass eine interdisziplinäre Koordination dringend nötig ist, innerhalb und ausserhalb der Polizei. Das heisst, wir sind auch Anlauf­stelle für Organisationen wie die Pro Senectute, für Spital- und Heim­verbände, die Spitex oder die Kesb. Intern mischen wir uns ein, sobald Senioren von Vorfällen betroffen sind – übrigens auch dann, wenn es weder zu einer Anzeige noch zu einem Strafverfahren kommt. Wir dürfen und müssen dies tun, weil die Gefahren­abwehr und die Sicherheit zu den polizeilichen Aufgaben gehören.

Was können Sie ausrichten mit einem dreiköpfigen Mitarbeiterteam?
Wir machen ein Fall-Monitoring, um Deliktsmuster und Zusammenhänge zu erkennen – alte und neue Kriminalitäts­phänomene. Seit Anfang dieses Jahres, also noch vor dem offiziellen Start der Fachstelle, haben wir 800 Fälle genauer angeschaut. In einem Drittel wurden wir tätig. Bei all diesen Fällen geht es aber immer nur ums Hellfeld, also um jene Vorgänge, die bekannt werden; wie etwa der von Ihnen geschilderte Fall des 94-jährigen Herrn, der Opfer von Betrügerinnen wurde. Grosse Sorgen bereitet uns das Dunkelfeld.

Was vermuten Sie bezüglich des Dunkelfelds?
Wir befürchten, dass die meisten Vorfälle gar nicht bekannt werden, und zwar aus verschiedenen Gründen, wie sie auch im Bericht des Bundesrats erwähnt werden. Die Anzeige­hindernisse sind hoch – zu hoch, das wollen wir mit unserer Vernetzungs­arbeit ändern. Die Institutionen, die sich um Betagte kümmern, sind froh, wenn sie sich an uns wenden können; und zwar auch dann, wenn nicht klar ist, ob etwas Kriminelles geschehen ist. Es geht häufig um Graubereiche, um Überforderung, Unsicherheit und Ungewissheit – seitens der Angehörigen oder der Pflege­fachleute. Wir müssen aber auch die schlimmen Fälle erkennen: wenn Angestellte als sogenannte «Todesengel» durch die Spitäler und Heime gehen und töten. Das ist, wenn es um kranke und alte Menschen geht, nicht einfach zu erkennen. Schlimmsten­falls ziehen solche Täter von Institution zu Institution. Darum sind ein Monitoring und ein inter­disziplinärer Austausch so wichtig.

Der 94-jährige Mann, der um die Hälfte seiner Ersparnisse gebracht worden war, wollte die Betrügerinnen nicht anzeigen.
Das ist nicht ungewöhnlich. Viele betagte Opfer befinden sich in einem Loyalitäts­konflikt oder haben Angst, zur Polizei zu gehen. Seniorinnen und Senioren sind vulnerable Opfer – umso mehr, wenn sie einsam und arm sind, keine Freunde und Verwandte mehr haben, allein wohnen. Die Polizei stösst regelmässig auf Zustände der Verwahrlosung. Das ist meistens kein Thema für ein Strafverfahren, doch genau hier kann die Fachstelle eingreifen. Wir kümmern uns um die Betroffenen und suchen nach der besten Lösung.

Von welcher Deliktsart sind die Senioren vor allem betroffen?
Wenn wir vom Hellfeld sprechen, geht es vor allem um Vermögens­delikte, um verschiedene Betrugs­maschen. Im Dunkelfeld vermuten wir eher Gewaltdelikte.

Können Sie Beispiele machen für solche Betrugsmaschen?
Der Support-Betrug ist ein Beispiel. Da geben sich die Täter am Telefon als ein Support-Dienst aus und kommen so zu Informationen, die sie missbrauchen können. Das ist eine zunehmende Bedrohung, weil die heutige Senioren-Generation Computer oder Smartphones benutzt. Beim Enkeltrick-Betrug rufen Leute an und gaukeln vor, Verwandte zu sein. Sie erzählen von einer Notsituation und verlangen Geld. Andere Betrüger wiederum behaupten am Telefon, sie seien Polizisten – und es gebe Hinweise darauf, dass es zu einem Einbruch komme. Man solle die Wert­gegenstände der Polizei übergeben, das heisst: jenen Kriminellen, die dann bei den verunsicherten Senioren auftauchen und sich als Polizisten ausgeben.

Wie werden die potenziellen Opfer vor solchen Maschen gewarnt?
Wir halten Vorträge in Alters- und Pflegeheimen und an Senioren­veranstaltungen; um jene zu erreichen, die sich nicht im Internet informieren. Mit unseren Präventions­kampagnen richten wir uns aber auch an jüngere Generationen. Damit sie hellhörig werden, wenn es bei älteren Bekannten und Verwandten zu merkwürdigen Vorgängen kommt.

Und zum Schluss noch zwei brand­aktuelle Fälle

Wenige Tage nachdem die Republik Franziska Schubiger von der «Fachstelle Seniorenschutz» zum Gespräch getroffen hat, verschickt die Kantons­polizei Zürich folgende Medien­mitteilung: Eine 82-jährige Frau, die in Winterthur lebt, war von einem vermeintlichen Bankangestellten angerufen worden. Der Anrufer teilte ihr mit, ihr Bankkonto sei von Hackern angegriffen worden. Um das Geld zu sichern, müsse die Frau 20’000 Franken abheben und einem Abholer übergeben. Die Polizei wurde über den Vorfall informiert und nahm bei der Übergabe einen 59-jährigen deutschen Mann fest.

In Dübendorf wurde eine 85-jährige Frau von einem Mann angerufen, der sich als Kriminal­polizist ausgab. Er behauptete, ihr Geld und die Wertsachen seien bei ihr zu Hause nicht mehr sicher aufgehoben; das wisse man, weil man Einbrecher verhaftet habe. Sie solle Geld und Schmuck einem Abholer übergeben. Die Frau tat wie geheissen, doch auch hier war die Polizei bei der Übergabe vor Ort und nahm eine 31-jährige Schweizerin fest.

Beide Betrügereien geschahen Anfang November, innerhalb nur weniger Tage. Und beide Fälle liegen nun bei der zuständigen Staats­anwaltschaft.

Illustration: Till Lauer

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