Auf lange Sicht

Seit Jahrzehnten zählen wir jedes Schweizer Huhn, aber nicht die leeren Pestizid­kanister

Zum Pestizideinsatz in der Landwirtschaft weiss man vor allem – dass man vieles nicht weiss. Klar ist auch: Umwelt­ziele werden verfehlt. Doch es kommt Bewegung in die Branche.

Von Daniel Bütler, 07.06.2021

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Wenn die Bauern als tumbe Giftspritzer dargestellt werden, schnellt bei Markus Ritter der Puls hoch. Dann zählt der Bauern­verbands­präsident auf, was sich in der Land­wirtschaft in Sachen Pestizide alles gebessert habe in den letzten Jahren. Um dann die Gesprächs­­partner mit Zahlen und Details aus Berichten zu bombardieren. Dabei spricht der Biobauer und CVP-National­rat meist von Massnahmen. Wer aber lieber harte Daten zum Pestizid­verbrauch möchte und danach sucht, kommt nicht sehr weit.

Das ist erstaunlich, denn die Land­wirtschaft gehört zu den best­dokumentierten Branchen der Schweiz. In der Agrar­statistik wird jedes Huhn erfasst; Ernte­erträge, Betriebs­grössen, Einkommens­zahlen sind dokumentiert und vieles mehr.

Wir zählen seit 1975 jedes Huhn im Land

Anzahl Mastpoulets, in Millionen

1975199020052020048 Mio.

Quelle: Bundesamt für Statistik.

Und seit 1990 zählen wir jede emittierte Tonne Ammoniak

Ammoniakemissionen, in Tonnen

1975199020052020030’00060’000

Quelle: Agrarbericht.

Daten für die Agrar­statistik sammeln das Bundesamt für Land­wirtschaft, die Bundes­forschungs­anstalt Agroscope, der Bauern­verband, die kantonalen Land­wirtschafts­ämter und das Bundes­amt für Statistik. Publiziert werden sie jährlich im monumentalen Agrarbericht.

Der Pestizid­verbrauch aber ist in diesem sonst so reichen Daten­feld eine Brache. Wer Fort- und Rück­schritte einschätzen will, muss sich einem soliden Befund über Umwege annähern.

Das Umwelt­bewusstsein ist gestiegen

Momentan glauben viele, es werde immer schlimmer: überall Pestizide im Wasser, überall verletzte Grenz­werte. Der Eindruck ändert sich, wenn man die Entwicklung der Land­wirtschaft betrachtet. Denn bis in die 1980er-Jahre waren Pestizide kaum ein Thema, die Land­wirtinnen spritzten relativ sorglos. In den 1990er-Jahren kam es zu einem Ökologisierungs­schub, die Subventionen wurden an Umwelt­kriterien geknüpft, die Biobewegung breitete sich aus.

Wurde die Situation in den letzten Jahrzehnten besser oder schlechter? Das ist unklar. Nehmen wir die Belastung der Gewässer: Es gab erste Studien in den 1980er-Jahren, dabei hat man aber nur einzelne Wirk­stoffe betrachtet. Die erste breite Studie wurde 2012 erstellt. «Umfassendere Messungen im Wasser können wir erst seit wenigen Jahren vornehmen», sagt Christian Stamm, Umwelt­forscher am Wasser­forschungs­institut der ETH. Und in jüngster Zeit habe die Analytik grosse Fortschritte gemacht. Immer feinere Pestizid­dosen könnten gemessen werden. In den letzten zehn Jahren – für die umfassende und konsistente Daten­reihen vorliegen – sei keine Abnahme der Pestizid­belastung erkennbar.

Erst im letzten Jahrzehnt sind Pestizide in den öffentlichen Fokus gerückt (namentlich durch einen Vorstoss der grün­liberalen Zürcher National­rätin Tiana Angelina Moser im Jahr 2012). Zuvor gab es in der Gewässer­politik andere Baustellen. Bis in die 1960er-Jahre waren Schweizer Gewässer die reinsten Kloaken, die Abwässer flossen ungefiltert in Reuss, Zürich­see oder Doubs. Erst die Abwasser­reinigungs­anlagen lösten das Problem. Später konzentrierte man sich darauf, die Nährstoff­einträge aus der Tier­haltung zu reduzieren und überdüngte Seen wie den klinisch toten Hallwiler­see zu beleben. (Hier gab es Fortschritte, doch das Problem ist nicht gelöst.)

Mit den beiden Umwelt­initiativen, die am kommenden Sonntag zur Abstimmung stehen, sind Pestizide gerade besonders im Fokus, doch die Daten dazu fehlen schmerzlich. Man weiss zwar, wie viele und welche Stoffe verkauft werden. Unbekannt ist hingegen, was wo von wem in welchen Mengen auf welchen Kulturen eingesetzt wird. Dabei wären das die entscheidenden Fragen.

Aber schauen wir mal, welche Daten es überhaupt gibt.

Der Verkauf ist leicht gesunken

Was wir kennen, sind Marktzahlen:

  • Die Schweizer Bauern geben total rund 120 Millionen Franken pro Jahr aus für Pestizide. Das entspricht 2 Prozent der eingekauften Produktions­mittel (wie Kraft­futter, Dünger oder Maschinen).

  • In der Schweiz kosten die Pestizide bis zu 60 Prozent mehr als im nahen Ausland. (Dies dürfte auch an den Margen der Hersteller und Importeure wie Fenaco liegen.)

  • Im Schweizer Markt dominieren zwei grosse Hersteller: Syngenta mit 35 bis 50 Prozent Markt­anteil, Bayer mit 15 bis 23 Prozent.

Wir kennen auch die jüngere Entwicklung dieser Markt­zahlen: Seit 2013 gehen sie zurück.

Schweizerinnen kaufen etwas weniger Pestizide

Verkauf von Pflanzenschutz­mittel-Wirkstoffen, in Tonnen

20082019015003000

Quelle: Bundesamt für Statistik.

Wie viele der rund 2000 Tonnen Pestizide effektiv in der Land­wirtschaft eingesetzt werden, weiss man nicht. Denn auch Gärtner, Privat­anwenderinnen oder die SBB setzen Spritz­mittel ein. Gemäss Schätzungen verbraucht die Land­wirtschaft rund 85 Prozent der Pestizide. Am höchsten ist der Einsatz bei Obst, Reben, Gemüse­kulturen, Kartoffeln und Zucker­rüben.

Die Statistik, die erst 2008 beginnt, zeigt eine leichte Abnahme der Mengen. Doch dies ist nicht das alleinige Kriterium. Wichtiger ist die Toxizität: Je toxischer ein Mittel, umso weniger muss man davon einsetzen. Eine Tonne eines hochgiftigen Wirkstoffs ist um ein Viel­faches gefährlicher als dieselbe Menge eines schwächeren Mittels. So sind etwa manche Insektizide schon in aller­kleinsten Mengen hoch toxisch. Mit Verweis auf die Abnahme der verkauften Pestizid­menge zu behaupten, die Situation verbessere sich, ist daher irreführend.

An dieser Stelle ein kurzer Blick hinaus auf den Kontinent. Er zeigt eine ähnliche Entwicklung.

Auch in der EU gehen Pestizidverkäufe leicht zurück

In Tonnen

201120190200’000400’000

Quelle: Eurostat.

Interessant wäre nun, den Pestizid­einsatz zu vergleichen. Aber wie viele Pestizide die Schweizer Land­wirtinnen im Vergleich zu deutschen oder französischen spritzen, wissen wir ebenfalls nicht. Eine Agroscope-Studie von 2013 schätzt, dass Schweizer Landwirte ähnlich viele Mittel einsetzen wie diejenigen in anderen Ländern. Vergleiche sind nicht einfach, weil es darauf ankommt, welche Kulturen in einem Land gepflegt werden. Die Schweiz hat etwa relativ viele pestizid­intensive Kulturen wie Reben und Obst.

Sicher ist: Viele EU-Länder haben ähnliche Ziele wie die Schweiz. Die EU will bis 2030 den Pestizid­einsatz halbieren.

Ob das Risiko gesunken ist, ist nicht eindeutig

Halten wir fest: Wichtig ist das Risiko­potenzial der eingesetzten Stoffe, nicht die Menge allein. Wie sich dieses für Gewässer­lebewesen entwickelt, hat das Agrar­forschungs­institut Agroscope in einer Studie modelliert.

Sie rechnet mit einer eher optimistischen und einer eher pessimistischen Entwicklung. Im ersten Fall wird berücksichtigt, in welchem Ausmass Anwendungs­vorschriften die Risiken reduzieren. In den letzten Jahren wurden vermehrt Auflagen verfügt, Land­wirtinnen dürfen etwa gewisse risiko­reichere Mittel nicht in der Nähe eines Gewässers einsetzen. Da man keine Daten dazu hat, wie die – an sich verbindlichen – Auflagen umgesetzt werden und welche Vorsichts­massnahmen die Landwirte schon vorgängig umgesetzt haben, ist die Modellierung mit Unsicher­heiten verbunden.

Ich will es genauer wissen: Wie modellierten Forscherinnen das Risiko?

Sie analysierten Daten aus dem Anbau von Weizen, Raps oder Mais, die auf grossen Teilen der Schweizer Acker­fläche angebaut werden. Grundlage waren die Angaben von 250 Betrieben aus dem Zeitraum 2009 bis 2018. Das Risiko­potenzial ergibt sich aus der eingesetzten Menge der Pestizide, deren Toxizität und deren Konzentration in den Gewässern. Im Modell fehlen aber pestizid­intensive Kulturen wie Obst, Weinbau und Gemüsebau. Trotzdem ermöglicht es eine Standortbestimmung.

Im ungünstigeren Szenario hat bei Fungiziden das Risiko seit 2009 insgesamt abgenommen, bei Herbiziden ist es etwa gleich geblieben, bei Insektiziden ist es stark gestiegen. Im optimistischen Fall haben die Pestizid­risiken insgesamt leicht abgenommen und sind nur bei den Insektiziden ungefähr gleich wie vor zehn Jahren. Dabei ist nicht eindeutig, welche Entwicklung realitäts­näher ist, dazu fehlen der Wissenschaft wichtige Daten. Agroscope ist dabei, detailliertere Risiko­studien zu machen.

Das Risiko von Pestiziden hat im besten Fall leicht abgenommen

Modelliertes Risiko­potenzial für Gewässer; 100 = das Risiko im Jahr 2009

Szenario mit Auflagen
ohne Auflagen
Herbizide200920180150300 100 = AusgangsrisikoFungizide200920180150300 100 = AusgangsrisikoInsektizide200920180150300 100 = Ausgangsrisiko

Quelle: Agroscope.

Die Studie veranschaulicht überdies ein Grundsatz­problem: Weil zum Beispiel der Rapsglanz­käfer – der Raps­pflanzen schädigt – gegen gängige Mittel resistent wurde, setzte man ab 2014 zwei neue Insektizide ein. Diese waren aber so giftig, dass das Risiko für Gewässer­lebewesen in die Höhe schnellte und sie 2020 aus dem Verkehr genommen werden mussten. Dass die Schädlichkeit neuer Wirk­stoffe unterschätzt wird, ist ein wieder­­kehrendes Motiv in der Geschichte der Pestizide.

Das Gesamtbild

Zeit für ein erstes Fazit:

  • Die verkauften Pestizid­mengen haben leicht abgenommen, ihre Toxizität aber nicht zwingend.

  • In den Gewässern war bisher keine Abnahme der Pestizid­belastung nachweisbar.

  • Gemäss Modellierung sind die Risiken für Gewässer­leben in jüngster Zeit möglicher­weise leicht zurück­gegangen.

Falls Sie dieses Zwischen­fazit ratlos macht: Wissenschaftlerinnen geht es ähnlich. Zum konkreten Pestizid­einsatz liegt vieles im Dunkeln. Robert Finger, Professor für Agrar­ökonomie an der ETH Zürich, sagt: «Es braucht einen wissenschaftlich fundierten Risiko­index, der Risiken für Mensch und Umwelt zusammen­fasst, und mehr Transparenz dazu, welche Mittel wo und wann eingesetzt werden.»

Politisch ist die Agrar­branche verpflichtet, die Pestizid­risiken zu senken. Der Bund hat 2008 Umwelt­ziele für die Land­wirtschaft definiert. In Bezug auf Pestizide heisst das:

  • Umwelt und Gesundheit nicht zu beeinträchtigen;

  • die gesetzlichen Grenz­werte in den Gewässern einzuhalten;

  • das Risiko so weit wie möglich zu reduzieren.

Heute sind diese Ziele keineswegs erreicht. Zudem wurde 2017 der Aktions­plan Pflanzen­­schutz­mittel eingeführt, nach dem die Risiken aus Pestiziden bis 2027 halbiert werden sollen. Bisher sind 20 von total 50 Massnahmen umgesetzt. Ob sie schon wirken, ist ungewiss. Laut Agroscope-Forscherinnen ist es für eine Evaluation des Aktions­plans noch zu früh, und aktuelle Daten konnten noch nicht ausgewertet werden. Klar ist: Es wird dauern, bis die Effekte dieser Massnahmen in der Umwelt sichtbar werden.

Kritiker sagen, dem Aktions­plan fehle es an Verbindlichkeit. Dass am Sonntag ein Pestizid­verbot zur Abstimmung steht, dürfte auch daran liegen, dass man sich im Bundes­haus bisher gegen einschneidendere Massnahmen gewehrt hat. Konkrete Ideen gäbe es schon lange:

  • Preisliche Privilegien abbauen. Pestizide werden mit einem reduzierten Mehrwert­steuersatz von lediglich 2,5 statt rund 8 Prozent besteuert, analog zu anderen Vorleistungen wie Dünger. Vorstösse mit dem Ziel, das zu ändern, sind gescheitert. Der Bundesrat räumte 2016 ein: «Es liegt ein gewisser Wider­spruch zu den Umwelt­zielen vor, wenn die Dünge­mittel und Pestizide bei der Mehrwert­steuer zum reduzierten Satz besteuert werden.» Dennoch ist die Regierung gegen einen höheren Mehrwert­steuer­satz: Eine Lenkungs­wirkung sei nicht zu erwarten.

  • Eine Lenkungs­abgabe auf Pestizide einführen. Die Idee steht seit Jahr­zehnten im Raum. Es gibt Parallelen zu einer CO2-Lenkungs­abgabe auf Treibstoffen – die sich ebenfalls bis heute nicht durch­gesetzt hat. Eine vom Bundesamt für Land­wirtschaft in Auftrag gegebene ETH-Studie kam zum Schluss, eine solche Abgabe könnte «erfolg­­versprechend sein». Forscher verweisen auf Dänemark, wo man mit Lenkungs­abgaben die Risiken von Pestiziden um rund ein Drittel senken konnte. Intelligent gestaltete Lenkungs­abgaben, die sich nach der Toxizität der Mittel richten und an die Bäuerinnen rückverteilt werden, gelten als wirksam. Der Bund will bisher davon nichts wissen. Die Idee sei «nicht mehrheits­fähig», sagen Experten.

Dann gibt es also keinerlei handfesten Fortschritt beim Gift­einsatz in der Land­wirtschaft? Ganz so düster ist die Lage nicht.

Die Branche bewegt sich durchaus. Besonders im Getreide­anbau hat der Pestizid­verbrauch abgenommen. Land­wirtinnen, die nach IP-Suisse-Richtlinien produzieren – 18’000 von 43’000 konventionellen Bauern –, verzichten bereits auf Fungizide und Insektizide auf ihren Getreide­feldern. Die Migros als grösste Abnehmerin setzt künftig auf komplett pestizid­frei produziertes Weizen­mehl. Die Spezialitäten­bäckerei Fredy’s tut das schon. Und immer mehr Winzerinnen pflanzen resistente Rebsorten an, die deutlich weniger gespritzt werden müssen.

Bauernchef Markus Ritter hat daher nicht unrecht, wenn er sagt, die Land­wirtschaft werde umweltfreundlicher.

Unter dem Druck der Pestizid- und der Trinkwasser­initiative hat das Parlament im März ein neues Gesetz angenommen. Es verankert auf Gesetzes­stufe, dass die Risiken des Pestizid­einsatzes bis 2027 halbiert werden müssen. Und ihre Verwendung soll deutlich besser dokumentiert werden. Das Gesetz ist viel verbindlicher als alles Bisherige. Doch Umwelt­schützerinnen befürchten eine Abschwächung durch neue politische Vorstösse.

Sollte man also diese Pestizide nicht besser schlicht verbieten?

Das wollen wir Ihrem Stimm­zettel überlassen – und lieber den Horizont etwas öffnen: Statt die Land­wirtschaft in eine gute biologische und eine schlechte chemische zu unterteilen, fordern Wissenschaftler differenziertere Ansätze, um den Pestizid­einsatz zu reduzieren. Der Agrar­ökonom Robert Finger etwa spricht sich für Anbau­­systeme aus, die den Krankheits- und Schädlings­druck verringern: arten­reichere Systeme mit breiteren Frucht­folgen. Die verbleibenden Schädlinge sollten weitgehend biologisch bekämpft werden. Hoffnungen setzt der Forscher auch auf die Züchtung, unter anderen mit molekular­biologischen Methoden, und die Digitalisierung.

Expertinnen plädieren zudem für eine Abkehr von einer reinen Agrar- hin zu einer Ernährungs­politik: Alle Akteure entlang der Wert­schöpfungs­kette sollen einbezogen werden. Nur wenn auch Industrie, Gross­verteiler und Konsumenten mitmachen, ist der Übergang in ein post­chemisches Zeitalter möglich.

Hinweis: In einer früheren Version schrieben wir, dass die Hiestand-Bäckereien auf komplett pestizid­frei produziertes Weizen­mehl setzen. Das war falsch. Richtig ist: Auf solches Mehl setzt Fredy Hiestands Spezialitäten­bäckerei Fredy’s.

Zu den Daten und Quellen

Eine auch für Laien verständliche Übersicht zur Pestizid­problematik aus ökologischer Sicht gibt ein Fakten­blatt der Akademie der Natur­wissenschaften. Dieses war eine wichtige Quelle für die beiden «Auf lange Sicht»-Beiträge zu Pestiziden.

Zum Autor

Daniel Bütler ist freier Journalist und Texter in Zürich. Er hat Germanistik und Wirtschafts­geschichte studiert und schreibt regelmässig über Umwelt­themen, unter anderem für den «Beobachter».

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