Wer die Einzigartigkeit des Holocaust belegen will, kommt nicht um Vergleiche herum
Lässt sich die Erinnerung an den Kolonialismus und jene an die Shoa zusammendenken, ohne den nationalsozialistischen Genozid zu relativieren? Ja, aber nur mit sehr viel Genauigkeit.
Von Jörg Heiser, 05.05.2021
Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler
Unterstützen auch Sie die Republik mit einem Abo: Einstiegsangebot nur bis 31. März 2024.
Am 9. Oktober 2019 kam es zum Anschlag auf die Synagoge von Halle in Sachsen-Anhalt. Es war ein versuchtes Massaker an Juden, zwei Menschen starben. Am 19. Februar 2020 erschoss ein Täter neun Menschen mit Migrationshintergrund bei einem rassistischen Anschlag im hessischen Hanau. Auf erschütternde Weise wurde Deutschland daran erinnert, dass im Geiste von Antisemitismus und Rassismus nicht nur ausgegrenzt und geschmäht, sondern immer noch und immer wieder gemordet wird. Und dass beides ein gemeinsames Problem aller ist.
Wenig später, im Frühjahr 2020, entbrannte jedoch in Deutschland eine breite, hitzige Mediendiskussion um die Person des kamerunischen Philosophen Achille Mbembe, bei der sich ein Widerspruch aufzutun schien zwischen der Bekämpfung des Antisemitismus und der Bekämpfung des Rassismus.
Diese Debatte muss hier kurz rekapituliert werden, um eine ihrer zentralen Fragen herauszuarbeiten: Es ist die Frage, ob und wie der Holocaust – die Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden durch Nazi-Deutschland – mit anderen Menschheitsverbrechen verglichen werden kann und wenn ja, wie.
Die Causa Mbembe – eine Spirale der Boykotte
Um es vorwegzunehmen: Ich glaube, dass eine Vertiefung dieser Frage letztlich der Schlüssel ist, wenn nicht zur völligen Auflösung, so doch zur Entwirrung des – vermeintlichen – Widerspruchs zwischen der Bekämpfung des Antisemitismus in Nachfolge des Nationalsozialismus und des Rassismus in Nachfolge des Kolonialismus. Jedenfalls dann, wenn diese Vertiefung auf der Grundlage konkreter historischer Forschung und Reflexion erfolgt, wie sie beispielsweise jüngst die Kulturtheoretikerin Iris Därmann mit ihrem bahnbrechenden Werk «Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Philosophie» geleistet hat.
Aber schauen wir uns zuerst kurz an, was seit dem Frühjahr 2020 geschah.
Zuerst forderte ein FDP-Landtagsabgeordneter in Nordrhein-Westfalen, dann auch der Antisemitismusbeauftragte der deutschen Bundesregierung, Felix Klein, vehement die Ausladung von Achille Mbembe als Redner vom internationalen Kunstfestival Ruhrtriennale. Dies entspreche dem Beschluss des Deutschen Bundestags vom Mai 2019, demzufolge «keine Veranstaltungen der BDS-Bewegung oder von Gruppierungen, die deren Ziele aktiv verfolgen», zu unterstützen seien. BDS – «Boycott, Divestment and Sanctions» – ruft international zu Boykottaktionen gegen Israel auf.
Mbembe, der als ein weltweit führender Kolonialismus- und Rassismusforscher gilt, wies die Vorwürfe zurück und sagte, er habe «keinerlei Beziehung mit BDS». Er hatte allerdings tatsächlich 2015 ein sehr scharf formuliertes Vorwort für einen Sammelband namens «Apartheid Israel. The Politics of an Analogy» geschrieben, in dem er nicht mit Superlativen sparte. So schrieb er: «Die Besetzung Palästinas ist der grösste moralische Skandal unserer Zeit, eine der dehumanisierendsten Torturen des neuen Jahrhunderts, und der grösste Akt der Feigheit des vergangenen halben Jahrhunderts.»
2018 hatte Mbembe zudem gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Literaturprofessorin Sarah Nuttall, ein schriftliches Statement veröffentlicht, demzufolge sie den Boykott Israels befürworteten und ihre Teilnahme an einer Konferenz de facto davon abhängig machten, dass den Forderungen von BDS nach Ausladung israelischer Konferenzteilnehmerinnen – namentlich der renommierten Psychologin und Konfliktforscherin Shifra Sagy – entsprochen werde (Sagy wurde nach eigener Aussage nie offiziell ausgeladen, vielmehr sei das Panel, an dem sie mitwirken sollte, einfach aus dem Programm verschwunden).
Auch andere Schriften Mbembes gerieten in die Kritik. Er habe, so der Antisemitismusbeauftragte Klein, den Holocaust relativiert, und verwies etwa auf eine Textstelle aus dem Buch «Politik der Feindschaft» (2016): «Im kolonialen Kontext war die permanente Trennungs- und damit Differenzierungsarbeit zum Teil die Folge der von den Kolonisten empfundenen Angst vor Vernichtung. […] Das Apartheidregime in Südafrika und – in einer ganz anderen Grössenordnung und in einem anderen Kontext – die Vernichtung der europäischen Juden sind zwei emblematische Manifestationen dieses Trennungswahns.»
Es sei, so sagte Klein im Deutschlandfunk seinerzeit, «zumindest missverständlich, wenn er das Apartheidsystem in Südafrika und die Zerstörung von Juden in Europa unmittelbar hintereinander erwähnt».
Einer der Hauptvorwürfe war also, allein schon durch einen solchen Vergleich werde die Ungeheuerlichkeit des Holocaust – gekennzeichnet durch die industrielle Vernichtung von Millionen von Menschen als Ziel und Zweck der «Endlösung» der Nazis – relativiert, das heisst in der Konsequenz verkannt und kleingeredet. Dem widersprachen zu Mbembes Verteidigung etwa die Philosophin Susan Neiman und die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann.
Mbembes Aussage, «keinerlei Beziehung zu BDS» zu haben, trifft zwar im rein formalen Sinne zu (er ist kein Mitglied der Organisation), erscheint aber nicht korrekt im Hinblick auf seine tatsächlichen israelbezogenen Beiträge und Aktionen. Ob dies es jedoch geboten erscheinen lässt, die Spirale der Boykotte und Ausladungen fortzusetzen? Diente eine solche Forderung der Ausladung nicht auch einer bequemen Umgehung all der Fragen nach dem kolonialen Erbe, die offen und ohne Abwehrhaltung zu diskutieren sich besonders in Deutschland viele lange genug gedrückt hatten?
Die Ruhrtriennale fand dann aufgrund der Corona-Pandemie sowieso nicht statt. Aber die Debatte war längst nicht beendet. Vielmehr brach sie mehrfach wieder auf, etwa im Dezember 2020 mit der Initiative «GG 5.3 Weltoffenheit», mit der zahlreiche deutsche Kulturinstitutionen – darunter das Goethe-Institut, die Kulturstiftung des Bundes und zahlreiche Theater – ihre Sorge darüber zum Ausdruck brachten, dass sich mit der Causa Mbembe eine zunehmend ausgrenzende Haltung gegenüber internationalen kritischen Stimmen zeige: «Die historische Verantwortung Deutschlands darf nicht dazu führen, andere historische Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung moralisch oder politisch pauschal zu delegitimieren», hiess es dort.
Eine ziemliche Zumutung – zum Relativierungsreflex
Während die Kulturinstitutionen befürchteten, dass de facto eine Zensur stattfinde, indem potenziellen internationalen Gästen – vorauseilend oder über eine Art Kontaktschuld – eine Nähe zu BDS und damit zum Antisemitismus unterstellt werde, wurde im Umkehrschluss dies als Zeichen einer Art Unterwanderung der Institutionen durch ebendiese Geisteshaltung gewertet. Der Historiker Michael Wolffsohn etwa sprach von einer «BDS-Unterwanderung» des Jüdischen Museums Berlin. Das gestiegene Interesse für postkoloniale Diskurse und die «Dekolonisierung» der Institutionen habe, so tönt es, antisemitischer Israelfeindlichkeit Tür und Tor geöffnet. Im selben Zug drohe die Einzigartigkeit der Shoah relativiert zu werden.
Die Argumente sind ausgetauscht, die Muster wiederholen sich. Auch jüngst mit der deutschsprachigen Veröffentlichung des Buchs «Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung» des jüdisch-amerikanischen Holocaust-Forschers Michael Rothberg zeigt sich das wieder. Er tritt darin für eine eben multidirektionale Auseinandersetzung nicht ausschliesslich mit dem Holocaust, sondern auch mit den Verbrechen der Kolonialzeit ein.
Konservative wie linke Tageszeitungen schrieben sehr ähnlich, dass bei Rothberg – so die TAZ unter der Überschrift «Diffuse Erinnerung» – wieder der «Wunsch nach Relativierung» sich manifestiere beziehungsweise, so die «Welt», das «Bedürfnis, den Holocaust wenn nicht verschwinden zu lassen, so ihm doch seine Sonderstellung zu nehmen».
Was bedeutet es eigentlich, wenn deutsche Journalistinnen einen jüdisch-amerikanischen Forscher, der sich seit Jahrzehnten mit dem Holocaust auseinandersetzt, darüber belehren, er hege einen – in letzter Konsequenz ja dann wohl antisemitischen – Wunsch nach Diffusion und Relativierung der Shoah? Und das, weil er offenbar zu sehr über die Verknüpfung mit der Frage nach den Menschheitsverbrechen im Zuge des Kolonialismus nachdenkt – obwohl das beispielsweise schon Hannah Arendt in ihrem Anfang der 1950er-Jahre erschienenen Buch «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» zumindest ansatzweise getan hatte?
Es bedeutet eine ziemliche Zumutung. Umso notwendiger ist es, den zugrundeliegenden Vorwurf der Relativierung genauer anzuschauen.
Und immer den Bannstrahl auf den Vergleich
Relativierung war auch der Schlüsselbegriff des deutschen Historikerstreits der 1980er-Jahre, als Ernst Nolte Auschwitz als Reaktion auf die stalinistischen Gulags einzuordnen, also tatsächlich zu relativieren versuchte und Jürgen Habermas vehement widersprach. Habermas bezichtigte Nolte beziehungsweise seine Position des «Revisionismus» – was bis heute mehr als berechtigt erscheint.
In der Tat war damals das Hauptinteresse des vergleichenden Ansatzes, deutsche Verantwortung zu relativieren, kleiner zu machen, in den Schatten des Stalinismus zu rücken. Es war die damalige Diskussion, die endgültig den Bannstrahl auf beinahe jedweden Versuch des Vergleichens richtete, der über das blosse Herausstreichen von Unterschieden hinausgeht. Der Vergleich führe, da er auf Gleichsetzung hinauslaufe, quasi automatisch zur Relativierung der Spezifik und Einzigartigkeit der sich im Holocaust manifestierenden Verbrechen, sei also strukturell antisemitisch.
Dieses Argumentationsmuster, das aus dem Historikerstreit hervorging, ist weitverbreitet – und wird gleichzeitig immer wieder in Abrede gestellt. So schreibt der «Welt»-Autor Alan Posener in einer polemischen Entgegnung auf einen «Zeit»-Artikel von Michael Rothberg und dem Afrikaforscher Jürgen Zimmerer mit dem Titel «Enttabuisiert den Vergleich!», dass Vergleiche ja gar nicht tabuisiert seien. Nur um hinterherzusetzen, Rothberg und Zimmerer ginge es in Wirklichkeit ja gar nicht um Vergleiche, schreibt Posener, sondern um die «Genese des Holocaust»; sie missbrauchten quasi die Frage nach dieser Genese, um die «Erinnerungskultur in den Dienst des Kampfes für eine bessere Welt ohne weisse und westliche Dominanz» zu stellen.
Ähnlich reagierte Thierry Chervel auf der Feuilleton-Plattform «Perlentaucher» auf Aleida Assmanns Konstatierung eines «Vergleichsverbots»; er werde als Entgegnung «über die Selbstverständlichkeit des möglichen Vergleichs» hier nichts schreiben. Nur um dann im gleichen Atemzug mit Verweis auf Steffen Klävers Studie «Decolonizing Auschwitz?» die Gefahr einer «Einbettung des Holocaust in eine Geschichte des Kolonialismus» zu beschwören, die «nur mit gewaltsamen Kappungen seiner Besonderheit machbar ist».
Verharren im Ungefähren – oder: Kontinuität ≠ Kausalität
Es ist richtig, dass Kläver sich gründlich und triftig gegen eine allzu lineare Kausalitätskette wendet, die sich – mit einem Buchtitel von Jürgen Zimmerer von 2011 – auf die Formel «Von Windhuk nach Auschwitz?» bringen liesse; gegen die These also, dass der Völkermord der Deutschen an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (1904–1908) eine Einübung darstellte und dass sich die Grundzüge der späteren militärischen Expansion gen Osten mitsamt der Vernichtungspolitik ansatzweise schon dort gezeigt hatten.
Nur war es schon bei Zimmerer als Frage formuliert, eine Leerstelle benennend, die in der Geschichtsforschung tatsächlich besteht zwischen der Erforschung von Nationalsozialismus und Kolonialismus. Und selbst wenn Zimmerer seinerzeit noch dazu geneigt haben sollte, einen zu linearen Zusammenhang zu postulieren, so betonen er und Rothberg doch in besagtem «Zeit»-Artikel: «Wer Zusammenhänge zwischen Krieg und Holocaust nicht bestreiten will, kann auch eine koloniale Dimension der Verbrechen nicht bezweifeln – allerdings als diskursive Kontinuitäten und Funktionsäquivalenzen, nicht als Kausalitäten.»
Ihre Kritiker tun so, als verstünden sie diesen Satz nicht («Welt»-Autor Posener spricht von «verquast»), dabei legt er klar dar, dass es Rothberg und Zimmerer genau nicht um das geht, was ihnen zumindest implizit ständig unterstellt wird. Sie versuchen gerade nicht, auf Teufel komm raus einen direkten Ursache-Wirkung-Konnex zwischen kolonialem Völkermord und Holocaust zu konstruieren, so wie einst Nolte zwischen Gulag und Auschwitz. Die koloniale Dimension der Naziverbrechen besteht ihnen zufolge in bestimmten «diskursiven Kontinuitäten», etwa wieder auftauchenden ideologischen Versatzstücken; und Funktionsäquivalenzen, beispielsweise der Stigmatisierung vermeintlicher Volksfeinde, Herrenrassefantasien, unmittelbare Bereicherung usw. All dies zu benennen, bedeutet nicht, eine direkte Kausalität (im Sinne von: Windhuk bewirkt Auschwitz) zu behaupten.
Allerdings unterlaufen Zimmerer und Rothberg in der Hitze des polemischen Schlagabtauschs ebenfalls masslose Übertreibungen: So werfen sie beispielsweise ihren Kritikerinnen vor, deren Zurückweisen einer globalen Erweiterung des Erinnerungskontexts erinnere an «Kampagnen gegen (jüdischen) Kosmopolitismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts». Oder sie werden ungenau beziehungsweise scheinen sich selbst zu widersprechen: Einerseits schreiben sie zu Recht, wie zitiert, dass es nicht um aus den kolonialen Dimensionen sich ergebende Kausalitäten gehe. Kurz vorher schreiben sie jedoch, die Eroberung von «Lebensraum» während des Dritten Reiches stehe «in einem kolonialen Kontinuum», was eben doch eine lineare Ursache-Wirkung-Kontinuität mindestens suggerieren kann.
Es ist diese Gefahr eines Verharrens im Ungefähren in Bezug auf die Behauptung von «Kontinuität», die es den Polemikerinnen wider die vermeintliche «Relativierung» stellenweise unnötig leicht macht. Denn auf deren Seite herrscht ein argumentatives Doublebind: Es wird behauptet, dass es gar kein Vergleichsverbot gebe. Wie oben bei Felix Klein gesehen, gilt aber, sobald ein Vergleich «zu grosse Nähe» bedeutet, das Verbot eben doch. Zumal sich die Gegnerinnen der Fraktion Rothberg/Zimmerer in der Regel gar nicht erst die Mühe machen, en détail auf die konkreten Fragestellungen einzusteigen, offenbar weil sie befürchten, dann selbst ins vermeintliche Fahrwasser der Relativierung zu geraten.
Multiperspektivisch – ein neuer Blick auf die Quellen
Dabei ist für jeden, der sich nur einen Moment einmal aus den eingeübten Argumentationsmustern heraustraut, offenkundig, dass, wer jetzt und in Zukunft die Singularität des Holocaust belegen und veranschaulichen will, natürlich auf Vergleiche angewiesen ist – und nicht nur abstrakt, sondern konkret an den historischen Vorgängen.
Eins sollte endlich klar sein: Der Versuch, eine Beziehung zwischen Kolonialismus und Holocaust zu untersuchen, ist nicht automatisch eine Relativierung des Letzteren.
Dies demonstriert gerade auch Dan Diner – der renommierte Historiker, auf den der Begriff der «Singularität» des Holocaust zurückgeht – mit seinem neuen Buch «Ein anderer Krieg». Sein Fokus richtet sich nicht wie üblich auf die kontinentaleuropäische Entwicklung des Zweiten Weltkrieges, sondern auf das jüdische Palästina als geostrategischen Angelpunkt in den Jahren 1935 bis 1942. Die Versuche des britischen Empire, seine Kolonialinteressen von der Levante bis Indien zu sichern, kollidieren mit den imperialistischen Vorstössen der Achsenmächte. 1942 werden beim ägyptischen al-Alamein die deutsch-italienischen Panzerverbände gerade noch zurückgeschlagen. Die Vernichtung der Juden wäre sonst nach Palästina getragen worden.
Diner führt an, dass es zu Solidarität zwischen Juden und Araberinnen angesichts italienischer Luftangriffe auf Haifa kam; oder dass arabisch-palästinensische Angehörige der britischen Streitkräfte in der Kriegsgefangenschaft mit jüdisch-palästinensischen Kräften kooperierten. Und er zeigt, wie die zionistischen Siedler sich gegen das britische Empire erst durchzusetzen hatten, nicht zuletzt auch, um dem von der Vernichtung bedrohten europäischen Judentum eine Zufluchtsstätte bieten zu können – was die Briten in den entscheidenden Phasen des Holocaust so weit als möglich verhinderten.
Der antisemitische Vernichtungswille der Nazi-Kriegspartei sprengte derweil jedes geostrategische Kalkül, etwa bei der Deportierung der Jüdinnen von Rhodos nach Birkenau im Juli 1944 – hier wurden keine Gefahren und Mühen gescheut, um die Judenvernichtung bis an die alleräussersten Ränder des europäischen Kriegsschauplatzes zu tragen.
Insgesamt richtet Diner ein Schlaglicht aus dem globalen Süden auf die «Funktionsäquivalenzen» und zeigt, wie die Geschichte des Zweiten Weltkriegs tatsächlich nur multidirektional oder besser multiperspektivisch erzählt werden kann: als ein Geschehen also, das simultan aus dem Blickwinkel der Kolonialgeschichte und der Vernichtung der Juden in Europa betrachtet werden muss.
Beim Historikerstreit hingegen war es nicht nur um das Vergleichen gegangen, sondern um Noltes Behauptung einer Aktion und einer Reaktion beziehungsweise eines Vorbilds und einer Nachahmung. Davon kann bei einem ernsthaften Vorschlag, Kolonialismus und Nationalsozialismus stärker auf Verbindungslinien zu untersuchen, überhaupt keine Rede sein.
Es ginge nun darum, mit neuem Blick an die historische Quellenlektüre zu gehen, genauer hinzuschauen, an den Evidenzen zu argumentieren, anstatt das Ganze einfach als ein «bloss» zeitgenössisches Problem der politischen Interpretation und Gewichtung zu sehen – und auf den heillos zerfahrenen, hochtoxischen Konflikt um Israel und die besetzten Gebiete zu beziehen.
Michael Rothberg konzentriert sich in «Multidirektionale Erinnerung», das zuerst 2009 erschien, vor allem auf Aspekte der Nachkriegszeit: wie unter dem Eindruck der Dekolonisierung (also des Unabhängigwerdens der ehemaligen Kolonien) bedeutende Theoretikerinnen von Hannah Arendt über Aimé Césaire bis W. E. B. Du Bois gar nicht umhinkamen, einen grösseren Zusammenhang zu sehen zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus.
Es ist also in erster Linie eine Reflexion im Anschluss an diese historischen Perspektivierungen – mit der im Titel gegebenen Pointe, dass eine Art Bereicherung der Erinnerungskultur entstehen müsse, wenn neben dem Holocaust andere Menschheitsverbrechen (etwa die Opfer der transatlantischen Sklaverei oder der Genozid an den Herero und Nama) ebenfalls gebührende Beachtung und Berücksichtigung fänden. Das «Multidirektionale» daran klingt jedoch nach einer Pluralität, die es erst noch weiter und genauer in ihren Binnenverhältnissen zu untersuchen gilt, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Entwicklung in der Nachkriegszeit, sondern gerade auch im Hinblick auf die Genese eines möglichen Verhältnisses, also die Zeit zwischen 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Von Parallelen und Unterschieden – ein kleiner Exkurs in die Aufklärung
Vielleicht ist ein Schlüssel zur Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Kolonialismus und Nationalsozialismus beziehungsweise Holocaust in Iris Därmanns 2020 erschienenem Grundsatzwerk «Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Philosophie» zu finden. Hier kommen die ideologischen Parallelen und Unterschiede zwischen Kolonialisten und Nationalsozialistinnen scharf zum Vorschein.
Därmann untersucht, wie berühmte Denker der Aufklärung und des Liberalismus – namentlich Thomas Hobbes und John Locke – ein Anderes projizieren, das bestialisch sei: Bei Hobbes sind es die amerikanischen Ureinwohner, die für ihn durch das Jamestown-Massaker von 1622, bei dem 347 Siedlerinnen starben, den Vorwand lieferten, sie als «wölfisch» erscheinen zu lassen. Sie sind die Blaupause für seine Grundfigur im «Leviathan» (1651): der «Naturzustand», aus dem sich die moderne Staatsordnung erhebt. Die Gleichsetzung mit dem Tier legitimiert zugleich Versklavung oder Tötung. Hobbes hatte eigene ökonomische Interessen, war Anteilseigner der Virginia Company, die Jamestown gegründet hatte.
Die Kolonisatoren verstanden sich als Repräsentanten der Zivilisation, die den «Wilden» und fremden Welten gegenübertritt, die es zu missionieren und zu erschliessen, auszubeuten und zu versklaven, im Extremfall aber auch einfach auszulöschen gelte – im Dienste der Urbarmachung und «Zivilisierung» der Welt. Und des Profits.
Knapp vierzig Jahre nach Hobbes entwarf John Locke mit seinen «Zwei Abhandlungen über die Regierung» (1689) die Grundlagen zu einer Theorie der demokratischen Freiheit aller. Er sah dabei aber wohlweislich den Ausnahmefall der Versklavung vor – und hiess diesen gut. Wenn ein «rechtmässiger Eroberer» im gerechten Krieg gewinnt und den Verlierer nicht tötet, so habe er im Sinne einer Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln das Recht, diesen zu versklaven («This is the perfect condition of slavery, which is nothing else, but the state of war continued, between a lawful conqueror and a captive»). Das liess sich leicht so hinbiegen, dass dieser «gerechte Krieg» pauschal den Sklavenhandel rechtfertigt – und passte insofern gut, als Locke selbst Aktionär der Royal African Company war. Er verdiente unmittelbar am transatlantischen Sklavenhandel mit.
Die Frage liegt nun nahe, ob im Nationalsozialismus philosophische Stichwortgeber auf ähnliche Weise bereit waren, in einer Mischung aus eigener Überzeugung und Anpassung an den Zeitgeist passende ideologische Versatzstücke zu liefern. Und in der Tat: Bei Martin Heidegger und Carl Schmitt – im Echo mit Hitler, Heinrich Himmler und Hans Frank – arbeitet Därmann dies minutiös heraus.
Politische Zoologie – oder: Freilassung der «Bestie» Mensch
Carl Schmitt hiess 1934 die Beseitigung «artfremder Elemente aus der Beamtenschaft» gut, so als ginge es um einen Vorgang biologischer, züchtender Hygiene (was es aus dem Blickwinkel völkischer Rassenideologie genau ist). Damit einher geht ein Bild des Juden als «Maskenträger», als insekten- oder echsenhaften «Virtuosen der Mimikry», den es zu demaskieren gelte. Entsprechend forderte er unter Berufung auf den Reichrechtsführer Hans Frank die «exakte» Feststellung, «wer Jude und wer nicht Jude ist», und von jüdischen Autoren gesäuberte Bibliotheken.
Heidegger wiederum schreibt in den «Schwarzen Heften», der Nationalsozialismus könne «wahr» sein, «wenn er imstande ist, eine ursprüngliche Wahrheit freizugeben und vorzubereiten». Und weiter: «Der Nationalsozialismus ist ein barbarisches Prinzip. Das ist sein Wesentliches und seine mögliche Grösse.» Die Juden erscheinen in dieser Konstellation als jene, die der «bestialischen» Vollendung der Metaphysik durch den Nationalsozialismus im Weg sind.
Die politische Zoologie ist skizziert. Es ist die Umstülpung oder Inversion der ideologisch-projektiven Gegenüberstellung von «moderner Gesellschaft» und dem tierisch-bestialischen Anderen: Das Andere wird nun genau umgekehrt lokalisiert in der verkommenen, dekadenten, berechnenden Gesellschaft, im jüdischen Kosmopoliten, im Wimmelnden und Parasitären.
Demgegenüber muss das Eigene freigelegt und wiederentdeckt werden: das Bestialische, das Barbarische und Völkische («Das Kennzeichen der Wirklichkeit jedes Wirklichen im Ende der Metaphysik ist die Brutalitätsfähigkeit», notiert Heidegger).
Heidegger verzichtet, so Därmann, «auf die Fassadenbildung der SS-Anständigkeit», deren sich noch Himmler bei seiner berüchtigten Posener Rede vom Oktober 1943 befleissigte, als er den SS-Schergen bescheinigte, noch im Anblick der Leichenberge in den Vernichtungslagern – «abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein». Heidegger begrüsst vielmehr ausdrücklich die Freilassung der «Bestie» Mensch, zitiert dafür Franz Grillparzers Sentenz: «Der Weg der neuern Bildung geht / Von Humanität / Durch Nationalität / Zur Bestialität.»
Aber auch die Schnittmenge zwischen Heidegger und Himmler bleibt sichtbar: Erst durch Bestialität wird die Metaphysik überwunden zugunsten einer volksgemeinschaftlichen, rassischen Wahrheit. Es ist ein Programm für den industrialisierten Genozid, der sich längst nicht mehr um die Fassade der Zivilität schert, ja das den eigenen Untergang in Kauf nimmt; man denke auch an Sebastian Haffners in «Anmerkungen zu Hitler» von 1978 bereits gemachter Beobachtung, dass in der Zwangslogik Hitlers und damit seiner Erfüllungsgehilfen der eigene Lebenshorizont darauf zielt, die Juden zu vernichten, und sei es um den Preis, zugleich Deutschland zu vernichten.
Um es noch einmal klar zu sagen: Das kolonialistische Denken operiert – im Grunde bis heute – mit der Ideologie einer Entgegensetzung von «moderner» Zivilisation und dem Anderen, dem Tierisch-Barbarischen. Der Nationalsozialismus invertiert diese Ideologie: Es ist nun das Tierisch-Barbarische, das als Wahrheit des (homogen und rassisch definierten) Volkes freizulegen sei – freigelegt gegenüber dem Feind, der jüdisch-kosmopolitischen «Zivilisation». In diesem Sinne bleiben Kolonialismus und Nationalsozialismus im Zerrspiegel dieser ideologischen Inversion verbunden.
Radikale Umstülpung – der «Madagaskar-Plan»
Bezüglich der Frage nach (Dis-)Kontinuität ist also die These, die sich aus Därmanns Buch ableiten lässt – auch wenn sie dort weniger explizit gemacht wird, als latent enthalten bleibt –, die folgende: Die Verbindung zwischen Kolonialzeit und der antisemitischen Vernichtungspolitik der Nazis besteht nicht in einer «blossen» Fortsetzung, Kumulation oder Steigerung, sondern in einer radikalen Umstülpung, einer Inversion der zugrundeliegenden Legitimationsideologie.
Das Verhältnis zwischen Zivilisation und «Wilden», das die Kolonialzeit beherrschte, kehrt sich exakt um. Hierin gründen sowohl die «diskursiven Kontinuitäten» zwischen Kolonialverbrechen und Holocaust als auch die radikale Singularität des Letzteren.
Die Inversion bedeutet zugleich auch die Verlagerung vom kolonialen Motiv der gnadenlosen Unterwerfung und Ausbeutung – die im Extremfall, wenn es für das Ziel der Ausbeutung von Menschen und Land opportun erscheint, zwar die völlige Vernichtung billigt und betreibt, sich aber weiterhin als fortschrittlich und zivil erfährt – hin zum eigentlichen nationalsozialistischen Hauptziel der Vernichtung, mit dem Nebeneffekt einer darauf hinführenden gnadenlosen Ausbeutung und Plünderung (Zwangsarbeit, «Arisierung» jüdischen Besitzes, Vernichtung durch Arbeit).
Aber ist es vielleicht nicht einfach ein ideengeschichtlicher Zufall, dass sich sowohl Kolonialisten als auch Nazis der Gegenüberstellung eines Tierischen und eines «Zivilisierten» bedienen, nur eben seitenverkehrt? Ist es nicht. Därmann führt an, dass Hitler bereits 1926 von «Ostkolonisation» spricht, auf der NSDAP-Führertagung in Bamberg: Nur eine «weitsichtige Kolonialpolitik, nicht in anderen Weltteilen, sondern in Europa, an unseren Ostgrenzen, wird eine Gesundung unserer Rasse ermöglichen».
Zehn Jahre später ist im Band «Der Reichsarbeitsdienst in Wort und Bild» von der notwendigen «planmässigen Innenkolonisation» die Rede, um die durch den Versailler Vertrag verlorenen Territorien aufzuwiegen. Die Arbeiten einiger Historiker wie Zimmerer oder auch Magnus Brechtken untermauern die These, dass in die Entstehung der genozidalen «Endlösung» zumindest bis 1940/41 immer wieder auch Versatzstücke des Kolonialdenkens eingingen.
Brechtkens 1998 erschienene Studie «Madagaskar für die Juden» rekonstruiert gründlich, wie der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstandene rassische, sozialdarwinistische Antisemitismus auch die Vorstellung einer gänzlichen Aus- und Absonderung der Juden in ein fernes Land hervorbrachte und wie diese Vorstellung noch bis in die Kriegsjahre 1940/41 als Vorraum und Camouflage der dann eigentlichen Zielsetzung der Vernichtung der Juden diente.
1885 spricht der deutsche «Orientalist» Paul de Lagarde, einer der übelsten Vordenker des modernen völkischen Antisemitismus, beinahe beiläufig von den «nach Palästina oder noch lieber nach Madagaskar abzuschaffenden» Juden Polens, Russlands, Österreichs und Rumäniens. Brechtken hört hier noch den «exotisch-erlösenden Ton» des Kolonialromantikers heraus, den es schon zwei Jahre später bei Theodor Fritsch – einem der wenigen, die Hitler explizit als Einfluss nennt – nicht mehr hat; nun sollen die Juden sich nur mehr selbst «irgendwo ein Colonial-Land erwerben».
Hans Leuss fordert 1893 «die Transplantation» des jüdischen Volkes nach Südafrika. Der Engländer Henry Hamilton Beamish, ein weiterer Verfechter der Madagaskar-Idee – ehemals Soldat in Südafrika –, trat 1923 mit Hitler vor 7000 Zuschauern im Münchner Zirkus Krone auf. Derselbe schrieb 1926 im «Völkischen Beobachter» zynisch: «Wo ist das Paradies, das allen Juden vergönnt, in Frieden und Freude dahinzuleben, dabei sich rein zu halten und auch ihren Idealen […] nachzugehen? Das ist Madagaskar.»
1934 traf sich ein internationaler Antisemiten-Kongress gleich zweimal – erst in der Schweiz, in Bellinzona, dann in Belgien – und gipfelte in einem gemeinsamen «Rütli-Schwur» aller Teilnehmer, man werde «nicht ruhen und rasten», bis auch der Jude «sein eigenes Vaterland habe», das allerdings nicht Palästina sein könne, sondern gross genug sein müsse für alle Juden der Welt. Als Alternative bleibe sonst nur die «blutige Lösung der Judenfrage».
Unter Nazigrössen kursierten in den folgenden Jahren auch andere Szenarien; so spielte Göring mit dem Gedanken, man könnte die Jüdinnen in der ehemaligen deutschen Kolonie Tanganyika (heutiges Tansania) ansiedeln – Hitler wandte ein, man könne Territorien, «in denen so viel deutsches Heldenblut» geflossen sei, nicht den ärgsten Feinden der Deutschen überlassen.
Zurück in die Gegenwart
Im Grunde haben wir hier eine weitere Inversion: Aus der kolonialen – dabei beschönigenden, täuschenden – Utopie eines verheissungsvollen neuen Territoriums für Auswanderer wird die Dystopie eines isolierenden Zwangsreservats. Die Madagaskar-Pläne des 19. Jahrhunderts extrapolierten gewissermassen Motive, die aus den Strafkolonien Englands in Australien oder aus den Reservaten rührt, in die die nordamerikanischen Ureinwohner gezwungen wurden.
Die Kolonisierung zur Ausbeutung anderer Erdteile und anderer Völker bleibt dabei jedoch etwas fundamental anderes als dann im Dritten Reich die Absonderung eines riesigen Bevölkerungsteils aus dem «eigenen» Territorium mit dem Ziel, ihn völlig zu vernichten.
Den Nazis war im Übrigen klar, dass auch der «Madagaskar-Plan» aufgrund der Übersiedlungsumstände und der Verhältnisse vor Ort Millionen Tote bedeutet hätte. Und schon bald verdichten sich die Indizien, wie Brechtken aufzeigt, dass die Gedankenspiele bezüglich der Entstehung eines «Judenreservats» in Madagaskar, wie sie immer wieder kursierten, unter der Hand der kalt-pragmatischen Schergen Hitlers – Reinhard Heydrich, Adolf Eichmann – längst zu einer Art Abfederung des eigentlichen Ziels der genozidalen «Endlösung» in Europa geworden waren. Noch 1942 wurde den Häftlingen im Vernichtungslager Treblinka erzählt, Hitler habe sich mit Roosevelt auf die «Madagaskar-Lösung» geeinigt, bald schon gehe der erste Zug aus Treblinka ab – um sie von der Flucht abzuhalten.
Es bleibt also zu untersuchen, inwieweit eine mit dem Madagaskar-Motiv verbundene «koloniale» Rhetorik der Nazis, selbst schon in den 1920er-Jahren, eine «Tarnmetapher» (Brechtken) gewesen sein könnte. Nahe liegt, dass es eine Mischung aus Täuschung und einem doch ernsthaft erwogenen Plan ist, also eine Bruchlinie innerhalb des Nationalsozialismus. Bei einigen Nazi-Grössen mag diese Bruchlinie direkt durch die Person gegangen sein, etwa beim «Schlächter von Polen», dem Generalgouverneur Hans Frank, dessen Freude über den Gedanken an Madagaskar in seinen Äusserungen des Sommers 1940 noch «sinnlich greifbar gewesen» sei, so Brechtken.
Wenn man der These einer nationalsozialistischen Inversion der Kolonialideologie vor diesem Hintergrund mal einen Moment folgt, führt sie geradewegs aus der Sackgasse einer falschen Wahl zwischen «Kausalität, ergo Relativierung» und «Singularität». Denn sie zeigt auf, wie Kolonialismus und Nationalsozialismus untergründig verbunden sind – und der Holocaust dennoch ein singuläres Menschheitsverbrechen bleibt.
Es bedeutet zugleich, dass es genuin zum Verständnis der Entstehung der genozidalen «Endlösung» gehört, ihr Verhältnis zum immer wieder auch genozidalen Kolonialismus im Blick zu haben. Damit einher geht die Notwendigkeit, Letzteren auch ideologisch in seinem Fortwirken bis heute zu verstehen.
Und das führt in die unmittelbare Gegenwart. Eine adäquate Erinnerungskultur sucht die Resonanzen auf, versteht sie als zu entwirrendes Geflecht von Parallelen und Gegensätzen, anstatt sie rundweg abzustreiten.
Eine Blaupause dafür gibt es bereits. Es ist der Kampf der Sinti und Roma um die Erkennung, Anerkennung und offizielle Erinnerung des Porajmos, der Ermordung von geschätzt 200’000 bis 500’000 Opfern durch Nazi-Deutschland. 2012 wurde in Berlin ein grosses Mahnmal eingeweiht, auf halbem Weg zwischen Reichstag und dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas. 2020 avisierte die Deutsche Bahn – ausgerechnet die Deutsche Bahn! –, dieses Denkmal möge für einen S-Bahn-Tunnelbau abgebaut oder verlegt werden. Nach Protesten wurde der Plan wieder abgeändert.
Aber dass er überhaupt ernsthaft erwogen wurde, zeigt triftig, wie die Deutschen immer noch dazu neigen, sich zwar zugutezuhalten, dass sie die Shoah adäquat «bewältigt» hätten, sich aber auch deshalb tendenziell taub stellen bei allem anderen, was zwar zweifelsfrei bewiesen, aber dennoch bislang nicht adäquat «bewältigt» – also anerkannt und erinnert – ist.
Keiner jener, die mit Verweis auf den Holocaust laut gegen die (vergleichsweise) leisen Forderungen nach Berücksichtigung der kolonialen Verbrechen polemisieren, wäre je so unverfroren gewesen, die Existenz dieser Verbrechen abzustreiten. Konsequenterweise müssten sie sich dann aber auch für ein offizielles Mahnmal für die ermordeten Herero und Nama einsetzen. Es wird Zeit, dass sie es tun.
Jörg Heiser ist Direktor des Instituts für Kunst im Kontext der Universität der Künste in Berlin. Er war knapp zwanzig Jahre Redaktor der britischen Kunstzeitschrift «Frieze».