Wird wirklich alles teurer? Warum gerade alle von Inflation reden
Wird Energie teurer, steigen auch die Preise für alltägliche Waren und Dienstleistungen. Wie schlimm die Teuerung aktuell tatsächlich ist? Kommt darauf an, wohin man schaut.
Von Simon Schmid, 18.10.2021
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Am Ende dieses Datenbriefings werden Sie eine Idee davon haben:
Was Sie vom jüngsten Anstieg der Kohle-, Gas-, Öl- und Strompreise halten sollen
Wie es um die Weltwirtschaft gerade so steht, im grossen Ganzen und im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie
Und ob demnächst eine Inflation droht und Sie sich Sorgen machen müssen, dass bald alles mehr kostet
Zum Einstieg zwei Schätzfragen:
Falls Sie bei der ersten Frage auf den tiefsten und bei der zweiten Frage auf den höchsten Wert getippt haben: Gratuliere! Sie sind entweder Thomas Jordan (hallo, Herr SNB-Präsident!) oder haben ein gutes Gespür für Zahlen.
Falls nicht: Willkommen in der wundersamen Welt der Inflation.
Durch diese Welt fegt gerade ein heftiger Sturm. In den Vereinigten Staaten und in Deutschland ist die Teuerung derzeit so hoch wie seit fast 30 Jahren nicht mehr; in Grossbritannien steht sie auf einem 10-Jahres-Hoch. Und so manche Zeitungen fragen: Droht eine dauerhaft höhere Inflation?
Antworten darauf erhält man, wenn man sich die Daten zur Inflation über einen längeren Zeitraum anschaut und sie auf geeignete Weise aufbereitet.
Genau das tun wir in diesem Datenbriefing.
Schweiz
Für die Schweiz drängt sich die Einschätzung sehr rasch auf: Nein, hier drohen keine hohen Inflationsraten, weder temporär noch auf Dauer.
Dazu eine erste Grafik. Sie reicht von 2010 bis 2021 und zeigt, wie stark die Konsumentenpreise (gemessen gegenüber dem Vorjahresmonat) in dieser Zeit jeweils gestiegen sind. Abgebildet sind jeweils zwei Komponenten:
Der Inflationsbeitrag der Energie (darin enthalten sind die Kosten für Elektrizität, fürs Heizen und für Treibstoffe wie Benzin und Diesel)
Der Beitrag aller restlichen Posten im Warenkorb (Kleider, Hausrat, Gesundheit, Kommunikation, Freizeit etc.: die sogenannte Kerninflation)
Gemäss den jüngsten Erhebungen beträgt die Inflation zurzeit 1 Prozent. Im historischen Vergleich ist das nichts Aussergewöhnliches. Während der letzten zehn Jahre schwankte die Inflation stets etwas: Mehrmals fiel sie in den Bereich von minus 1 Prozent, mehrmals stieg sie leicht über 1 Prozent.
Ein Blick auf den rechten Rand der Grafik zeigt ausserdem zwei Sondereffekte. Sie sind für den jüngsten Inflationsanstieg verantwortlich.
Der sogenannte Basiseffekt: Während der Pandemie fielen die Preise, nun steigen sie wieder. Die vermeintliche Zunahme der Teuerung (in den allerjüngsten Zahlen) ist in Wirklichkeit (wenn man auch das Jahr 2020 mit betrachtet) also ein Nullsummenspiel – ein Aufholeffekt, eine Normalisierung. Der Landesindex der Konsumentenpreise steht heute jedenfalls nicht höher als im August vor zwei Jahren. Das bedeutet, dass die Lebenskosten in der Schweiz seither nicht zugenommen haben.
Der Einfluss der Energiepreise: Sie machen zwar nur einen Bruchteil der Ausgaben von Schweizer Haushalten aus (wer über ein Monatsbudget von 5000 Franken verfügt, gibt typischerweise rund 250 Franken für Strom, Benzin und andere Energieträger aus). Doch weil die Energiepreise meist viel stärker schwanken als die Preise der anderen Posten im Warenkorb (denken Sie etwa an einen Kino- oder Coiffeurbesuch, an einen Fernseher oder einen Haarföhn), wirbeln sie die Inflation durcheinander. Manchmal (2020) drücken sie die Inflation nach unten, manchmal (2021) nach oben.
Man kann die Grafik ungefähr so zusammenfassen: Während der Pandemie wurde das Budget eines typischen 5000-Franken-Haushalts um 50 Franken entlastet, nun wird es wieder um 50 Franken belastet (hauptsächlich wegen schwankender Benzinpreise). Das ist nun wahrlich kein Grund zur Panik.
Falls Sie Thomas Jordan sind, sehen Sie das sicher auch so. Und falls nicht, dürfte es nicht schwierig sein, nachzuvollziehen, warum es für die Schweizerische Nationalbank nicht besser laufen könnte. Die Teuerung liegt genau in der Mitte des Zielbandes von 0 bis 2 Prozent, das die Nationalbank mit Preisstabilität gleichsetzt.
Doch wie sieht es in anderen Wirtschaftsräumen aus? Schwenken wir zuerst zum wichtigsten Handelspartner der Schweiz: in die Länder der Eurozone.
Eurozone
Hier erkennen wir eine ähnliche Inflationsdynamik wie in der Schweiz. Allerdings auf einem höheren Niveau, wie die folgende Grafik zeigt:
Seit 2010 verzeichnen die Länder der Eurozone eine durchschnittliche Teuerung von 1,3 Prozent. Aktuell liegt sie mit 3 Prozent deutlich über dem Durchschnittswert und auch deutlich über dem Ziel der Europäischen Zentralbank – diese strebt eine Inflation von nicht ganz 2 Prozent an.
Doch knapp die Hälfte der aktuellen Teuerung geht auch in der Eurozone auf die steigenden Energiepreise zurück. Zieht man diesen Sondereffekt ab, so liegt die verbleibende Kerninflation noch bei gut 1,5 Prozent – also bei einem volkswirtschaftlich wie auch geldpolitisch völlig unproblematischen Wert.
Trotzdem gibt es Journalisten, die sich Sorgen machen. Hohe Energiepreise könnten zu Wirtschaftseinbussen und Inflationsschüben führen, befürchten sie – und womöglich auch gleich noch die Klimawende verunmöglichen.
Dieses Szenario ist unrealistisch. Und zwar aus mehreren Gründen:
Die Energieteuerung ist ein Einmaleffekt. Erdöl ist auf das Niveau von 2018 gestiegen, Erdgas auf jenes von 2010 und Kohle auf ein Allzeithoch. Das wird sich über die kommenden zwölf Monate hinweg in höheren Inflationsraten niederschlagen. Doch danach bleibt die Energieteuerung konstant oder weist sogar in die entgegengesetzte Richtung: abwärts.
Es sei denn, die höheren Preise der fossilen Energieträger diffundieren über sogenannte Zweitrundeneffekte in die restliche Wirtschaft und heizen so die generelle Teuerung an. Doch auch dies scheint unrealistisch. Denn die Tage der Kohle sind gezählt: Praktisch alle Länder haben den Ausstieg aus der Stromproduktion mit Kohle beschlossen. Es gibt weltweit noch immer grosse Kohlereserven, doch die Nachfrage geht zurück – je nach Klimaschutz-Szenario sogar sehr rasch. Das spricht langfristig eher für tiefe als für hohe Preise. (Der jüngste Anstieg hat vor allem damit zu tun, dass sich China in seiner diesjährigen Planung komplett vertan hat.)
Ähnliches gilt fürs Erdöl. Auch hier dürfte der Preis eher sinken als steigen. Zurzeit kostet ein Fass Öl rund 80 Dollar – Firmen wie BP rechnen mittel- bis langfristig jedoch mit 45 bis 60 Dollar. Und selbst wenn die Öl- und Gaspreise nicht wieder sinken: Ihr derzeitiges Niveau entspricht ungefähr dem historischen Schnitt seit 2005. Könnte die Weltwirtschaft nicht mit solchen Energiepreisen umgehen, hätte die Inflation also längst kommen müssen. Doch das ist nicht passiert. Im Gegenteil: Kennzeichnend für die letzten zwei Jahrzehnte war eine niedrige Inflation.
Kurz: Energiepreise dürften die Weltwirtschaft nicht aus ihren Angeln heben; die Inflationsgefahr bleibt moderat. Das sieht – ungeachtet der Warnungen an die Adresse von Zentralbanken – auch der Internationale Währungsfonds so, wie aus einer Analyse in seinem neuen Wirtschaftsbericht hervorgeht.
Warum also die ganze Aufregung?
Vereinigte Staaten
Um das zu verstehen, lohnt sich der Blick in die USA. Dort sehen die Inflationszahlen etwas dramatischer aus: Schon seit mehreren Monaten liegt die Teuerung der Konsumentenpreise über 5 Prozent. Das ist deutlich über dem Schnitt des letzten Jahrzehnts (1,9 Prozent) und auch deutlich über dem Inflationsziel, das die amerikanische Zentralbank anstrebt (2 Prozent).
Auch in den USA wird die Teuerung derzeit durch die Energiepreise verzerrt. Doch wie die Grafik zeigt, greift dies zu kurz. Allein die Kerninflation – sie umfasst sämtliche anderen Posten im Warenkorb – beträgt fast 4 Prozent.
Verständlicherweise laufen die Debatten deshalb heiss. Finanzexperten warnen im TV mit ernster Miene davor, dass die Inflation «doch nicht so vorübergehend sein könnte, wie die Märke dachten». Kommentatorinnen schreiben, dass die Inflation jetzt «unbestreitbar» und dauerhaft da sei. Und selbst Jerome Powell, Chef der Federal Reserve, räumt ein, dass man bei der US-Notenbank von der Schärfe der Inflationsanstiegs überrascht wurde.
Wie kam es dazu?
Aus den Daten geht hervor, dass neben Benzin und Gas zuletzt eine ganze Reihe von Dingen teurer geworden sind: Rindfleisch, Schlafzimmermöbel, Waschmaschinen, Gebrauchtwagen, Mietautos, Essen im Restaurant und Übernachten im Hotel. Woran das liegt, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Ein gemeinsamer Faktor liegt jedoch auf der Hand: die Corona-Pandemie.
Seit ihrem Ausbruch sind die globalen Lieferketten gestört. Es dauert länger und kostet mehr, Container von China in die USA zu verschiffen. Engpässe bei der Produktion von Hightech-Gütern wie Mikrochips, aber auch bei Turnschuhen oder Flaschen für schottischen Whiskey sind entstanden. Ein grosses Thema in der US-Wirtschaftspresse ist, ob zu Weihnachten die Regale wieder voll sind, wenn das Geschäft mit den Geschenken beginnt.
Neben dieser Klemme bei der Güterproduktion – die eigentlich gar kein so schlechtes Zeichen ist, da sie auf eine ungebrochene Konsumstimmung hindeutet – wirkt in den USA eine weitere Gegebenheit preistreibend: Die Nutzenfunktion der Bevölkerung hat sich zugunsten der Freizeit und zulasten der Arbeit verschoben. Oder, um es im Ökonomenjargon zu formulieren: Angestellte haben keine Lust mehr, in ihre unterbezahlten Scheissjobs bei McDonald’s, Burger King und Co. zurückzukehren.
Die «New York Times» hat dieses Phänomen im August in einem Podcast aufgearbeitet: Die Pandemie hat offenbar viele Amerikanerinnen zum Nachdenken gebracht – darüber, ob sie mit ihrem Leben zufrieden sind oder ob sie sich beruflich neu ausrichten wollen. Auf dem US-Arbeitsmarkt scheint jedenfalls etwas in die Gänge gekommen. Das unterstreichen auch die Zahlen: Es sind mehr Stellen ausgeschrieben, als Leute einen Job suchen.
Während fast zwei Jahrzehnten war dies anders. Bemerkenswerterweise hat sich das Blatt aber gewendet – und zwar schon kurz vor der Pandemie: Neu sind nicht mehr die Jobs Mangelware, sondern die Leute, die diese Jobs ausführen sollen. Tendenziell führt das zu höheren Löhnen und Preisen.
Wie lange diese Konstellation anhält – weltwirtschaftlicher Aufschwung trifft auf gestörte Lieferketten, Personalmangel trifft auf unmotiviertes Personal – ist schwer zu sagen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD oder der Internationale Währungsfonds IWF rechnen damit, dass der Inflationsdruck bald die Spitze erreicht und im Verlauf des kommenden Jahres kontinuierlich abebbt. Diese Prognose hängt aber nicht unwesentlich vom Verlauf der Pandemie ab: Je rascher die Weltbevölkerung durchgeimpft wird und je schneller die Fallzahlen sinken, desto rascher normalisiert sich auch die Weltwirtschaft – und mit ihr die Teuerung.
Und die Energiepreise?
Über sie wird man sicher auch in Zukunft reden: im Zusammenhang mit Energiewende und Klimaschutz – aber kaum im Kontext der Inflation.
In einer früheren Version haben wir von «Begebenheit» statt korrekt von «Gegebenheit» geschrieben. Wir entschuldigen uns für den Fehler und bedanken uns für den Hinweis aus der Verlegerschaft.
Sie stammen vom Bundesamt für Statistik (Schweiz), von Eurostat (Eurozone) sowie vom U.S. Bureau of Labor Statistics (USA). Die Behörden stellen auf ihren Websites jeweils aktuelle Inflationszahlen in unterschiedlichen Formaten zum Download bereit. Die Definition davon, was zur «Kerninflation» zählt und was nicht, ist dabei nicht ganz einheitlich. Oft werden neben der Energie auch die Nahrungsmittel aus der Kerninflation ausgeklammert, weil sie grösseren (saisonalen) Schwankungen ausgesetzt sind als die meisten anderen Posten.