Im xenophoben Delirium
Der französische Präsidentschaftswahlkampf dürfte spannend werden – aus desaströsen Gründen. Schlägt erneut die Stunde der Horrorclowns?
Von Daniel Binswanger, 23.10.2021
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Was sich dieser Tage in Frankreich abspielt, kann in seiner Tragweite nicht überschätzt werden. Dass der Talkshow-Polemiker und politische Journalist Eric Zemmour in den Umfragen zu den französischen Präsidentschaftswahlen im nächsten April plötzlich auf dem zweiten Platz landet, Marine Le Pen rechts überholt und als potenzieller Gegner von Emmanuel Macron im zweiten Wahlgang figuriert – diese dramatische Entwicklung könnte nicht nur für Frankreich, sondern für den ganzen europäischen Kontinent einen Wendepunkt darstellen. Hier entfaltet eine neue Form des rechtsradikalen Populismus eine unerwartete Dynamik. Man kann hoffen, dass die Blase wieder platzt und der böse Traum sich unversehens wieder in nichts auflöst. Aber vieles scheint nun möglich. Auch das Allerübelste.
Eric Zemmour legt einen tabulosen, extremen, absolut komplexfreien Rechtsradikalismus an den Tag. Der Publizist Bernard-Henri Lévy schrieb vor ein paar Tagen in der «Süddeutschen»: «Da zieht eine politische Katastrophe herauf.» Es ist ihm recht zu geben. Eric Zemmour, nie um Kraftrhetorik verlegen, hat seinerseits Bernard-Henri Lévy des «Hochverrats» bezichtigt. Die Forderung, ihn standrechtlich erschiessen zu lassen, bleibt vorderhand noch implizit.
Es war immer klar, dass die kommenden französischen Präsidentschaftswahlen zum Test werden würden für die Gesundheit der Demokratie in Europa. Es war immer klar, dass in Frankreich das Absturzpotenzial ungleich grösser ist als in Deutschland und dass der dezidierte Proeuropäer und zentristische Reformer Macron von Marine Le Pen in Bedrängnis gebracht werden dürfte. Aber niemand hat damit gerechnet, dass Marine Le Pen von einem Kandidaten, der weit rechts von ihr steht, überflügelt werden könnte. Genau das aber geschieht jetzt.
Beelendend an der Sache ist nicht zuletzt, dass der neue Bannerträger des französischen Rechtsradikalismus ein Jude ist. Es ist ein wahnwitziges Symptom der haltlosen Konfusion unserer Epoche. Und des Entstehens neuer ideologischer Allianzen, die sich schon lange ankündigen, sich aber bisher nicht mit dieser Brutalität manifestiert haben.
Zemmour schreckt vor keinen Grenzüberschreitungen zurück. In seinem Bestseller «Le suicide français», ein im Jahr 2014 publiziertes, 550 Seiten starkes Pamphlet über den vermeintlichen Niedergang der Grande Nation, versteigt er sich etwa zu Lobgesängen auf den maréchal Pétain, weil der als Herrscher des Vichy-Regimes zwar die ausländischen Juden deportieren liess beziehungsweise an die deutsche Besatzungsmacht auslieferte, die französischen Juden aber gerettet haben soll.
Das ist erstens eine historische Lüge und zweitens ein sehr eigenwilliges Bewertungskriterium für Pétains staatsmännische Grösse. Der amerikanische Historiker Robert Paxton, die grosse Autorität auf dem Feld der Historiografie von Vichy-Frankreich, hat den zemmourschen Holocaust-Revisionismus in schärfster Form zurückgewiesen. 80’000 Jüdinnen wurden aus Frankreich in die Vernichtungslager deportiert, 25’000 davon hatten die französische Nationalität. Sowohl im besetzten als auch im unbesetzten Teil Frankreichs war es die französische Polizei, welche die Razzien durchführte und die Gefangenen – darunter 3000 von ihren Eltern getrennte Kinder – in die Deportationszüge verfrachtete. Die deutsche Besatzungsmacht hätte nach eigenem durch zahlreiche historische Dokumente verbürgten Bekunden dazu nicht die logistischen Ressourcen gehabt. Hätten das Vichy-Regime und die Polizeikräfte in den besetzten Teilen Frankreichs sich nicht durch vorauseilenden Gehorsam hervorgetan, hätte der Genozid nicht dieselben Dimensionen annehmen können.
Aber die Verbrechen des Vichy-Regimes fechten Eric Zemmour nicht an. Die autoritäre, faschistische Ideologie des maréchal Pétain steht für das Frankreich, das er restaurieren will. Indem er Vichy-Frankreich hochleben lässt, sendet er das unmissverständliche Signal seiner Zugehörigkeit zum französischen Rechtsextremismus aus. Marine Le Pen schreckt vor dieser Form des Geschichtsrevisionismus zurück. Zemmour schreibt ihn sich auf die Fahne. Dass er Jude ist und vor dieser Grenzüberschreitung nicht haltmacht, befördert ihn zum unbestrittenen Champion des faschistoiden Nationalismus.
Von nicht geringerer symbolischer Tragweite sind Eric Zemmours Aussagen zur Dreyfus-Affäre. Diese ist die folgenreichste Justizaffäre der französischen Geschichte. Alfred Dreyfus war ein jüdischer Artillerie-Hauptmann und wurde 1894 aufgrund von Falschbeschuldigungen wegen Landesverrats verurteilt. Das antisemitisch motivierte Fehlurteil – man hat einen Juden geopfert, weil die wahren Schuldigen gedeckt werden sollten – führte zu einer nie da gewesenen Spaltung der französischen Gesellschaft. Es war die Geburtsstunde des modernen politischen Antisemitismus. Emile Zola musste 1898 ins Exil fliehen, weil er es in seinem berühmten Pamphlet «J’accuse …!» gewagt hatte, Dreyfus öffentlich zu verteidigen. 1906 kam es jedoch unter dem öffentlichen Druck zur Aufhebung des Fehlurteils gegen Dreyfus, und er wurde rehabilitiert.
Hannah Arendt analysiert im Antisemitismus-Kapitel von «Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft» die Dreyfus-Affäre sehr ausführlich, weil sie der Überzeugung ist, dass ihre «politischen Konsequenzen» – der Judenhass als Hauptwaffe im Arsenal des modernen Totalitarismus – auch das 20. Jahrhundert bestimmten. Hätte Arendt sich je träumen lassen, dass im Jahr 2021 ein jüdischer Agitator Aussichten auf das französische Präsidentenamt bekommt, der – entgegen jeder historischen Evidenz – die Behauptung aufstellt, man werde niemals wissen, ob Dreyfus schuldig oder unschuldig gewesen sei? Zemmour rehabilitiert mit dieser Geste antisemitische Meisterdenker wie Maurice Barrès, die flammende «Anti-Dreyfusards» gewesen sind und ins ideologische Pantheon des französischen Ultranationalismus gehören.
Es geht hier nicht um verstiegene geistesgeschichtliche Spezialdebatten. Es geht um symbolische Akte von grösster politischer Relevanz. Ob es sich um Dreyfus oder um Bernard-Henri Lévy handelt: Dem Vorwurf des Hochverrats gegenüber Juden, die sein reaktionäres Gedankengut nicht teilen, ist Eric Zemmour niemals abgeneigt.
Allerdings stehen solche Fragen nicht im Zentrum seines politischen Programms. Die wichtigsten Elemente seines ideologischen Profils sind eine rassistisch grundierte, vollständige Ablehnung der Einwanderung aus islamischen und anderen aussereuropäischen Ländern sowie ein aggressiver, um eine scheinbar hochbedrohte Virilität bemühter Antifeminismus. Zemmour ist ein wandelndes Kompendium von grotesken Versatzstücken der rechtsradikalen Ideologie.
Schon mehrfach ist der Publizist wegen «Aufforderung zum Rassenhass» verurteilt worden, unter anderem, weil er rassistische Diskriminierung auf dem französischen Stellenmarkt zu einer guten Sache erklärte. Er übernimmt ungeschminkt die Thesen von Renaud Camus, dem Vordenker der rechtsradikalen sogenannten Identitären, der den «grossen Bevölkerungsaustausch» zur welthistorischen Gefahr erklärt. Er ist der Überzeugung, dass Europa «weiss, christlich und von griechisch-römischer Kultur» sein müsse – und dass dieser Zustand akut bedroht sei. Er erklärt, dass der Islam in seiner Essenz islamistisch, antieuropäisch und antidemokratisch sei. In einer viel beachteten Rede im September 2019, an einem politischen Meeting, das von Anhängern der Le-Pen-Nichte Marion Maréchal organisiert wurde, bezeichnete Zemmour die maghrebinischen Einwanderer in Frankreich als «Besatzungsarmee», verglich sie mit den Nazis, die Frankreich erobert hätten, und rief zu résistance und Bürgerkrieg auf.
Die Liste liesse sich fortsetzen: Die xenophoben Delirien des Eric Zemmour kennen keine Grenzen. Seine politische Macht erwächst ihm daraus, dass er sie weitgehend zensurfrei in die Öffentlichkeit trägt.
Ähnliches gilt von seinem Antifeminismus. Seinen ersten Bucherfolg konnte Zemmour 2009 erringen, mit einem Essay, der den Titel «Le premier sexe» (das starke Geschlecht) trug. Es sollte ein Gegenpamphlet sein zu Simone de Beauvoirs «Le deuxième sexe» (das andere Geschlecht). Die in quälender Länge ausgewalzte These: Die Virilität im Abendland ist akut bedroht. Denn: «Der Mann ist zwar nicht verschwunden, aber er hat sich gewandelt. Er ist zur Frau geworden … Der virile Macho ist vergessen, der Casanova mit männlicher Verführungskraft ist verfemt. Das starke Geschlecht existiert nur noch dem Namen nach.» Nicht ganz überraschend hat die Online-Zeitung «Mediapart» diesen April ein dickes MeToo-Dossier zu Eric Zemmour veröffentlicht. Auch dies hat seiner Popularität jedoch keinen Abbruch getan.
Es kann nicht verwundern, dass Zemmour Donald Trump zu seinem grossen Vorbild erklärt. Obwohl er eine französische, eindeutig belesenere Variante ist, verdankt Zemmour genau wie Trump seine Bekanntheit dem Fernsehen. Als Roger-Köppel-artiger Krawallbruder geistert er seit langen Jahren durch das Late-Night-TV-Programm, das in Frankreich von endlosen Talkshows mit festen Gästen dominiert wird. Für politische Pöbeleien und geschmacklose Anzüglichkeiten war er immer ein verlässlicher Wert. So machte der auffällig kleinwüchsige Zemmour über fast zwei Jahrzehnte Karriere als eigentliches Einschaltquoten-Rumpelstilzchen. Heute ist er ein politischer Machtfaktor.
Man kann sich damit trösten, dass es zum jetzigen Zeitpunkt eher unwahrscheinlich erscheint, dass Zemmour, sollte er in den zweiten Wahlgang kommen, dann auch Emmanuel Macron schlagen könnte. Allerdings sollte man auf allzu solide Gewissheiten momentan wohl besser nicht bauen. Auch die Aussicht auf eine in Frankreich hinter Zemmour geeinte, massive, erstarkte extreme Rechte ist alles andere als erhebend. Vor zwei Jahren hat Constantin Seibt in einem Republik-Essay dargelegt, dass wir in der politischen Ära der Horrorclowns leben. Es bestand die Hoffnung, dass diese Ära mit der Abwahl von Trump an ein Ende kommt. In Europa könnte sie noch vor uns liegen.
Hinweis: Wir haben das in der ersten Version verwendete Wort «Quoten-Rumpelstilzchen» ergänzend geändert – um allfällige Missverständnisse auszuräumen und klarzumachen, worum es dem Autor an dieser Stelle geht: um die Einschaltquote.
Illustration: Alex Solman