Flashmob-Event in der ukrainischen Hauptstadt Kiew: Eier werfen auf das Bild des russischen Präsidenten mit Hitlerschnauz, 2014. Sergey Gapon/ AFP

Kritik der Nazi-Keule

Nazi-Vergleiche haben Konjunktur. Damit werden nicht selten Hitler, der Holocaust und der National­sozialismus verharmlost. Anderseits: Können wir aus der Vergangenheit lernen, ohne zu vergleichen?

Von Jakob Tanner, 04.09.2021

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Nazi-, Hitler-, Auschwitz- und Holocaust-Vergleiche werden oft missbräuchlich verwendet. Zum Beispiel bei anti­semitischen Israel-Nazi-Gleichsetzungen und bei der Verwendung von «Juden­sternen» durch Covid-Massnahmen- und Impf­gegner, die sich den Verfolgten der national­sozialistischen Gewalt­herrschaft gleichstellen wollen. Viele Ähnlichkeits­behauptungen sind auf politische Kampagnen zugeschnitten.

In der Schweiz taten sich insbesondere die SVP und ihr Vordenker Christoph Blocher mit solchen Zweck-Vergleichen hervor. «Der Kampf gegen die SVP vonseiten der Staats­medien und von ‹Blick› bis zur NZZ» habe ihn, so wird Blocher 2016 zitiert, in seiner «Radikalität an die Methoden der National­sozialisten den Juden gegenüber erinnert». Eine Partei mit notorischen Abgrenzungs­problemen gegen Rechts­extreme stellt sich also als Opfer dar.

Nazi-Vergleiche sind auch voller Tret­fallen. Manchmal sind sie Ausdruck abgründiger Ungeschicklichkeit oder schierer Unbedachtheit. So trat 2017 der grüne Politiker Jonas Fricker aus dem Nationalrat zurück, weil er den Transport von Schweinen mit der Deportation von Juden nach Auschwitz verglichen hatte.

Im April 2021 löste der Schrift­steller Adolf Muschg harsche Kritik aus mit seiner Formulierung, die Cancel-Culture sei «eine Form von Auschwitz». Auch wenn er den Gebrauch des «Unworts» Auschwitz inzwischen bereut, verteidigt er den Missgriff. Kurze Zeit später kam es zum krisenhaften Abgang des Chefs des Deutschen Fussball-Bundes, nachdem dieser seinen Vize­präsidenten als «Freisler» (gemeint war der Vorsitzende des NS-Volks­gerichts­hofs, Roland Freisler) verunglimpft hatte.

Im Juli brandete in der Schweiz ein Shitstorm hoch um einen verunglückten Tweet von «Megafon», der Zeitung aus der Reitschule Bern, dessen erkenntnis­fördernde Ironie vom Chef­redaktor von Tamedia und der «Sonntags­Zeitung» bewusst ignoriert und zu einer Anklage gegen Linke umfunktioniert wurde. Es würden Töne angeschlagen, «wie wir sie eigentlich seit 1945 bei uns überwunden glaubten», schrieb Arthur Rutishauser. Dieser Nazi-Vergleich wurde allerdings umgehend und klamm­heimlich wieder gelöscht.

Seit der Jahrhundert­wende lassen sich ein regelrechter Boom und eine Internationalisierung des Phänomens beobachten. Der Hitler-Vorwurf wurde grenzenlos. Für Ayatollah Ali Khamenei waren Saddam Hussein und George W. Bush Hitler, für Letzteren war Osama Bin Laden Hitler. Für Hugo Chávez war Angela Merkel Hitler, für Donald Rumsfeld wiederum Hugo Chávez. Die Liste liesse sich problemlos verlängern. Offensichtlich hat sich die Holocaust-Erinnerung nach dem Kalten Krieg globalisiert. Hinzu kommt die angespannte Ökonomie der Aufmerksamkeit sowie der Hang zur Skandalisierung in einem Medien­system, das sich immer stärker auf digitale Plattformen verlagert.

Zum Autor

Jakob Tanner ist emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte am Historischen Seminar der Uni Zürich, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschafts­geschichte. Er ist Autor mehrerer Bücher zur Geschichte der Schweiz im europäischen Kontext und von Publikationen zur nationalen Mythologie. Tanner war Mitglied der Unabhängigen Experten­kommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg.

Spontane Nazi-Vergleiche geben fast immer eine Headline her – mit oft desaströsen Folgen für ihre Urheberinnen. Mit einem feinen Gespür für diese neue Konstellation hat der amerikanische Anwalt und Autor Mike Godwin, damals juristischer Berater der Electronic Frontier Foundation, bereits 1990 das nach ihm benannte «Godwin-Gesetz» formuliert: «Wenn eine Online-Diskussion länger andauert, geht die Wahrscheinlichkeit eines Nazi- oder Hitler-Vergleichs gegen eins.» Was heisst: In antagonistischen Erregungs­spiralen greift die eine oder die andere Partei früher oder später fast zwangs­läufig zu diesem Mittel.

Godwin verstand seine Formel eigentlich sarkastisch. 2013 stellte er jedoch fest, seine Gesetzlichkeit müsse aufgrund der rhetorischen Eskalation im politischen Diskurs auf das ganze Spektrum von Auseinander­setzungen – Presse, Radio und Fernsehen, Social Media und persönliche Stellung­nahmen – bezogen werden.

Was sich häuft, wird banal. Eine verbreitete Reaktion auf die steigende Kurve von Nazi-Vergleichen war es deshalb, Entwarnung zu geben. Die Flucht in den Hitler-Vorwurf wurde mehr und mehr als untrügliches Signal betrachtet, dass der Streit­partei die Argumente ausgegangen sind – und Selbst­disqualifikation stellt kein wirkliches Problem dar.

Allerdings wird dadurch – so die Gegen­position – die moralische Zersetzungs­wirkung dieses Jekami-Spiels unterschätzt. Für die französische Sprach­wissenschaftlerin Marie-Hélène Pérennec geht von der Gewöhnung an Nazi-Vergleiche eine Gefahr aus. Denn mit ihrer Normalisierung gerinnt der Vergleich «zum Ritual, zur Folklore in der Politik», woraus eine Relativierung und eine Verharmlosung der Verbrechen des National­sozialismus resultiert.

Gehören Nazi-Vergleiche verboten?

Angesichts des fehlenden Erkenntnis­werts sowie des hohen Skandalisierungs- und Beleidigungs­potenzials von Nazi-Vergleichen häuften sich Versuche, diese generell für unzulässig zu erklären. So bekräftigte das United States Holocaust Memorial Museum im Sommer 2019 seine «unmissverständliche Zurück­weisung» aller Auschwitz-Analogien. Stein des Anstosses war der einem Mitarbeiter des Museums zugeschriebene Vergleich zwischen der Situation an der Südgrenze der USA und den Konzentrations­lagern im national­sozialistischen Macht­bereich der 1930er- und 1940er-Jahre. Das Museum bedauerte zutiefst, dass sich Holocaust-Überlebende und andere Personen durch solche Äusserungen beleidigt fühlen.

Nicolas Sarkozy, 2007, damals französischer Präsidentschaftskandidat. Denis/REA/laif
Geert Wilders, 2012, niederländischer Rechtspopulist. Hollandse Hoogte/laif

Eine Woche darauf kritisierten Hunderte Historiker dieses Statement in einem offenen Brief, in dem gleich eingangs festgestellt wurde, dass die Unterzeichneten das Holocaust Memorial Museum nachdrücklich unterstützen und seine Angebote wertschätzen. Mit seiner Erklärung vertrete das Museum jedoch eine «radikale Position, die weit entfernt ist vom Mainstream der Holocaust- und Völkermord­forschung». Ein Vergleichs­verbot sei fundamental ahistorisch und mache es «fast unmöglich, aus der Vergangenheit zu lernen». Eine solche Forderung sei unvereinbar mit der weltweit führenden Rolle des Museums in der Holocaust-Erziehung, denn deren Haupt­anliegen bestehe doch genau darin, «die Öffentlichkeit auf gefährliche Entwicklungen aufmerksam zu machen», wofür eben «das Aufzeigen von Gemeinsam­keiten über Zeit und Raum hinweg (…) unerlässlich» sei. Der Brief endet mit der Hoffnung, das Museum möge auch in Zukunft dazu beitragen, im Holocaust ein Ereignis zu erkennen, «von dem die Welt weiterhin lernen muss».

Die Grundintention dieser Kritik hat ein Mitinitiant des offenen Briefs, Timothy Snyder, schon im Untertitel seiner 2015 erschienenen Studie «Black Earth» formuliert: «The Holocaust as History and Warning». Wer Geschichte schreibt, soll, ohne sich selber in die Propheten-Rolle zu werfen, woke sein und warnend wirken. Immer wenn die Ermöglichungs­bedingungen von Verbrechen analysiert werden, stellt sich auch die Frage, welche Sicherungen wir in der Gegenwart bereithalten, damit sich das Vergangene nicht wiederholen kann – in welch abgewandelter Form auch immer.

Der Kampf gegen den Anti­semitismus im Hier und Jetzt setzt ein Wissen darüber voraus, wohin Juden­feindschaft, Rassismus, völkischer Nationalismus und Verschwörungs­theorien in der ersten Hälfte des 20. Jahr­hunderts geführt haben. Der Verweis auf die Vergangen­heit darf nicht zu einer Gleich­setzung führen. Er macht hingegen deutlich, dass diese ideologischen Waffen­kammern weiter offenstehen und nicht aus der Geschichte verschwunden sind.

Suche nach einer Ethik

Das Stichwort, unter dem solche geschichts­wissenschaftlichen und geschichts­politischen Probleme aktuell verhandelt werden, lautet «multi­direktionale Erinnerung». 2009 legte der US-amerikanischer Anglist und Literatur­wissenschaftler Michael Rothberg seine gleich­namige Studie zum «Holocaust­gedenken im Zeitalter der Dekolonisierung» vor. «Multi­direktional» bedeutet, dass die Erinnerung an die national­sozialistischen Gewalt­verbrechen zeitlich und räumlich kontextualisiert und auf weitere Gewalt­erfahrungen bezogen wird. Die dieses Jahr erschienene deutsche Übersetzung hat im Feld der Holocaust-Forschung und in der Öffentlichkeit zu heftigen Auseinander­setzungen geführt, weil der Vorwurf einer Relativierung oder Verharmlosung des NS-Regimes rasch zur Hand war.

Rothberg – und mit ihm weitere Autorinnen – antworteten auf diese Vorwürfe mit der Forderung nach einer «Ethik des Vergleichs». Wenn das Vergleichen eine Grund­operation historischer Erkenntnis­gewinnung und somit unverzichtbar ist, kommt es eben darauf an, wer zu welchem Zeitpunkt welche historischen Ereignisse mit welcher Begründung, anhand welcher Beispiele und in welcher Absicht vergleicht. Ein «Vergleich der Vergleiche» ermöglicht es, Massstäbe für historische Analogisierungen zu entwickeln.

Das Konzept einer «multi­direktionalen Erinnerung» insistiert vor allem auf zwei Punkten: Erstens ist das kulturelle Gedächtnis kein Nullsummen­spiel, in dem der Hinweis auf Sklaverei, Rassismus und Kolonialismus eine Schmälerung der Bedeutung des Holocaust mit sich bringt. Eine Verflechtungs­geschichte («entangled history») verschiedener Gewalt­formen und -verbrechen macht vielmehr bewusst, wie sehr die öffentliche Wahrnehmung und historische Bewertung des National­sozialismus mit dem Prozess der Dekolonisierung verwoben war. Ohne dass die Singularität des Holocaust infrage gestellt wird, kann deshalb eine «symmetrische Sorge» für verschiedene Opfer­gruppen artikuliert werden. Rothberg stellt diese Zusammen­hänge eindrücklich dar anhand der Reflexionen des US-afro­amerikanischen Philosophen und Civil-Rights-Aktivisten W. E. B. Du Bois über das Warschauer Ghetto.

Zweitens weist er darauf hin, dass die Vernichtung des europäischen Judentums eine «trans­nationale Kollaboration» bedingte. Über das «Dritte Reich» hinaus sind weitere Länder für die Durchführung dieses Massen­verbrechens verantwortlich, was durch die Engführung der Diskussion auf Deutschland unkenntlich wird. Rothberg zeigt dies an der Figur des Franzosen Maurice Papon auf, der in der Zwischen­kriegs­zeit in Kolonial­gebieten tätig war, während der deutschen Besetzung die Deportationen von Juden aus Frankreich nach Auschwitz organisierte und nach dem Krieg seine Karriere als Polizei­präfekt von Paris fortsetzte. In dieser Rolle war er für den Massen­mord an mindestens 200 friedlich für die Unabhängigkeit ihres Landes demonstrierenden Algeriern verantwortlich, die am 17. Oktober 1961 zu Tode geprügelt, erschossen oder in der Seine ertränkt wurden.

Auf die schiefe Bahn gelangen Vergleiche zwischen Massen­verbrechen und Gewalt­taten, wenn eine Homologie zwischen dem NS-Regime und anderen Gewalt­konstellationen unterstellt wird. Oder wenn eine kurz­schlüssige Kausalität beziehungs­weise direkte Kontinuität zwischen Kolonial­geschichte und Holocaust konstruiert wird. Es gibt zwar Autorinnen, die in eine solche argumentative Schräg­lage abkippen, doch die meisten Experten, die in diesem Feld forschen und mitdiskutieren, haben ein ganz anderes Anliegen. Sie betonen zu Recht, dass das Heraus­trennen des Holocaust aus einem Vergleichs­kontinuum gerade verhindert, dass dessen präzedenzlose Dimension und Radikalität festgestellt werden kann. Und sie weisen darauf hin, dass die einseitige Idealisierung der Zivilisation, mit der die National­sozialistinnen gebrochen haben – die Behauptung, es gebe im Grunde keine Berührungs­punkte –, einer angemessenen Interpretation und historischen Einordnung des Holocaust hinderlich ist.

Die Zauber­gleichung im Kalten Krieg

Historische Vergleiche haben selbst eine Geschichte. Jede «Ethik des Vergleichs», die sich auf Nazi-Analogien bezieht, muss sich mit deren Form- und Funktions­wandel auseinander­setzen. Obwohl der Begriff «Nazi-Vergleich» erst in den 1980er-Jahren geprägt wurde, reicht das Phänomen weit zurück. Schon 1953 zog der deutsch-amerikanische Philosoph Leo Strauss gegen den logischen Fehlschluss ins Feld, eine Ansicht, die von Hitler unterstützt worden ist, sei deshalb heute a priori widerlegt. Die Tatsache, dass «der Führer» den Tierschutz förderte und den Alkohol­konsum kritisierte, bedeutet nicht, dass diese Anliegen nach 1945 falsch sind. Wer das behaupte, so Strauss, ersetze die reductio ad absurdum durch eine reductio ad Hitlerum. Gedanklich verläuft diese Reduktion gegenläufig zu «Godwin’s Law», weil hier nicht von einer aktuellen Handlung oder Meinung auf den National­sozialismus zurück­geschlossen, sondern Hitlers Welt­anschauung auf die Gegenwart projiziert wird.

Hosni Mubarak, 2011, damals Präsident von Ägypten (Demo in Kairo gegen seine Regierung). Goran Tomasevic/REUTERS

Während des Kalten Krieges dominierte dann im «freien Westen» die grosse Gleichsetzung «rot = braun». Die Zauber­gleichung «Kommunismus gleich National­sozialismus» (in den Worten Friedrich Dürrenmatts) war deshalb ideologisch robust, weil sie die Logik der Block­konfrontation unterstützte. Informierte Beobachter kritisierten das allerdings als Humbug. In der Schweiz etwa der liberale Historiker Herbert Lüthy, der zu Beginn der 1960er-Jahre den Stalinismus als «Tollhaus» bezeichnete, aber gleichzeitig gegen eine «bipolare Gesinnungs­diktatur» anschrieb. Es sei, so Lüthy, «unmöglich, die intellektuelle und moralische Nichts­würdigkeit der Hitler’schen Blut­lehre (…) auf die gleiche Stufe mit der kommunistischen Utopie zu stellen, die einer aus vielen und tiefen Quellen genährten mächtigen Strömung der abend­ländischen Geistes­geschichte entspringt». Doch solche Stimmen blieben marginal.

In westlichen Demokratien wie der Bundes­republik Deutschland und der Schweiz fand der ideologische Reduktionismus «rot = braun» besonders starke Resonanz. Denn er wurde nicht nur von einer politischen Rechten unterstützt, die damit von ihrer national­sozialistischen Vergangenheit ablenken wollte, sondern auch von wichtigen Vertreterinnen der sozial­demokratischen Arbeiter­bewegung. So unterschiedlich die Kontexte waren: In allen Nachbar­ländern der Schweiz gab es in der Aufarbeitung der Vergangenheit beträchtliche Verdrängungen und Blockierungen, die mit Anti­kommunismus kompensiert wurden.

Dieser Typus des Nazi-Vergleichs erwies sich als weitgehend abnutzungs­resistent. Noch 1986 nannte Helmut Kohl in einem «Newsweek»-Interview den sowjetischen Partei­chef und Perestroika-Promotor Michail Gorbatschow in einem Atemzug mit dem NS-Propaganda­minister Joseph Goebbels. Auch die überraschende Implosion des Ostblocks in den Jahren 1989 bis 1991 konnte der Formel «rot = braun» nichts anhaben. Sie erhielt einfach eine neue Zweck­bestimmung. Heute sind es Politiker und Historikerinnen osteuropäischer Länder, die damit nationalistische Vergangenheits­verdrängung betreiben, oft mit demokratie­feindlicher Schlagseite.

Ende der 1960er-Jahre wurde das geistig bequeme Ordnungs­muster des Ost-West-Konflikts herausgefordert durch Aktivisten der 68er-Bewegung, die unter umgekehrten Vorzeichen begannen, einen Bezug zum Zweiten Welt­krieg und zum NS-Regime herzustellen. In Anlehnung an die seiten­verkehrten Ideologie­konstrukte des Ostblocks, die einen «faschistischen Kapitalismus» attackierten, stellten insbesondere westdeutsche APO-Linke und später die Rote-Armee-Fraktion die wirtschaftlich-politischen Führungs­gruppen der Bundes­republik personell in eine enge Kontinuität mit den Herrschafts­trägern des National­sozialismus. Empirisch liess sich dies mit zahlreichen ungebrochenen Karriere­verläufen tatsächlich untermauern. Aber die daraus abgeleitete These, die Bundes­republik der Gegenwart weise Affinitäten zum Terror­staat des National­sozialismus auf, war ein krasser Kurzschluss.

Die Urheber der «Nazi-Keule»

Seit den 1980er-Jahren häuften sich in Deutschland die Versuche, den National­sozialismus zu historisieren. Gegen diese Absicht lässt sich grund­sätzlich nichts sagen. Das Problem war nur, dass Historiker wie Martin Broszat und Ernst Nolte – und mit ihnen eine ganze Reihe weiterer deutscher NS-Forscher, die sich im «Historiker­streit» von 1986 hervortaten – Historisierung als Relativierung verstanden. Dieses Ansinnen stiess auf berechtigten Widerspruch von Jürgen Habermas, Charles Maier und Saul Friedländer, um nur einige zu nennen.

In denselben Zusammen­hang gehören die reaktionär aufgeladenen Begriffe «Nazi-Keule» und «Auschwitz-Keule». Massgeblich zu ihrer Verbreitung trug der Schrift­steller Martin Walser bei, der 1998 in seiner berüchtigten Rede in der Frankfurter Paulskirche ausgerechnet zur Verleihung des Friedens­preises des Deutschen Buch­handels die «Moral­keule» anprangerte. Er sah darin jenes «jederzeit einsetzbare Einschüchterungs­mittel», mit dem Deutsche auf ihre Verantwortung für Auschwitz behaftet werden. Das sollte nun endlich ein Ende haben.

Walser nahm damit eine perfide Täter-Opfer-Verkehrung vor: Wer an den Holocaust erinnern will, stand plötzlich als keulen­schwingende Täterin da, während Walser für sich die Opfer­rolle in Anspruch nahm. Er stimmte in den Chor jener ein, die unter die Geschichte des National­sozialismus einen Schluss­strich ziehen und zu einem «gesunden», durch keinen Schuld­komplex beladenen nationalen Selbst­bewusstsein aufbrechen wollten.

Nigel Farage, 2014, britischer Rechtspopulist. Ben Stansall/AFP
Wladimir Putin, 2014, Präsident Russlands. snapshot-photography/ullstein bild/Getty Images

Martin Walser hat den Begriff der moralischen Keule nicht erfunden, aber er hat ihn salon­fähig gemacht. In den vergangenen zwei Jahr­zehnten vervielfachte sich sein Gebrauch. Nationalisten aller Länder fühlen sich durch Völkermord­keulen, Verschwörungs­keulen oder Rassismus­keulen in ihrer Freiheit bedroht, Völker­morde zu leugnen, Konspirations­theorien zu verbreiten und sich zu empören, wenn ihnen Rassismus vorgeworfen wird. In Deutschland wehrten sich Rechte und Rechts­extreme mit dem imaginären Totschlag­objekt gar dagegen, dass ihre Aussagen als rechts und rechts­extrem bezeichnet werden. Immer nach dem Motto: «Man wird doch wohl noch sagen dürfen» oder «Ich lass mich doch mit meiner Vaterlands­liebe nicht in die rechte Ecke stellen».

Die «Nazi-Keule» mutiert zur Chiffre für einen als Meinungs­freiheit kaschierten Geschichts­revisionismus. Wer heute wieder so tönt wie einst die National­sozialistinnen, soll in seinem Recht auf freie Rede nicht eingeschränkt werden dürfen. Rechts­extreme Exponenten der Alternative für Deutschland (AfD) fordern konsequenter­weise eine «erinnerungs­politische Wende um 180 Grad» – wie es Björn Höcke 2017 tat.

Hier zeigt sich die Unvermeidlich­keit und Notwendig­keit vergleichender Erinnerung. Man muss nicht suggerieren – wie Bernhard Schlink dies in seinem als «Gedanken­spiel» verfassten Theater­stück «20. Juli» tut –, Höcke sei Hitler; doch ohne ein Sensorium für das braune Timbre dieser Diskurse, ohne ein Wissen darum, mit welcher Welt­anschauung und Strategie Hitler Anfang der 1930er-Jahre an die Macht kam, ist es schwierig, sich in der politischen Landschaft der Gegenwart zu behaupten. Und sich dezidiert von jenen Kräften abzugrenzen, die altbekannte Töne anschlagen.

Der Ur-Faschismus als Spiel

Ein bahn­brechendes Lehrstück dafür, aus welchen Versatz­stücken der Faschismus zusammen­gesetzt ist, lieferte Mitte der 1990er-Jahre Umberto Ecos Text über den «Ur-Faschismus». Andere Bezeichnungen sind «eternal fascism» oder, auf Deutsch, «immer­währender Faschismus». Eco sieht im seit 1922 sich etablierenden Mussolini-Regime «eine Art Archetyp» für die seit den 1930er-Jahren überall in Europa ins Kraut schiessenden anti­demokratischen Tendenzen.

Gerade weil der italienische Faschismus ein «verschwommener Totalitarismus» (im Sinne von «fuzzy») gewesen sei, hätte er «zu einer Sammel­bezeichnung oder einem Pars pro Toto für verschiedene totalitäre Bewegungen» werden können. Während es «nur einen Nazismus» gebe, der sich nicht mit anderen Diktaturen gleichsetzen lasse, erweise sich der italienische Faschismus als eine «Collage aus verschiedenen politischen und philosophischen Ideen», an die sich auf vielfältige Arten anknüpfen lasse. In Anlehnung an Ludwig Wittgenstein spricht Eco vom «faschistischen Spiel», das sich «auf vielerlei Weise spielen» lasse. Immer aber sei dieses Spiel «emotional (…) fest in einigen arche­typischen Fundamenten verankert» gewesen, sodass faschistische Regimes eine gewisse «Familien­ähnlichkeit» aufweisen.

Umberto Eco zählt 14 Merkmale des Faschismus auf: der Kult der Überlieferung, die Ablehnung der Moderne, ein irrationaler Kult der Aktion, die Umdeutung von Kritik in Verrat, die Angst vor dem Anders­artigen, der Appell an eine frustrierte Mittel­klasse, ein Nationalismus der Herkunft, Fremden­feindlichkeit, ein Bedrohungs­bild, das Feinde zugleich als zu stark und als zu schwach imaginiert, die Rückkehr in ein «goldenes Zeit­alter» nach dem Sieg im Endkampf, ein völkisches Elite­denken, die Pflege einer eigenen Mythologie und die Erziehung zum Heldentum, ein frauen­verachtender Machismo, ein Populismus, der ein fiktionales «Volk» idealisiert und gegen ein «verrottetes Parlament» ins Feld zieht sowie schliesslich der Newspeak, eine versimpelte Propaganda­sprache, welche die Politik zur populären Talkshow macht.

Ein faschistisches Regime bleibt nach Eco auch dann als solches erkennbar, «wenn man ein oder mehrere Merkmale abzieht», ja es genüge, «dass eines von ihnen präsent ist, und der Faschismus hat einen Kristallisations­punkt, um den herum er sich bilden kann». So sei der Ur-Faschismus «immer noch um uns, manchmal in gutbürgerlich-ziviler Kleidung», und er könne «in den unschuldigsten Gewändern daherkommen».

Um diese zivile Drapierung bemühte sich die Trump-Administration noch nicht einmal. In der Figur des Präsidenten verdichteten sich mehrere Motive, die Umberto Eco dem Faschismus zurechnete. Zudem enthüllte der White-House-Insider Michael Bender in seinem neuen Buch «Frankly, We Did Win This Election. The Inside Story of How Trump Lost», dass Trump gegenüber seinem Stabs­chef John Kelly gesagt haben soll: «Well, Hitler did a lot of good things.» Trump bestreitet das natürlich, aber der Nachweis des Zitats ist glaub­würdig. Die Aussage wirft ein Schlag­licht auf das stupende historische Nichtwissen Trumps, das wiederum Voraus­setzung für sein unbefangenes Portieren von Ideologien aus dem Arsenal des Faschismus ist.

«Reichstag-Moment» in Washington DC

Umberto Ecos gedankliche Versuchs­anordnung lädt geradezu zum Aufdecken faschistischer Kristallisations­kerne in Gegenwarts­gesellschaften ein und bietet Handhabe für eine Vielzahl historischer Vergleiche. Brisanter als die Parallelisierung von Persönlichkeiten und Ideologien ist allerdings eine trans­historische Analyse des Scheiterns der Demokratie: Was passierte im Endstadium der Weimarer Republik, welcher politischen Logik folgte die Kaskade von Ereignissen, mit der Hitler nach seiner Macht­einsetzung Ende Januar 1933 innerhalb weniger Monate und mit atem­beraubendem Tempo seine Macht­position unumkehrbar ausbauen konnte?

In einer Besprechung der Studie des deutschen Historikers Volker Ullrich zum Aufstieg von Hitler wies sein amerikanischer Kollege Christopher Browning darauf hin, wie unterschiedlich die Herkunft und die Charaktere von Trump und Hitler sind. Dennoch fielen ihm bezüglich ihres jeweiligen politischen Aufstiegs einige Ähnlichkeiten auf, aus denen er vier Schluss­folgerungen zog: Erstens wurde in beiden Fällen ein hoher Preis dafür bezahlt, dass ein charismatischer Outsider über längere Zeit hinweg unter­schätzt wurde. Zweitens verschafft sich eine Regierung durch wirtschaftliche Konjunktur­ankurbelung «zumindest passive Unterstützung für alle anderen Ziele, die sie verfolgt». Drittens erweist sich die Annahme, solche Figuren, die völlig von aussen kommen, liessen sich in Schach halten und für die eigenen Zwecke nutzen, als gefährliches Wunsch­denken der konservativen Macht­eliten. Und viertens liegt die beste Verteidigungs­linie einer Demokratie beim ersten Angriffs­punkt. Taktisches Zurück­weichen ist riskant.

George W. Bush, 2003, damals Präsident der USA (Demo in New York gegen den Krieg im Irak).Thomas Hoepker/Magnum Photos/Keystone

2019 kam der amerikanische Historiker Adam Tooze auf die Gefahr eines von Trump gezielt provozierten nationalen Notstands zu sprechen. Einem Vergleich mit dem Reichstags­brand vom 27. Februar 1933 in Deutschland und generell dem Bezug zu den 1930er-Jahren konnte er indessen wenig abgewinnen. Umso mehr wies er auf Autoren hin, welche in Trumps Auftritt eher einen «return to the baseline» sahen, wie es der Autor Jedediah Purdy nennt – eine während der Obama-Ära eher verdeckte «Unterordnung der amerikanischen Demokratie unter Kapitalismus, Patriarchat und die ungerechte Rassen­ordnung, wie sie von der Sklaverei herstammte».

Die These, dass sich Trump weit stärker aus den Traditionen der USA selbst erklären lasse als mit Referenzen auf den Niedergang von Demokratien in der Zwischen­kriegszeit, wird allerdings von neuen Publikationen über das Ende der Trump-Administration heraus­gefordert. Sie fragen nach den allgemeinen Bedingungen, unter denen demokratisch-rechts­staatliche Strukturen zerschlagen werden könnten, und greifen dabei auch auf Vergleiche mit Vorgängen in Nazi-Deutschland zurück.

In ihrem vor kurzem erschienenen Buch «I Alone Can Fix It. Donald J. Trump’s Catastrophic Final Year» beschreiben etwa die «Washington Post»-Journalistinnen Carol Leonnig und Philip Rucker, wie sich das verfassungs­treue Militär­establishment explizit auf die Möglichkeit eines Putsches vorbereitet und Massnahmen zur Sicherung der Rechts­staatlichkeit gegen einen gewalt­tätig randalierenden Mob und einen diesen unterstützenden Präsidenten eingeleitet hatte. Für einen zentralen Verantwortungs­träger, US-General Mark Milley, war Anfang 2021 ein kritischer Moment erreicht, den er «Reichstag-Moment» nennt.

Diese Formulierung fungierte gerade nicht als Gleich­setzung, sondern als antizipierende Intervention, mit der die Wiederholung eines ähnlichen Ereignisses verhindert werden sollte. Gegen die kontra­faktische Wahlsieg-Propaganda Trumps wurde hier das Bewusstsein dafür geschärft, dass die Wahrheit an krisenhaften Kipp­punkten nicht von selbst triumphiert, sondern einer machtvollen Unterstützung bedarf. Die Erinnerung an historische Vorgänge half mit, einen Trump-Putsch im Keim zu ersticken und zum Nicht­ereignis zu machen. Eine Parallele dazu findet sich 2008, als wirtschafts­geschichtlich versierte Zentralbank­chefs im Rückblick auf die kontra­produktive Geld­politik während der Grossen Depression der 1930er-Jahre kurz entschlossen einen anderen, konstruktiveren Weg einschlugen. Der historische Vergleich ermöglichte auch hier genau jenen Lern­effekt, von dem schon die Rede war.

Ein Überblick über die zerklüftete Landschaft von Nazi-Vergleichen macht deutlich, wie wichtig die Erinnerung an den Holocaust nach wie vor bleibt. Diese Erinnerungs­arbeit geschieht in der Gegenwart, und es ist nicht möglich, das geistige Probe­handeln des steten Vergleichens stillzulegen. Diejenigen, die den National­sozialismus aus dem kulturellen Gedächtnis entsorgen wollen, werden nicht müde werden, den Verweis auf die präzedenz­losen Massen­verbrechen des Hitler-Regimes als «Nazi-Keule» zu denunzieren. Wem es aber um eine multi­direktionale Erinnerung geht, will sich nicht am inflationären Gebrauch und damit an der Banalisierung von Nazi-Vergleichen beteiligen, sondern den komplexeren historischen Reflexions­modus pflegen, den etwa Umberto Eco vorgeschlagen hat.

Vergleichen bedeutet das gleichzeitige Heraus­arbeiten von Ähnlich­keiten und Unter­schieden sowie die Gewichtung der Spezifika. Es gilt, was wir etwa auch bei der Historikerin Mirjam Brusius nachlesen können: Das Festhalten an der Singularität des Holocaust und an der Verpflichtung, sich auch im 21. Jahr­hundert an diese Schreckens­phase zu erinnern, ist vereinbar mit einer nicht ausgrenzenden, pluralisierten Erinnerungskultur.

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