Am Gericht

Der Karton büxt aus

Das Zürcher Statthalter­amt büsst einen 25-Jährigen, weil er zwei Schachteln durch die halbe Stadt transportiert und illegal entsorgt haben soll. Der hält die Vorwürfe für einen schlechten Witz. Bis er vor dem Strafrichter antraben muss.

Von Brigitte Hürlimann, 08.09.2021

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In der Pandemie blüht der Online­handel. Das bedeutet nicht zuletzt, dass deutlich mehr Verpackungs­material benötigt wird – Karton­schachteln unter anderem. Zum Glück ist die Schweizer Bevölkerung Welt­meisterin im Abfall­trennen. Das Bundes­amt für Umwelt registrierte 2019 für die Schweiz und Liechten­stein über eine Million Tonnen an gesammeltem Papier und Karton, was einer Sammel­quote von 82 Prozent entspreche. Pro Kopf machte dies knapp 140 Kilo­gramm Altpapier und Altkarton aus; ein Rohstoff, der in den Recycling­prozess eingespeist wird.

Für das Jahr 2020 dürfte sich dieser Wert nochmals markant erhöhen. Auch wenn die einschlägigen Statistiken noch nicht publiziert sind: Die Karton­berge, die sich vor den Sammel­tagen landauf, landab auf den Trottoirs türmen, haben ein eindrückliches Ausmass angenommen.

Was allerdings manche nicht ahnen: Korrektes, gesetzes­konformes Recyceln ist gar nicht so einfach. Auch dann nicht, wenn es um Privat­haushalte geht. Läuft etwas schief, droht schlimmsten­falls ein Termin vor dem Strafrichter.

Ort: Bezirks­gericht Zürich
Zeit: 25. August 2021, 13.30 Uhr
Fall-Nr.: GC210020
Thema: Ablagern von Abfällen im Freien

Er habe es lange nicht ernst genommen. Er sei überzeugt gewesen, dass alles ein Irrtum sei. Ein schlechter Witz. Eine Bagatelle. Auf jeden Fall nichts, wofür es sich gelohnt hätte, Zeit, Gedanken und Energie zu verschwenden.

So dachte Jason Studerus, 25 Jahre alt, Product-Manager, Fotograf und Yoga-Lehrer. Hunde­liebhaber. Wohnhaft in Zürich, an bevorzugter Lage am Zürich­berg. Beinahe-Knaben­­schiessen-Schützen­könig (2010) und Beinahe-Vorbestrafter (2021). Beschuldigter in einem Straf­verfahren und verdächtigt, gegen Paragraf 14 Absatz 1 des Zürcher Abfall­­gesetzes verstossen zu haben.

«Ausgerechnet ich!»

Bei einem Schuld­spruch droht dem Täter gemäss Paragraf 39 Absatz 1 Litera f des gleichen Gesetzes eine Busse bis zu 50’000 Franken. Bei Gewinn­sucht – wenn also der Abfall­sünder mit seinem scham­losen Tun auch noch Geld verdient – kann eine Busse in unbeschränkter Höhe verhängt werden.

Um es gleich vorweg­zunehmen: Gewinn­sucht wird bei diesem Straffall kein Thema sein …

«Es ist einfach absurd, was geschehen ist. Eine haar­sträubende Geschichte. Und unfassbar, was für ein Aufwand betrieben wurde und immer noch wird. Wie viel Steuer­geld ist verpulvert worden? Haben unsere Behörden nichts anderes zu tun? Keine anderen Probleme?»

Von vorn.

Ein Gespräch kurz vor dem Prozess

Wir treffen uns wenige Stunden vor der Haupt­verhandlung zum Gespräch. Der 25-Jährige hat weder eine Ahnung, wo sich Saal Nummer 4 im Bezirks­gericht Zürich befindet, noch weiss er, wie ein Straf­prozess so in etwa verläuft. Unter­lagen bringt Jason Studerus keine mit. Den Straf­befehl, den er angefochten hat, weshalb es zum Prozess kommt, hat er längst entsorgt.

«Wie gesagt, ich habe die Sache einfach nicht ernst genommen. Vermutlich war das falsch.»

Jason Studerus hat zwar eine Kopie des Straf­befehls angefordert, aber die ist bis zum Prozess­termin nicht bei ihm eingetroffen. Das wundert ihn nicht weiter. Es ist für ihn eine Sonderlich­keit mehr in einem Verfahren, das er grund­sätzlich nicht nach­vollziehen kann.

«Ich soll ein Abfall­sünder sein? Seit ich denken kann, zerlege ich jeden Joghurt­becher in seine Einzel­teile, trenne und entsorge das Material. Ich bündle Papier und Karton und stelle alles pünktlich und am richtigen Ort auf die Strasse. Ich bringe Flaschen, PET und Batterien zurück, lese bei meinen Wald­spaziergängen den Abfall auf. Ich fahre Velo, auch den Zürich­berg hoch. Es gehört zu meiner Grund­einstellung und Lebens­philosophie, dass man der Natur und der Umwelt Sorge tragen muss.»

Zwei Schachteln auf Reisen

Seine Begegnung mit der Straf­justiz hat mit zwei Karton­schachteln zu tun. In der einen, der grösseren, habe sich veganes Hunde­futter befunden, sagt Studerus, das wisse er noch genau. In der zweiten vermutlich ein Staub­sauger. Beide Schachteln, davon ist er überzeugt, habe er an seinem Wohnort zum bereits vorhandenen Karton­berg getragen, kurz vor dem Sammel­termin. Alles korrekt und regel­konform. So wie er es immer tue.

Die besagten Karton­schachteln wurden allerdings Tage später in einem ganz anderen Stadt­teil Zürichs aufgefunden. In Schwamen­dingen, ennet dem Zürich­berg. Das Corpus Delicti lag auf dem Trottoir, vor einem Wohn­block, der schon bessere Tage gesehen hat. Wiederum als Teil eines Karton­bergs. Aber zu einem Zeitpunkt, an dem keine Sammlung bevorstand.

Es handelte sich also um einen illegalen Karton­berg – der die Aufmerksamkeit von Ordnungs­hüterinnen erregte oder von verärgerten Anwohnern denunziert wurde, wer weiss. Auf jeden Fall wurde der Karton­berg behördlich inspiziert. Und siehe da: Auf den zwei Schachteln klebte fein säuberlich die Adresse von Jason Studerus. Eine Adresse, die knapp fünf Kilometer von der gesetzes­widrigen Karton­deponie entfernt liegt.

«Wie und vor allem warum hätte ich zwei Karton­schachteln von Hottingen nach Schwamendingen transportieren sollen?», fragt Studerus, zuerst im Gespräch mit der Republik und anschliessend auch vor Straf­richter Tobias Brütsch. Zu Fuss hätte er für die Schachtel-Verschiebe-Aktion eine gute Stunde gebraucht, wäre am Zoo Zürich vorbei­gekommen und hätte einen schönen, dichten Wald durchquert (und dabei den Müll aufgelesen). Mit öffentlichen Verkehrs­mitteln hätte er mehrfach umsteigen müssen. Für einen Transport mit dem Velo waren die Schachteln fast zu gross, auch wenn sie der Täter zusammen­gefaltet haben sollte.

Im Vordergrund dieses Straf­prozesses stehen deshalb folgende vier Fragen:

  1. Wer hat die beiden Karton­schachteln von Hottingen nach Schwamen­dingen gebracht?

  2. Was ist das Tatmotiv?

  3. Gibt es andere Indizien für die Täterschaft als die aufgeklebten Adressen und das Geständnis von Jason Studerus, dass sich die Schachteln vor dem rätselhaften Ausbüxen in seinem Besitz befanden?

  4. Kann dem Verdächtigten die Schuld am illegalen Deponieren (falscher Ort, falscher Zeitpunkt) hieb- und stichfest nach­gewiesen werden?

Der Prozess

Strafrichter Tobias Brütsch eröffnet pünktlich um 13.30 Uhr die Haupt­verhandlung; er erledigt den Fall in Einzel­richter­kompetenz. Vom Statthalter­amt, das dem Beschuldigten per Straf­befehl eine Busse von 120 Franken plus 150 Franken Kosten auferlegt hatte (macht total 270 Franken), ist niemand erschienen. Studerus sitzt allein vor dem Richter, der ihn auf sein Aussage­verweigerungs­recht aufmerksam macht. Der Beschuldigte bittet darum, dass man ihm den Straf­befehl nochmals vorlege. Dann beginnt die richterliche Befragung. Erst zur Person, dann zur Sache.

Studerus bekräftigt, dass er an seiner Einsprache festhalte. Und ja, die beiden Schachteln hätten ihm gehört, er habe sie kurz vor der Karton­sammlung vor seinem Haus aufs Trottoir gestellt, völlig regel- und gesetzes­konform.

Richter: «Können Sie sich erklären, wie die Schachteln nach Schwamen­dingen kamen?»

Beschuldigter: «Nein. Ich kenne diese Strasse in Schwamen­dingen nicht, ich war noch nie dort. Es macht einfach keinen Sinn, dass ich damit etwas zu tun haben soll.»

Richter: «Sie haben das Recht auf ein Schluss­wort. Möchten Sie dem Gericht noch etwas mitteilen?»

Beschuldigter: «Ja, vielleicht noch das. Es tut mir leid, wie ich mich bei der Befragung vor dem Statthalter­amt benommen habe, das verlief nicht so ruhig. Ich habe die Nerven verloren.»

Richter: «Verlangen Sie eine Umtriebs­entschädigung, falls Sie freigesprochen werden?»

Beschuldigter: «Nein.»

Nach einer knapp zwanzig­minütigen Verhandlung zieht sich der Richter mit dem Gerichts­schreiber und der Auditorin zur geheimen Urteils­beratung zurück. Jason Studerus wartet draussen. Inzwischen sind auch seine Mutter und seine Freundin eingetroffen, sie erkundigen sich bange nach dem bisherigen Verlauf. Sollte es schief heraus­kommen, beteuern beide, würden sie im Saal intervenieren. Ein entsprechender Protest­karton ist bereits vorbereitet.

Aber was war da genau bei der Einvernahme im Statthalter­amt, die nicht so optimal verlaufen sein soll?

Studerus holt aus: «Da flatterte eines Tages einfach diese Busse ins Haus, und ich war mir sicher, nichts Falsches gemacht zu haben. Also erhob ich Einsprache, aber ziemlich flapsig. Ich schrieb auf die Rückseite des Straf­befehls, dass ich bei diesem kniffligen Fall nicht weiter­helfen könne. Das war bestimmt nicht vorteilhaft. Monate später wurde ich zu einer Einvernahme vorgeladen. Ich ging hin, nahm es aber immer noch nicht ernst. Doch dann wurde ich von einer Juristin eine Stunde lang nach allen möglichen und unmöglichen Details ausgefragt, in einem Tonfall, als ob ich ein Verbrecher wäre. Da verlor ich die Contenance. Im Nach­hinein tut es mir leid. Sie hat ja nur ihren Job getan.»

Das Urteil

Die Urteils­eröffnung verzögert sich um eine halbe Stunde. Was die drei hinter der geschlossenen Tür wohl alles beraten? Dann endlich werden Studerus und seine Angehörigen in den Saal gebeten. Die Spannung steigt. Richter Brütsch räuspert sich. Und beginnt, den Urteils­spruch vorzulesen.

Jason Studerus wird freigesprochen. Es könne ihm nicht nach­gewiesen werden, dass er die Kartons nach Schwamendingen transportiert und dort deponiert habe. Es sei ein klassischer In-dubio-pro-reo-Fall: im Zweifel für den Angeklagten.

«Sie müssen keine Kosten tragen. Der Statthalter kann gegen das Urteil Berufung erheben. Die Haupt­verhandlung ist geschlossen. Einen schönen Tag noch.»

Der Saal leert sich rasch, und der Protest­karton bleibt unbenutzt in der Tasche liegen.

Illustration: Till Lauer

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