Auf lange Sicht

Schauen Sie sich die Welt von morgen an

Mit seinem neusten Bericht hat der Weltklimarat erstmals auch einen interaktiven Atlas veröffentlicht, der alle Daten verfügbar macht, die Forscher für ihre Prognose­modelle verwenden. Eine Weltreise mit sechs Erkenntnissen und dazu passenden Karten.

Von Simon Schmid, 16.08.2021

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Heute vor einer Woche hat der Welt­klimarat seinen sechsten Sachstands­bericht zu den wissenschaftlichen Grundlagen des Klima­wandels veröffentlicht. Das Dokument bespricht über fast 4000 Seiten hinweg das Ausmass der globalen Erwärmung und zeigt die mannig­faltigen Folgen auf.

Über den Bericht, eine Synthese aus Tausenden von Forschungs­arbeiten, wurde viel geschrieben. Zu Recht: Er repräsentiert einen Meilen­stein in der Klima­forschung und ist ab nun die wichtigste Referenz für die Klimapolitik.

Gleichzeitig mit dem Bericht hat der Klimarat (IPCC) vergangene Woche aber noch eine weitere Neuheit publiziert: einen interaktiven Atlas. Dieser bietet einer breiten Öffentlichkeit erstmals Zugriff auf die Daten, die der Klimarat verwendet: auf die meteoro­logischen Messwerte, mit denen der Klima­wandel der letzten Jahrzehnte untersucht wird und die Klima­modelle evaluiert werden, und auf die Simulations­ergebnisse, die diese Modelle für die Zukunft hervor­bringen.

Doch auch die besten Karten nützen nichts, wenn man nicht weiss, wie man sie benutzt. Deshalb haben wir für unser Daten­briefing einen Tourguide organisiert: ETH-Klima­forscher Erich Fischer, einer der Leit­autoren des IPCC-Berichts, führt uns durch den Klima­atlas – und zwar anhand von sechs Erkenntnissen und dazu passenden Karten.

1. Der Klimawandel passiert nicht in ferner Zukunft, sondern betrifft bereits die Gegenwart

Wir starten mit einer Bestandes­aufnahme. Wie stark hat sich die Erde bereits erwärmt? Und wo ist die Temperatur­zunahme besonders ausgeprägt?

Die Antwort gibt folgende Karte. Sie ist aus Daten erzeugt, die im interaktiven Atlas als Beobachtungen kategorisiert sind – also als tatsächliche Messungen. Das hinterlegte Datenset stammt vom «Berkeley Earth Surface Temperature»-Projekt von der gleichnamigen Universität in Kalifornien. Abgebildet ist, um wie viel Grad Celsius sich die Erd­oberfläche im Schnitt der vergangenen knapp 60 Jahre pro Jahrzehnt erwärmt hat. Wir erfahren hier also etwas über das Ausmass der bisherigen Erd­erwärmung – aber auch über deren Geschwindigkeit.

Alle Erdteile sind wärmer geworden

Temperaturzunahme pro Jahrzehnt, 1961–2015


Quelle: Berkeley Earth, IPCC.

Die Botschaften dieser Karte sind klar: Der Klima­wandel wird nicht erst in ferner Zukunft passieren – er findet längst statt. Und der Klima­wandel wird auch nicht nur einzelne Regionen betreffen – sämtliche Kontinente haben sich bereits mehr oder weniger stark erwärmt.

Zum Beispiel Nordamerika. Klickt man im Atlas in die Gegend, wo sich New York befindet, wird ein Wert von plus 0,2 Grad Celsius pro Jahrzehnt angezeigt. Auf die gesamte Spanne seit 1961 hochgerechnet ergibt das ein Plus von 1,2 Grad. In West­europa liegt der Wert mit plus 0,3 Grad pro Jahrzehnt sogar noch etwas höher, es ergeben sich hier insgesamt plus 1,8 Grad seit den 1960er-Jahren.

Das ist zwar noch nicht die ganze Geschichte – das Klima erwärmt sich bereits seit der Industriali­sierung im 19. Jahr­hundert – doch es ist der Zeitraum, in dem das Gros der Treibhaus­gase ausgestossen wurde.

«Die Messwerte sind ein starkes Zeugnis dafür, dass sich das Klima rasant verändert», sagt ETH-Klima­forscher Fischer. «Und sie bestätigen die Warnungen vor der globalen Erwärmung, die Forscher schon seit vielen Jahrzehnten aussprechen.»

Warum sich manche Teile der Erde rascher erwärmen als andere, dazu gleich mehr. Zuerst schauen wir uns an, wie sich die Weltkarte verändert, wenn wir ein kleines Stück in die Zukunft gehen.

2. Die Temperaturen steigen auf jeden Fall weiter – die 1,5-Grad-Marke dürfte in gut zehn Jahren erreicht sein

Dazu wechseln wir zunächst die Daten­basis. Wir arbeiten nicht mehr mit Beobachtungen, sondern mit Vorhersagen, die sich aus computer­gestützten Klima­modellen ergeben, wenn man ihnen ein bestimmtes Emissions­szenario für die Zukunft zugrunde legt.

Das Datenset, das wir benutzen, ist eine Synthese aus bis zu vierzig Klima­modellen. Es ist laut Fischer die beste Quelle, die existiert – auf ihr basieren die Aussagen des Weltklima­rats.

Wie verändern sich gemäss dieser Quelle die Tempera­turen in naher Zukunft? Eine Idee davon vermittelt die folgende Karte. Sie spult die Zeit um rund zehn Jahre nach vorne, also bis ungefähr 2030. Das ist der Moment, ab dem die globale Durchschnitts­temperatur aller Voraussicht nach die klima­politisch wichtige Schwelle von plus 1,5 Grad überschreiten wird.

Das 1,5-Grad-Ziel ist bald erreicht

Temperaturanstieg auf die kurze Frist (2021—2040)


Anstieg im zweittiefsten Szenario (SSP1 2.6) gegenüber der vorindustriellen Zeit (1850—1900). Die Marke von 1,5 Grad wird in diesem Szenario in den frühen 2030er-Jahren erreicht. Quelle: IPCC.

Anders als auf der Karte mit den historischen Messdaten sind hier nicht nur die Land­massen eingefärbt, sondern auch die Ozeane. Anhand der Rottöne erkennt man, dass sich die Land­massen tendenziell stärker erwärmen als die Ozeane und die Regionen im hohen Norden stärker als die um den Äquator.

Bevor wir auf die Gründe dafür eingehen, ein paar allgemeine Erklärungen dazu, was diese Karte eigentlich abbildet. Welches Szenario liegt dieser Simulation zugrunde? Und warum?

  • Die Antwort darauf heisst SSP1 2.6. Dieses Emissions­szenario ist gegenüber dem Status quo bereits ziemlich ambitioniert: Die Treibhaus­gas­emissionen nehmen nicht mehr weiter zu, sondern sinken kontinuierlich ab, bis sie im Jahr 2070 netto null erreichen. Das erscheint nicht übertrieben optimistisch, aber stellt trotzdem einen Fortschritt dar.

  • Der Weltklimarat hat neben diesem auch noch andere Szenarien definiert: Höhere Szenarien, in denen die Emissionen weiter zunehmen (SSP2 4.5, SSP3 7, SSP5 8.5), und ein tieferes Szenario (SSP1 1.9), in dem die Emissionen rascher sinken und bereits um 2050 auf netto null fallen.

  • Doch unabhängig davon, welches Szenario man betrachtet: Für die nahe Zukunft läuft es fast immer auf dasselbe hinaus. Je nach Szenario wird die Marke von plus 1,5 Grad Celsius (die quasi das Optimum darstellt, das überhaupt noch möglich ist) einen Tick schneller oder langsamer erreicht. Dass es so weit kommt, ist somit praktisch nur noch eine Frage der Zeit.

«Wir müssen uns bewusst sein, dass wir auf dem Weg hin zu plus 1,5 Grad bereits sehr weit fortgeschritten sind», sagt Fischer. «Seit der vorindustriellen Zeit hat sich die Erde bereits um 1,1 Grad erwärmt. Es fehlt nicht mehr viel.»

Mit anderen Worten: Der Zug in Richtung Pariser Klimaziel ist schon fast abgefahren. Wenn wir uns beeilen, erwischen wir gerade noch den letzten Waggon.

3. Bei einem halbherzigen Klima­schutz steigen die Temperaturen bis weit ins 21. Jahr­hundert weiter

Was das bildlich bedeutet, illustrieren zwei weitere Karten. Wie die vorherige Karte basieren sie ebenfalls auf dem SSP1-2.6-Szenario. Sie zeigen also, was passiert, wenn die Welt es einigermassen ernst meint mit dem Klima­schutz, aber das Steuer eben nicht vollständig und nicht genug schnell herumreisst.

Es droht ein heisses 21. Jahrhundert

Temperaturanstieg auf die mittlere Frist (2041–2060) ...

... auf die lange Frist (2081–2100)


Anstieg im zweittiefsten Szenario (SSP1 2.6) gegenüber der vorindustriellen Zeit (1850—1900). Quelle: IPCC, IPCC.

Wie gesagt: Dies ist eines der besseren Szenarien. Und trotzdem zeigen die Karten, dass die Temperaturen bis Ende des Jahrhunderts weiter ansteigen: im globalen Schnitt um plus 1,8 Grad Celsius (wobei die Bandbreite der Schätzungen bis plus 2,4 Grad geht) und in bestimmten Regionen sogar noch um deutlich mehr.

In der Arktis beispiels­weise, der tiefrot eingefärbten Gegend ganz im Norden, zeichnet sich ein Temperatur­anstieg von plus 6 Grad und mehr ab. Warum ist diese Region so stark betroffen?

4. Bald können Schiffe quer durch die Arktis fahren

Wie ETH-Klima­forscher Fischer erklärt, hat dies mehrere Ursachen. Die anschaulichste ist der sogenannte Albedo-Effekt: Je mehr Arktis­eis wegschmilzt, desto weniger eintreffendes Sonnen­licht wird zurück in die Atmosphäre reflektiert und desto mehr Wärme wird absorbiert – was die Oberfläche zusätzlich erwärmt.

Im Gegensatz zur Antarktis, dem Südpol, ist die Arktis zudem kein eigener Kontinent. Das nördliche Polareis ruht nicht auf Land und ist kein mächtiges Eisschild, sondern Meereis. Der Albedo-Effekt wirkt deshalb vorwiegend am Nordpol und deshalb erwärmt sich dieser viel stärker als der Südpol.

Doch nicht nur die Arktis, auch die Antarktis erwärmt sich stärker als der Rest der Erde. Denn sowohl in der Atmosphäre als auch im Ozean wird Wärme von den mittleren Breiten zu den Polen transportiert. Mit zunehmendem Klima­wandel wird dieser Wärme­transport intensiviert.

Die Konsequenz davon zeigt die folgende Karte. Man erhält sie, indem man im interaktiven Atlas als Variable nicht die Temperatur, sondern die Dichte des Meer­eises anzeigen lässt – und dann die Jahres­zeit auf den September eingrenzt, den Monat, in dem jeweils am wenigsten Arktis­eis vorhanden ist. Man sieht: Im Vergleich zu früher geht das Eis zur Mitte des Jahrhunderts stellen­weise um 60 Prozent zurück.

Der Nordpol wird «praktisch eisfrei»

Dichte des Meereises zur Mitte des Jahrhunderts


Meereisvorkommen im September, Veränderung im zweittiefsten Szenario (SSP1 2.6, 2041—2060) gegenüber der vorindustriellen Zeit (1850—1900). Quelle: IPCC.

Nicht umsonst schreibt der Klimarat deshalb in seinem Bericht: «Die Arktis wird im September wahrscheinlich mindestens einmal vor 2050 praktisch eisfrei sein in den fünf Szenarien, die in diesem Bericht betrachtet wurden.»

Klimawandel bedeutet also nicht nur «mehr Hitze» sondern auch «weniger Kälte». Das gilt nicht nur am Nordpol, sondern auch in Zentraleuropa.

5. Es gibt weniger Frosttage, die Böden tauen zunehmend auf, Vegetation und Untergrund verändern sich

Was das bedeutet, lässt sich anhand der nächsten Karte erahnen. Sie basiert ebenfalls auf dem erwähnten Klimaschutz-light-Szenario und zeigt die Veränderung der jährlichen Frosttage. Also der Tage, an denen die Temperatur an einem bestimmten Ort unter den Gefrier­punkt fällt.

Ein bis zwei Monate weniger Frost

Veränderung der Anzahl Frosttage zur Mitte des Jahrhunderts


Veränderung im zweittiefsten Szenario (SSP1 2.6, 2041—2060) gegenüber der vorindustriellen Zeit. Quelle: IPCC.

Aus der Abbildung geht hervor, dass es zum Beispiel in der Schweiz künftig gut und gerne 30 Frost­tage weniger geben kann – wobei hier exakte Angaben schwierig sind, wie ETH-Klima­forscher Fischer betont: Das geografische Raster des Modells ist relativ gross und kann den topo­grafischen Eigenheiten der Schweiz nicht ganz gerecht werden. Die Folgen seien trotzdem absehbar. Dazu gehören:

  • Gewisse Schädlinge, zum Beispiel für Apfel­bäume, können sich in einem Kalender­jahr öfter fortpflanzen, weil der Frost sie seltener daran hindert.

  • Pflanzen beginnen im Frühling früher zu blühen. Das kann gefährlich sein, wenn es im Spät­frühling doch noch einmal frostige Tage gibt.

  • Schnee und Eis schmelzen im Frühling rascher weg. Die alpinen Böden werden wärmer und weicher, dadurch werden Hänge instabiler.

Die Aufzählung ist längst nicht abschliessend. Doch sie macht klar: Der Klimawandel trifft nicht nur Südseeinseln, die bald im Meer versinken, sondern trifft auch Europa auf mannigfache Weise. Besonders in Südeuropa, rund ums Mittelmeer, zeichnen sich bedrohliche Klimaveränderungen ab.

6. Das südeuropäische Klima fühlt sich zunehmend wie das Klima in Nordafrika an

Stellvertretend dafür zwei weitere Karten. Sie verdeutlichen, wie sich das europäische Klima im Sommer verändern dürfte.

Die erste zeigt die jährlichen Höchstwerte der Tageshöchst­temperaturen, also gewisser­massen die jährlichen Hitze­rekorde. Sie zeigt für Mittel­europa Werte um rund plus 3 Grad Celsius an. Man kann dies so verstehen: Wurde beispiels­weise zu vorindustriellen Zeiten in Basel ein Hitze­rekord von 35 Grad vermeldet, so dürfte dieser Hitze­rekord Mitte Jahrhundert um 3 Grad höher liegen – bei 38 Grad. Sogar um 4 Grad dürften die Hitze­rekorde etwa in Spanien oder in der Türkei ansteigen.

Der Sommer wird heisser ...

Veränderung der Temperaturrekorde zur Mitte des Jahrhunderts


Veränderungen im zweittiefsten Szenario (SSP1 2.6, 2041—2060) gegenüber der vorindustriellen Zeit (1850—1900). Quelle: IPCC.

Die zweite Karte zeigt eine weitere Variable, die im IPCC-Atlas abrufbar ist: die Niederschlags­menge. Hier wurde zusätzlich gefiltert: Abgebildet ist nur die Veränderung in den Sommer­monaten Juni bis August.

Erkennbar ist ein voraus­sichtlicher Rückgang von 10 Prozent in manchen Gegenden Frankreichs bis hin zu minus 30 Prozent in der Mittelmeerregion.

... und der Sommer wird trockener

Veränderung der Sommerniederschläge bis Mitte Jahrhundert


Veränderungen im zweittiefsten Szenario (SSP1 2.6, 2041-2060) gegenüber der vorindustriellen Zeit (1850—1900), Monate Juni bis August. Quelle: IPCC.

«Wenn es im Sommer heisser wird und dazu noch weniger Regen fällt, ergibt dies eine doppelte Belastung», erklärt Erich Fischer. «Die hohe Verdunstung führt dann dazu, dass die ohnehin schon wasser­armen Böden zusätzlich austrocknen.» Laut dem ETH-Forscher wird sich das süd­europäische Klima in Zukunft mehr und mehr wie das Klima in Nordafrika anfühlen – mit stabilen Schönwetter­lagen, die sehr heisse und regen­arme Sommer bringen.

Vorboten dieser gefährlichen Entwicklung zeigen sich bereits heute, mit den Waldbränden in Griechenland und der Türkei. Doch gerade solche extremen Ereignisse seien allein durch die Atlas­informationen nicht wirklich fassbar, gibt Fischer zu bedenken. «Der Atlas zeigt Werte an, die über mehrere Jahre und grössere Gebiete gemittelt sind.» Lokal könne es in einem bestimmten Jahr jedoch zu viel grösseren Ausschlägen kommen, sei es in Form von Hitze­wellen oder Stark­niederschlägen.

Wer im Klimaatlas herum­stöbert, sollte dies stets im Hinterkopf behalten. Seine Karten sind einprägsam, aber auch trügerisch. Die Realität wird vielerorts anstrengender, extremer, krasser, als es solche Abbildungen je vermitteln könnten.

Zu den Daten

Sie stammen vom interaktiven Atlas des IPCC. Dort gibt es eine Funktion, die den Export als Bilddatei im png-Format erlaubt. Professionelle Anwenderinnen können die Inhalte des Atlas auch in NetCDF- und GeoTIFF-Formaten herunter­laden. Die Perma­links unter den Karten (IPCC) führen jeweils direkt zur interaktiven Version.

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