Wann ist reich zu reich?

Die 99-Prozent-Initiative fordert die höhere Besteuerung von Kapital­erträgen – und damit mehr Umverteilung. Was heisst das eigentlich genau?

Von Lukas Häuptli, 09.09.2021

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Ein Problem der 99-Prozent-Initiative liegt darin, dass sie von vielen nicht verstanden wird. Dass nicht verstanden wird, was es mit den 99 Prozent auf sich hat. Welch grund­sätzlicher Unter­schied zwischen Erwerbs­einkommen und Vermögens­einkommen besteht. Und aus welchem Grund in jedem entwickelten Staat Geld umverteilt wird.

Das mangelnde Verständnis hat auch mit der sperrigen Terminologie der Steuer­politik zu tun. Worum geht es wirklich bei der Initiative der Jung­sozialistinnen (Juso), die am 26. September zur Abstimmung kommt?

Die Vorlage, kurz erklärt in sieben Punkten.

1. Was will die Initiative?

Ziel der Initiative ist die höhere Besteuerung von sogenanntem Vermögens­einkommen. Dazu zählen unter anderem:

  • Zinsen aus Erspartem (die gegenwärtig bei null bis unter null liegen);

  • Gewinne aus Aktien­geschäften (die in den letzten Jahren durch­schnittlich stiegen bis stark stiegen);

  • Dividenden sowie Erträge aus Vermietungen und Immobilien­geschäften (die ebenfalls steigen).

Konkret sollen Kapital­erträge «im Umfang von 150 Prozent statt 100 Prozent» versteuert werden, wie es im Initiativ­text heisst. Vermögens­einkommen unter einer bestimmten Grenze wären von der höheren Besteuerung allerdings ausgenommen. Die Höhe dieser Grenze ist im Initiativ­text nicht festgelegt; sie soll vom Parlament im Umsetzungs­gesetz bestimmt werden. Die Initianten schlagen 100’000 Franken vor. Mit dem sogenannten Frei­betrag wollen sie verhindern, dass der sparende Mittel­stand belastet wird.

Das würde zum Beispiel so aussehen: Eine Person erzielt in einem Jahr einen Kapital­ertrag von 200’000 Franken. Davon muss sie 100’000 Franken, nämlich den «Freibetrag», im Umfang von 100 Prozent versteuern, die weiteren 100’000 Franken aber im Umfang von 150 Prozent. Das heisst, für sie fallen Steuern auf ein Vermögens­einkommen von 250’000 Franken an.

2. Wer ist wichtiger: Der Arbeits­tätige oder die Reiche?

Die Juso sind der Meinung, dass Vermögens­einkommen in der Schweiz zu tief besteuert werden – vor allem im Vergleich zu Erwerbs­einkommen, also Löhnen. Tatsächlich ist es so, dass verschiedene Kapital­erträge heute steuerlich begünstigt sind; Gross­aktionäre müssen beispiels­weise lediglich auf 70 Prozent ihrer Dividenden Steuern zahlen.

Es geht hier auch um eine grund­sätzliche Frage: Was ist wichtiger für das Funktionieren von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft, das Erwerbs­einkommen oder das Vermögens­einkommen? Ist wichtiger, dass das eine oder das andere gefördert und durch hohe Steuern zumindest nicht behindert wird? Zum Beispiel: Sollen die 300 Franken, die eine Lehrerin an einem Arbeits­tag verdient, höher, gleich oder tiefer besteuert werden als die 300 Franken, die ein Aktionär als Dividende erhält?

Wer Arbeit fördern und belohnen will, spricht sich für das eine aus. Wer Vermögens­bildung als Grundlage von Investitionen sieht, für das andere.

3. Führt die Initiative zu Umverteilung?

Ja, jede Steuer führt zu Umverteilung. Die Initiantinnen gehen von folgenden Annahmen aus: Die Steuer­erhöhungen treffen Steuer­pflichtige mit Vermögen von über 3 Millionen Franken; das sind die rund 80’000 reichsten Steuer­pflichtigen der Schweiz. Dadurch nimmt der Staat im Jahr zusätzlich etwa 10 Milliarden Franken ein. Dieses Geld soll, so steht es im Initiativ­text, für die steuerliche Entlastung von tiefen und mittleren Löhnen sowie für die soziale Wohlfahrt verwendet werden. Als Beispiele nennen die Initianten die Verbilligung von Kranken­kassen­prämien oder von Kinder­tages­stätten.

Der Bundesrat zieht die milliarden­schweren Mehr­einnahmen allerdings in Zweifel. Sollte die Initiative angenommen werden, drohe der Wegzug von reichen und sehr reichen Steuer­pflichtigen. Das mindere die entsprechenden Erträge.

4. Braucht es mehr Umverteilung?

Ja, sagt die politische Linke. Nein, halten Mitte, Rechte, Bundesrat und die Mehrheit des Parlaments dagegen. Fest steht: Der Unter­schied zwischen den höchsten und den tiefsten Löhnen in der Schweiz, der sogenannte Gini-Koeffizient, bewegt sich im europäischen Mittel. Anders sieht es bei den Vermögen aus: Hier ist die Differenz zwischen den Reichsten und den Ärmsten der Schweiz im inter­nationalen Vergleich über­durchschnittlich gross.

5. Wer sind die 99 Prozent? Und wer ist das andere Prozent?

Die Begriffe stammen aus der Occupy-Wall-Street-Bewegung, die im Jahr 2011 auf Demonstrationen in New York und später weltweit den Slogan «We are the ninety-nine percent» (Wir sind die neun­undneunzig Prozent) skandierte. Die «99 Prozent» zielten auf die ungleiche Vermögens­verteilung in den USA ab: Damals besass das reichste Prozent der amerikanischen Bevölkerung gegen 40 Prozent der US-Vermögen. In der Schweiz herrschen heute vergleichbare Verhältnisse: Das reichste Prozent besitzt rund 43 Prozent aller Vermögen, wie die Juso aufgrund der Schweizer Vermögens­statistik errechnet haben. Gemäss dieser verfügten 2017 rund 17’000 Steuer­pflichtige in der Schweiz über ein steuerbares Vermögen von mehr als 10 Millionen Franken.

Offiziell heisst das Begehren der Jung­sozialisten allerdings gar nicht 99-Prozent-Initiative. Es trägt den Titel: «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern.»

6. Wer ist für die Initiative? Wer dagegen?

Juso, SP, GP, EVP und Gewerkschaften empfehlen die Initiative zur Annahme. Die damit verbundene Umverteilung stärke die Kauf­kraft der Bevölkerung und führe zu mehr steuerlicher und sozialer Gerechtigkeit, sagen sie. Gegner der Vorlage sind SVP, FDP, Mitte und GLP sowie Wirtschafts­verbände wie Economie­suisse und Gewerbe­verband. Auch der Bundesrat und die Mehrheit des Parlaments lehnen die Initiative ab. Sie führen ins Feld, die Steuer­erhöhungen würden Sparerinnen strafen sowie dem Steuer- und Wirtschafts­standort Schweiz schaden. Was im Verlauf des Abstimmungs­kampfs dazukam: Weil der Initiativ­text verschiedene Fragen offenlässt (etwa die Höhe des eingangs erwähnten Frei­betrags), stellen die Gegner der Initiative in Aussicht, dass diese nicht nur die Reichen und Reichsten trifft, sondern auch den Mittel­stand.

7. Welche Chancen hat die Vorlage?

Keine allzu grossen. Zwar gaben in der ersten SRG-Umfrage von Mitte August 46 Prozent der Befragten an, sie seien für die Initiative. 45 Prozent sprachen sich dagegen aus. Aber erstens ist bei Initiativen der Ja-Stimmen-Anteil an der Urne erfahrungs­gemäss tiefer als in den Umfragen. Und zweitens dürfte es eine Initiative der Juso schwer haben, das Stände­mehr zu schaffen.

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