Wie viele Ausländer helfen den Schweizer Bäuerinnen?
In der Schweizer Landwirtschaft arbeiten viele Männer und Frauen aus dem Ausland. Doch längst nicht alle werden auch statistisch erfasst. Auf der Suche nach der richtigen Zahl.
Von Daniel Bütler, 06.09.2021
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Zwetschgen, Himbeeren, Zucchetti, Tomaten, Broccoli: Die Auslagen in den Grossverteilern sind voll mit Früchten, Beeren und Gemüse. Anders als im Winter ist vieles davon in der Schweiz gewachsen. Wer über Land fährt, sieht überall auf den Feldern Männer und Frauen an der Arbeit. Das müssen die hart arbeitenden Schweizer Bauernfamilien sein, von denen in der Agrardebatte so viel die Rede ist, denkt da manche Städterin.
Doch in der Hochsaison im Sommer sind in den Schweizer Betrieben auch Tausende von Arbeiterinnen aus dem Ausland am Werk. Mehrheitlich sind es Männer, vielleicht ein knappes Drittel sind Frauen. Die meisten werden im Gemüse-, Beeren- und Obstbau gebraucht, wo sie Spargeln stechen, jäten oder ernten: Erdbeeren, Äpfel, Kartoffeln. Auch in grösseren Tierhaltungsbetrieben sind sie unverzichtbar. Und manch eine Alpwirtschaft hätte ohne Hirtinnen aus dem Ausland längst aufgegeben werden müssen.
Die Arbeitswochen sind intensiv, wie der Schweizer Bauernverband bestätigt: Gearbeitet wird 55 Stunden oder mehr, oft an sechs Tagen pro Woche. Der Minimallohn beträgt 3300 Franken. Für Schweizer Verhältnisse ist das wenig. Für einen Rumänen, der in der Heimat 300 Euro verdient, ist es viel. Früher waren es Italienerinnen, Jugoslawen oder Spanierinnen, heute reisen die Arbeiter – fast alle stammen aus EU-Ländern – mehrheitlich aus Portugal, Polen oder eben Rumänien an. Meist haben sie Kost und Logis im Betrieb. Die Kosten dafür werden ihnen vom Lohn abgezogen, dafür müssen sie sich nicht um die Wohnungssuche kümmern. Und nebst jäten und ernten nicht auch noch kochen.
Wie wichtig diese Mitarbeitenden sind, hat sich im Frühling des letzten Jahres gezeigt. Als wegen der Pandemie die Grenzen geschlossen wurden, geriet die Branche in Aufruhr. Manch ein Landwirt fürchtete um seine Ernte. Die erfahrenen Spargelstecherinnen aus Polen oder Portugal waren nicht leicht zu ersetzen. Schon gar nicht durch Schweizer, die nicht mehr gewohnt seien, so lange und so hart zu arbeiten, wie es in der Branche heisst.
Gern gesehene Arbeitskräfte
In den letzten Jahrzehnten hat die Zahl der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft insgesamt stark abgenommen. Der Anteil der Ausländerinnen in diesem Bereich ist aber fast kontinuierlich leicht gestiegen.
Das ist noch etwas besser erkennbar, wenn man den Ausländeranteil auch tatsächlich als Anteil – in Prozent aller Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, mit einer entsprechend skalierten y-Achse – darstellt.
Gemäss diesen Daten sind heute auf den gut 49’000 Bauernhöfen in der Schweiz fast 18’000 ausländische Arbeitskräfte tätig. Das entspricht 12 Prozent des Totals von knapp 150’000 Arbeitskräften.
Zum Vergleich: Beim Personal in Spitälern sind rund ein Drittel Ausländer. Und in der Uhrenindustrie sind allein 30 Prozent Grenzgängerinnen, der gesamte Ausländeranteil demnach höher.
Doch diese Zahlen sind zu tief. Denn sie beziehen sich auf den Winter.
12 Prozent – kann das sein?
Quelle für diese Zahlen ist die jährlich vom Bundesamt für Statistik im Januar durchgeführte Strukturerhebung bei allen Betrieben. Im Winter läuft in der ausgesprochen saisonalen Landwirtschaftsbranche wenig, es gibt kaum zu tun auf den Feldern. Arthur Zesiger vom Bundesamt für Statistik sagt denn auch: «Die Saisonalität wird in dieser Zahl nicht berücksichtigt.» Wie viele Ausländer es in der Hochsaison sind, weiss man beim Bundesamt für Statistik nicht. Man habe keinen Auftrag, dies zu erheben. Der zuständige Experte empfiehlt, sich an den statistischen Dienst des Schweizer Bauernverbands zu wenden. Und damit beginnt eine Odyssee, bei der freundliche Beamte immer wieder sagen: «Diese Zahl haben wir so nicht.»
Dass es keine verlässlichen Daten dazu gibt, wie viele Menschen ohne Schweizer Pass in der Landwirtschaft arbeiten, ist erstaunlich: Immerhin handelt es sich um die wohl bestdokumentierte Branche der Schweiz.
Der vom Statistikamt zu näheren Auskünften empfohlene Bauernverband schätzt die Zahl der ausländischen Arbeiterinnen auf 30’000 bis 35’000 – also fast doppelt so hoch wie die knapp 18’000, die das Bundesamt für Statistik angibt. Grundlage dafür ist eine Umfrage bei allen Einzelbranchen wie Obstbau, Gemüsebau und Viehzüchter. Wie zuverlässig diese Schätzung ist, kann man beim Bauernverband nicht klar sagen. Und auch sein Statistikdienst – er heisst Agristat – hat keine besseren Daten. Dessen Leiter empfiehlt wiederum das Bundesamt für Statistik. Dort heisst es, man solle sich ans Staatssekretariat für Migration wenden, welches für gewisse Fragen wieder ans Bundesamt für Statistik verweist.
Die meisten Daten hat aber das Staatssekretariat für Migration, das Buch führt über die Ausländerinnen in der Schweiz. Sie werden je nach Status in verschiedene Kategorien unterteilt. Für die Landwirtschaft relevant sind:
Niedergelassene (Bewilligung C);
Aufenthalter (Bewilligung B, mehrjähriger Aufenthalt);
Kurzaufenthalterinnen, länger als 12 Monate (Bewilligung L);
Kurzaufenthalter, kürzer als 12 Monate (Bewilligung L);
Asylsuchende (Bewilligung N);
vorläufig Aufgenommene (Flüchtlinge, Bewilligung F);
Meldepflichtige (1–3 Monate);
Grenzgänger.
Es dürften mehr sein
Wie viele dieser beim Staatssekretariat für Migration erfassten Personen arbeiten in der Landwirtschaft? Die meisten dieser Zahlen sind nicht öffentlich zugänglich, sie können aber bei den Behörden angefordert – und dann von Hand ausgewertet werden. Das ergibt folgende Werte für die Hochsaison im Sommer:
Addiert ergibt das 28’100 Ausländer, welche in der Landwirtschaft beschäftigt sind (während das Bundesamt für Statistik für 2019 nur 17’727 Personen ausweist). Basierend auf dieser Zahl wären somit in der Hochsaison 17,5 Prozent aller in der Landwirtschaft beschäftigten Personen Ausländerinnen – statt der offiziell ausgewiesenen 12 Prozent.
Allerdings gibt es Unsicherheiten bei den vom Staatssekretariat erfassten Kurzaufenthaltern sowie Grenzgängerinnen, die sich über das ganze Jahr verteilen. Ob sie alle im Juli in der Schweiz anwesend waren, ist zumindest zweifelhaft, lässt sich aber nicht aus den Daten herauslesen.
Unklar ist zudem, ob die knapp 18’000 vom Bundesamt für Statistik in der Strukturerhebung erfassten ausländischen Arbeiter zum gemeldeten Zeitpunkt im Winter anwesend sind oder ob es sich um einen Jahresschnitt handelt. Wie die Bäuerinnen die entsprechende Frage auf dem vorgelegten Formular interpretieren, wurde nicht untersucht. Möglicherweise arbeiten im Januar effektiv noch weniger Ausländer auf den Betrieben mit.
Der tatsächlich geleistete Beitrag
Die gesuchte Zahl unterscheidet sich also je nach Quelle. Die Ausländerinnen in der Schweizer Landwirtschaft stellen:
12 Prozent der Arbeitskräfte laut Bundesamt für Statistik (im Winter erhoben);
17,5 Prozent gemäss Republik-Analyse der Ausländerstatistiken (mit Fokus auf die Hochsaison);
bis zu 21 Prozent laut einer Umfrage des Bauernverbands.
Der tatsächlich geleistete Beitrag der Ausländer an der gesamten Agrararbeit könnte noch höher sein, als diese Zahlen suggerieren. Denn über die Hälfte der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft arbeitet Teilzeit, ein Drittel sogar weniger als 50 Prozent. Es handelt sich dabei um Bäuerinnen, die Familienarbeit leisten, um Bauern, die einen auswärtigen Nebenerwerb haben, oder ältere Familienmitglieder, die im Rahmen ihrer Kräfte mithelfen.
Geht man davon aus, dass die temporär Anwesenden – die grosse Mehrheit der ausländischen Arbeitskräfte – während ihrer Anwesenheit in der Regel Vollzeit arbeiten, so leisten sie möglicherweise mehr, als ihre blosse Anzahl vermuten lässt. Mangels sicherer Daten dazu, wer während wie vieler Monate wie viel arbeitet, lässt sich dies nicht exakt berechnen. Wer aber die Branche kennt, weiss: Besonders die strengen Handarbeiten auf grösseren Betrieben im Mittelland werden zu grossen Teilen von Ausländern erledigt.
Beim Bauernverband macht man keinen Hehl daraus, dass ohne ausländische Arbeiterinnen nichts geht. «Eine produzierende Landwirtschaft ist auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen», sagte Sprecherin Sandra Helfenstein zu «Swissinfo». Doch wenn es um ausländerpolitische Vorlagen wie die Personenfreizügigkeit geht, hält sich der Verband in der Regel zurück.
In der Vermarktung zelebriert die Branche «Swissness», etwa mit dem Marketingslogan «Schweizer Bauern. Von hier, von Herzen». Damit verbunden ist das Bild der fleissigen Bauernfamilien, die im Schweiss ihres Angesichts dem kargen Boden dieses Alpenlandes gesunde Lebensmittel abtrotzen. Ohne Zweifel arbeiten Schweizer Bäuerinnen viel, hart – und für wenig Geld. Doch hinter jedem Grossbauern steht auch eine fleissige Immigrantin.
Die Panik im Pandemiefrühling 2020 erwies sich am Ende als unbegründet. Die Landarbeiter konnten trotzdem in genügender Zahl in die Schweiz kommen. Wie stets in der Geschichte fand die Politik Mittel und Wege, die nötigen ausländischen Arbeitskräfte zu rekrutieren.
Daniel Bütler ist freier Journalist und Texter in Zürich. Er hat Germanistik und Wirtschaftsgeschichte studiert und schreibt regelmässig über Umweltthemen, unter anderem für den «Beobachter».