Seit Jahrzehnten zählen wir jedes Schweizer Huhn, aber nicht die leeren Pestizidkanister
Zum Pestizideinsatz in der Landwirtschaft weiss man vor allem – dass man vieles nicht weiss. Klar ist auch: Umweltziele werden verfehlt. Doch es kommt Bewegung in die Branche.
Von Daniel Bütler, 07.06.2021
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Wenn die Bauern als tumbe Giftspritzer dargestellt werden, schnellt bei Markus Ritter der Puls hoch. Dann zählt der Bauernverbandspräsident auf, was sich in der Landwirtschaft in Sachen Pestizide alles gebessert habe in den letzten Jahren. Um dann die Gesprächspartner mit Zahlen und Details aus Berichten zu bombardieren. Dabei spricht der Biobauer und CVP-Nationalrat meist von Massnahmen. Wer aber lieber harte Daten zum Pestizidverbrauch möchte und danach sucht, kommt nicht sehr weit.
Das ist erstaunlich, denn die Landwirtschaft gehört zu den bestdokumentierten Branchen der Schweiz. In der Agrarstatistik wird jedes Huhn erfasst; Ernteerträge, Betriebsgrössen, Einkommenszahlen sind dokumentiert und vieles mehr.
Daten für die Agrarstatistik sammeln das Bundesamt für Landwirtschaft, die Bundesforschungsanstalt Agroscope, der Bauernverband, die kantonalen Landwirtschaftsämter und das Bundesamt für Statistik. Publiziert werden sie jährlich im monumentalen Agrarbericht.
Der Pestizidverbrauch aber ist in diesem sonst so reichen Datenfeld eine Brache. Wer Fort- und Rückschritte einschätzen will, muss sich einem soliden Befund über Umwege annähern.
Das Umweltbewusstsein ist gestiegen
Momentan glauben viele, es werde immer schlimmer: überall Pestizide im Wasser, überall verletzte Grenzwerte. Der Eindruck ändert sich, wenn man die Entwicklung der Landwirtschaft betrachtet. Denn bis in die 1980er-Jahre waren Pestizide kaum ein Thema, die Landwirtinnen spritzten relativ sorglos. In den 1990er-Jahren kam es zu einem Ökologisierungsschub, die Subventionen wurden an Umweltkriterien geknüpft, die Biobewegung breitete sich aus.
Wurde die Situation in den letzten Jahrzehnten besser oder schlechter? Das ist unklar. Nehmen wir die Belastung der Gewässer: Es gab erste Studien in den 1980er-Jahren, dabei hat man aber nur einzelne Wirkstoffe betrachtet. Die erste breite Studie wurde 2012 erstellt. «Umfassendere Messungen im Wasser können wir erst seit wenigen Jahren vornehmen», sagt Christian Stamm, Umweltforscher am Wasserforschungsinstitut der ETH. Und in jüngster Zeit habe die Analytik grosse Fortschritte gemacht. Immer feinere Pestiziddosen könnten gemessen werden. In den letzten zehn Jahren – für die umfassende und konsistente Datenreihen vorliegen – sei keine Abnahme der Pestizidbelastung erkennbar.
Erst im letzten Jahrzehnt sind Pestizide in den öffentlichen Fokus gerückt (namentlich durch einen Vorstoss der grünliberalen Zürcher Nationalrätin Tiana Angelina Moser im Jahr 2012). Zuvor gab es in der Gewässerpolitik andere Baustellen. Bis in die 1960er-Jahre waren Schweizer Gewässer die reinsten Kloaken, die Abwässer flossen ungefiltert in Reuss, Zürichsee oder Doubs. Erst die Abwasserreinigungsanlagen lösten das Problem. Später konzentrierte man sich darauf, die Nährstoffeinträge aus der Tierhaltung zu reduzieren und überdüngte Seen wie den klinisch toten Hallwilersee zu beleben. (Hier gab es Fortschritte, doch das Problem ist nicht gelöst.)
Mit den beiden Umweltinitiativen, die am kommenden Sonntag zur Abstimmung stehen, sind Pestizide gerade besonders im Fokus, doch die Daten dazu fehlen schmerzlich. Man weiss zwar, wie viele und welche Stoffe verkauft werden. Unbekannt ist hingegen, was wo von wem in welchen Mengen auf welchen Kulturen eingesetzt wird. Dabei wären das die entscheidenden Fragen.
Aber schauen wir mal, welche Daten es überhaupt gibt.
Der Verkauf ist leicht gesunken
Was wir kennen, sind Marktzahlen:
Die Schweizer Bauern geben total rund 120 Millionen Franken pro Jahr aus für Pestizide. Das entspricht 2 Prozent der eingekauften Produktionsmittel (wie Kraftfutter, Dünger oder Maschinen).
In der Schweiz kosten die Pestizide bis zu 60 Prozent mehr als im nahen Ausland. (Dies dürfte auch an den Margen der Hersteller und Importeure wie Fenaco liegen.)
Im Schweizer Markt dominieren zwei grosse Hersteller: Syngenta mit 35 bis 50 Prozent Marktanteil, Bayer mit 15 bis 23 Prozent.
Wir kennen auch die jüngere Entwicklung dieser Marktzahlen: Seit 2013 gehen sie zurück.
Wie viele der rund 2000 Tonnen Pestizide effektiv in der Landwirtschaft eingesetzt werden, weiss man nicht. Denn auch Gärtner, Privatanwenderinnen oder die SBB setzen Spritzmittel ein. Gemäss Schätzungen verbraucht die Landwirtschaft rund 85 Prozent der Pestizide. Am höchsten ist der Einsatz bei Obst, Reben, Gemüsekulturen, Kartoffeln und Zuckerrüben.
Die Statistik, die erst 2008 beginnt, zeigt eine leichte Abnahme der Mengen. Doch dies ist nicht das alleinige Kriterium. Wichtiger ist die Toxizität: Je toxischer ein Mittel, umso weniger muss man davon einsetzen. Eine Tonne eines hochgiftigen Wirkstoffs ist um ein Vielfaches gefährlicher als dieselbe Menge eines schwächeren Mittels. So sind etwa manche Insektizide schon in allerkleinsten Mengen hoch toxisch. Mit Verweis auf die Abnahme der verkauften Pestizidmenge zu behaupten, die Situation verbessere sich, ist daher irreführend.
An dieser Stelle ein kurzer Blick hinaus auf den Kontinent. Er zeigt eine ähnliche Entwicklung.
Interessant wäre nun, den Pestizideinsatz zu vergleichen. Aber wie viele Pestizide die Schweizer Landwirtinnen im Vergleich zu deutschen oder französischen spritzen, wissen wir ebenfalls nicht. Eine Agroscope-Studie von 2013 schätzt, dass Schweizer Landwirte ähnlich viele Mittel einsetzen wie diejenigen in anderen Ländern. Vergleiche sind nicht einfach, weil es darauf ankommt, welche Kulturen in einem Land gepflegt werden. Die Schweiz hat etwa relativ viele pestizidintensive Kulturen wie Reben und Obst.
Sicher ist: Viele EU-Länder haben ähnliche Ziele wie die Schweiz. Die EU will bis 2030 den Pestizideinsatz halbieren.
Ob das Risiko gesunken ist, ist nicht eindeutig
Halten wir fest: Wichtig ist das Risikopotenzial der eingesetzten Stoffe, nicht die Menge allein. Wie sich dieses für Gewässerlebewesen entwickelt, hat das Agrarforschungsinstitut Agroscope in einer Studie modelliert.
Sie rechnet mit einer eher optimistischen und einer eher pessimistischen Entwicklung. Im ersten Fall wird berücksichtigt, in welchem Ausmass Anwendungsvorschriften die Risiken reduzieren. In den letzten Jahren wurden vermehrt Auflagen verfügt, Landwirtinnen dürfen etwa gewisse risikoreichere Mittel nicht in der Nähe eines Gewässers einsetzen. Da man keine Daten dazu hat, wie die – an sich verbindlichen – Auflagen umgesetzt werden und welche Vorsichtsmassnahmen die Landwirte schon vorgängig umgesetzt haben, ist die Modellierung mit Unsicherheiten verbunden.
Ich will es genauer wissen: Wie modellierten Forscherinnen das Risiko?
Sie analysierten Daten aus dem Anbau von Weizen, Raps oder Mais, die auf grossen Teilen der Schweizer Ackerfläche angebaut werden. Grundlage waren die Angaben von 250 Betrieben aus dem Zeitraum 2009 bis 2018. Das Risikopotenzial ergibt sich aus der eingesetzten Menge der Pestizide, deren Toxizität und deren Konzentration in den Gewässern. Im Modell fehlen aber pestizidintensive Kulturen wie Obst, Weinbau und Gemüsebau. Trotzdem ermöglicht es eine Standortbestimmung.
Im ungünstigeren Szenario hat bei Fungiziden das Risiko seit 2009 insgesamt abgenommen, bei Herbiziden ist es etwa gleich geblieben, bei Insektiziden ist es stark gestiegen. Im optimistischen Fall haben die Pestizidrisiken insgesamt leicht abgenommen und sind nur bei den Insektiziden ungefähr gleich wie vor zehn Jahren. Dabei ist nicht eindeutig, welche Entwicklung realitätsnäher ist, dazu fehlen der Wissenschaft wichtige Daten. Agroscope ist dabei, detailliertere Risikostudien zu machen.
Die Studie veranschaulicht überdies ein Grundsatzproblem: Weil zum Beispiel der Rapsglanzkäfer – der Rapspflanzen schädigt – gegen gängige Mittel resistent wurde, setzte man ab 2014 zwei neue Insektizide ein. Diese waren aber so giftig, dass das Risiko für Gewässerlebewesen in die Höhe schnellte und sie 2020 aus dem Verkehr genommen werden mussten. Dass die Schädlichkeit neuer Wirkstoffe unterschätzt wird, ist ein wiederkehrendes Motiv in der Geschichte der Pestizide.
Das Gesamtbild
Zeit für ein erstes Fazit:
Die verkauften Pestizidmengen haben leicht abgenommen, ihre Toxizität aber nicht zwingend.
In den Gewässern war bisher keine Abnahme der Pestizidbelastung nachweisbar.
Gemäss Modellierung sind die Risiken für Gewässerleben in jüngster Zeit möglicherweise leicht zurückgegangen.
Falls Sie dieses Zwischenfazit ratlos macht: Wissenschaftlerinnen geht es ähnlich. Zum konkreten Pestizideinsatz liegt vieles im Dunkeln. Robert Finger, Professor für Agrarökonomie an der ETH Zürich, sagt: «Es braucht einen wissenschaftlich fundierten Risikoindex, der Risiken für Mensch und Umwelt zusammenfasst, und mehr Transparenz dazu, welche Mittel wo und wann eingesetzt werden.»
Politisch ist die Agrarbranche verpflichtet, die Pestizidrisiken zu senken. Der Bund hat 2008 Umweltziele für die Landwirtschaft definiert. In Bezug auf Pestizide heisst das:
Umwelt und Gesundheit nicht zu beeinträchtigen;
die gesetzlichen Grenzwerte in den Gewässern einzuhalten;
das Risiko so weit wie möglich zu reduzieren.
Heute sind diese Ziele keineswegs erreicht. Zudem wurde 2017 der Aktionsplan Pflanzenschutzmittel eingeführt, nach dem die Risiken aus Pestiziden bis 2027 halbiert werden sollen. Bisher sind 20 von total 50 Massnahmen umgesetzt. Ob sie schon wirken, ist ungewiss. Laut Agroscope-Forscherinnen ist es für eine Evaluation des Aktionsplans noch zu früh, und aktuelle Daten konnten noch nicht ausgewertet werden. Klar ist: Es wird dauern, bis die Effekte dieser Massnahmen in der Umwelt sichtbar werden.
Kritiker sagen, dem Aktionsplan fehle es an Verbindlichkeit. Dass am Sonntag ein Pestizidverbot zur Abstimmung steht, dürfte auch daran liegen, dass man sich im Bundeshaus bisher gegen einschneidendere Massnahmen gewehrt hat. Konkrete Ideen gäbe es schon lange:
Preisliche Privilegien abbauen. Pestizide werden mit einem reduzierten Mehrwertsteuersatz von lediglich 2,5 statt rund 8 Prozent besteuert, analog zu anderen Vorleistungen wie Dünger. Vorstösse mit dem Ziel, das zu ändern, sind gescheitert. Der Bundesrat räumte 2016 ein: «Es liegt ein gewisser Widerspruch zu den Umweltzielen vor, wenn die Düngemittel und Pestizide bei der Mehrwertsteuer zum reduzierten Satz besteuert werden.» Dennoch ist die Regierung gegen einen höheren Mehrwertsteuersatz: Eine Lenkungswirkung sei nicht zu erwarten.
Eine Lenkungsabgabe auf Pestizide einführen. Die Idee steht seit Jahrzehnten im Raum. Es gibt Parallelen zu einer CO2-Lenkungsabgabe auf Treibstoffen – die sich ebenfalls bis heute nicht durchgesetzt hat. Eine vom Bundesamt für Landwirtschaft in Auftrag gegebene ETH-Studie kam zum Schluss, eine solche Abgabe könnte «erfolgversprechend sein». Forscher verweisen auf Dänemark, wo man mit Lenkungsabgaben die Risiken von Pestiziden um rund ein Drittel senken konnte. Intelligent gestaltete Lenkungsabgaben, die sich nach der Toxizität der Mittel richten und an die Bäuerinnen rückverteilt werden, gelten als wirksam. Der Bund will bisher davon nichts wissen. Die Idee sei «nicht mehrheitsfähig», sagen Experten.
Dann gibt es also keinerlei handfesten Fortschritt beim Gifteinsatz in der Landwirtschaft? Ganz so düster ist die Lage nicht.
Die Branche bewegt sich durchaus. Besonders im Getreideanbau hat der Pestizidverbrauch abgenommen. Landwirtinnen, die nach IP-Suisse-Richtlinien produzieren – 18’000 von 43’000 konventionellen Bauern –, verzichten bereits auf Fungizide und Insektizide auf ihren Getreidefeldern. Die Migros als grösste Abnehmerin setzt künftig auf komplett pestizidfrei produziertes Weizenmehl. Die Spezialitätenbäckerei Fredy’s tut das schon. Und immer mehr Winzerinnen pflanzen resistente Rebsorten an, die deutlich weniger gespritzt werden müssen.
Bauernchef Markus Ritter hat daher nicht unrecht, wenn er sagt, die Landwirtschaft werde umweltfreundlicher.
Unter dem Druck der Pestizid- und der Trinkwasserinitiative hat das Parlament im März ein neues Gesetz angenommen. Es verankert auf Gesetzesstufe, dass die Risiken des Pestizideinsatzes bis 2027 halbiert werden müssen. Und ihre Verwendung soll deutlich besser dokumentiert werden. Das Gesetz ist viel verbindlicher als alles Bisherige. Doch Umweltschützerinnen befürchten eine Abschwächung durch neue politische Vorstösse.
Sollte man also diese Pestizide nicht besser schlicht verbieten?
Das wollen wir Ihrem Stimmzettel überlassen – und lieber den Horizont etwas öffnen: Statt die Landwirtschaft in eine gute biologische und eine schlechte chemische zu unterteilen, fordern Wissenschaftler differenziertere Ansätze, um den Pestizideinsatz zu reduzieren. Der Agrarökonom Robert Finger etwa spricht sich für Anbausysteme aus, die den Krankheits- und Schädlingsdruck verringern: artenreichere Systeme mit breiteren Fruchtfolgen. Die verbleibenden Schädlinge sollten weitgehend biologisch bekämpft werden. Hoffnungen setzt der Forscher auch auf die Züchtung, unter anderen mit molekularbiologischen Methoden, und die Digitalisierung.
Expertinnen plädieren zudem für eine Abkehr von einer reinen Agrar- hin zu einer Ernährungspolitik: Alle Akteure entlang der Wertschöpfungskette sollen einbezogen werden. Nur wenn auch Industrie, Grossverteiler und Konsumenten mitmachen, ist der Übergang in ein postchemisches Zeitalter möglich.
Hinweis: In einer früheren Version schrieben wir, dass die Hiestand-Bäckereien auf komplett pestizidfrei produziertes Weizenmehl setzen. Das war falsch. Richtig ist: Auf solches Mehl setzt Fredy Hiestands Spezialitätenbäckerei Fredy’s.
Eine auch für Laien verständliche Übersicht zur Pestizidproblematik aus ökologischer Sicht gibt ein Faktenblatt der Akademie der Naturwissenschaften. Dieses war eine wichtige Quelle für die beiden «Auf lange Sicht»-Beiträge zu Pestiziden.
Daniel Bütler ist freier Journalist und Texter in Zürich. Er hat Germanistik und Wirtschaftsgeschichte studiert und schreibt regelmässig über Umweltthemen, unter anderem für den «Beobachter».