Die Olympischen Spiele von Europa
An Olympia kommen Sportlerinnen aus der ganzen Welt zusammen. Doch auf den Siegerpodesten dominiert seit 125 Jahren der Alte Kontinent. Auch dieses Jahr.
Von Simon Schmid, 09.08.2021
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Was verbindet Polina Guryeva, Hugues Fabrice Zango und Alessandra Perilli?
Sie haben an den Olympischen Sommerspielen von Tokio, die am Sonntag zu Ende gegangen sind, Geschichte geschrieben – indem sie für ihr jeweiliges Land zum ersten Mal überhaupt eine Medaille gewonnen haben.
Guryeva gewann für Turkmenistan Bronze im Gewichtheben, Zango für Burkina Faso Bronze im Dreisprung und Perilli für San Marino ebenfalls Bronze im Tontaubenschiessen (zwei Tage später gewann sie mit ihrem Teamkollegen Gian Marco Berti dazu noch Silber im Mixed-Wettkampf).
Die drei Erfolge wurden in der Presse gebührend gefeiert – haben kleine oder «exotische» Länder auf der olympischen Sportbühne ihren grossen Auftritt, gibt das immer eine gute Geschichte ab. Und ganz im Geist der Spiele, dieses sportlichen Karnevals der Nationen, wurde ein weiterer Rekord vermeldet: Noch nie haben so viele Länder eine Goldmedaille geholt wie heuer in Tokio.
Diese Schlagzeile klingt natürlich ebenfalls toll. Und tatsächlich: Es macht Freude zu sehen, wie sich Athletinnen aus Bermuda (im Triathlon), Katar (im Gewichtheben) und den Philippinen (ebenfalls im Gewichtheben) die ersten olympischen Goldmedaillen um den Hals hängen dürfen – und tags darauf sogar ein weiterer Katarer die Siegerrunde im Stadion dreht, Hand in Hand mit einem Italiener, mit dem er die Goldmedaille im Hochsprung teilt.
Doch man darf sich von diesen Bildern nicht zu sehr verführen lassen. Gleiche Verhältnisse unter den Teilnehmerländern haben an Olympischen Spielen noch nie geherrscht. Und das ist bis heute so.
Athen, 1896
Um dies zu illustrieren, blenden wir zurück – ins Jahr 1896. Damals fanden in Athen die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit statt. Man muss sich diesen Event aus heutiger Sicht ungefähr wie ein Grümpelturnier vorstellen: Es nahmen 14 Teams mit insgesamt 241 Athleten teil, vornehmlich aus Europa. In gerade zehn Disziplinen wurde um Medaillen gerungen, ein gewisser Louis Zutter holte damals Gold und zweimal Silber für die Schweiz im Turnen.
Dass die olympische Welt damals nicht nur metaphorisch einem Dorf glich, zeigt sich, wenn man die Resultate von 1896 auf einer Weltkarte aufzeichnet. 80 Prozent aller Gold-, Silber- und Bronzeauszeichnungen gingen nach Europa. Nur eine Handvoll Medaillen gingen nach Übersee, in die USA und nach Australien. Die grossen Absahner waren übrigens die Griechen: An ihren Heimspielen heimsten sie über ein Drittel aller Medaillen ein.
Der Blick in die Vergangenheit macht deutlich, wo die Ursprünge der Spiele liegen – sowohl in geografischer als auch in kultureller Hinsicht. Olympia begann als Sportveranstaltung für (männliche) Athleten aus reichen Ländern, die primär aus Westeuropa und aus der angelsächsischen Welt kamen.
Berlin, 1936
Das blieb (nachdem ab 1900 auch Frauen teilnahmen) bis zum Ersten Weltkrieg so; und es veränderte sich auch bis zum Zweiten Weltkrieg nicht merklich. Zwar kamen mehr und mehr Sportarten hinzu: In Berlin wurden 1936 bereits 24 Disziplinen ausgetragen, fast 4000 Sportlerinnen nahmen teil.
Doch die Gewinner waren stets dieselben: Rund drei Viertel aller Medaillen gingen nach Europa – und der Rest vornehmlich an die Vereinigten Staaten.
Wie die Karte zeigt, war der Heimvorteil an Olympischen Spielen in dieser Phase noch bedeutend grösser: An den Spielen von 1936 räumten Athleten aus Nazideutschland über ein Fünftel der Medaillen ab. Und Länder wie die Sowjetunion nahmen damals noch nicht an den Spielen teil.
Tokio, 1964
Doch auch in der Nachkriegszeit blieb der Medaillenspiegel europalastig. Beispielhaft zeigt sich dies an den Olympischen Spielen von 1964. Sie fanden am selben Ort wie die soeben zu Ende gegangenen Spiele statt: in Tokio.
Gegenüber den Sommerspielen von Berlin hatte sich das Teilnehmerfeld nun fast verdoppelt: Statt 49 gingen nun 93 Teams an den Start. Immer mehr Staaten waren im Zuge der Dekolonialisierung unabhängig geworden und entsandten eine Delegation an die Spiele. Doch auf dem Treppchen standen immer noch dieselben Nationen. Fast 90 Prozent aller Medaillen gingen an zwei Kontinente: primär Europa und in zweiter Linie Nordamerika. Die grosse Aufsteigerin war die Sowjetunion: Ihre Delegation, die inzwischen ebenfalls an Olympia teilnahm, holte 1964 in Tokio am meisten Medaillen.
Es verstrichen weitere Jahrzehnte, bis auch der Rest der Welt öfter auf dem Podium stand. 1984 in Los Angeles fiel der gemeinsame Medaillenanteil von Europa und Nordamerika erstmals unter die Marke von 80 Prozent. 1996 in Atlanta fiel er unter 75 Prozent, 2004 in Athen unter 70 Prozent und 2008 in Peking unter 65 Prozent. Globalisierung und weltweite wirtschaftliche Entwicklung sorgten nun dafür, dass auch Länder aus Südamerika, Afrika und Asien mehr Medaillen an Olympischen Sommerspielen gewannen.
Doch wer erwartete, dass dies immer in diesem Stil weitergehen würde, sieht sich getäuscht. Die Kontinentaldrift auf den olympischen Siegerpodien stagniert: Im Vergleich zu 2008 haben sich die Medaillenanteile bei den Spielen von 2012 in London, 2016 in Rio de Janeiro und auch 2020 in Tokio kaum verändert.
Tokio, 2020
Damit sind wir zurück in der Gegenwart. Und bei einer Feststellung, welche die eingangs erwähnten Medaillen für Turkmenistan und Burkina Faso in ein anderes Licht rückt: Nach wie vor gewinnen Athletinnen aus Europa fast die Hälfte aller Medaillen. 49 Prozent aller Gold-, Silber- und Bronzeauszeichnungen gingen in Tokio an den Alten Kontinent.
Auf der Weltkarte dominiert weiterhin Europa. Gegenüber früher fällt zwar auf, dass farbige Punkte auch auf anderen Kontinenten auftauchen, beispielsweise in Asien und Afrika. Doch in der Regel sind sie dort bedeutend kleiner. Die Ausnahme ist China: Seit die Volksrepublik regelmässig an den Olympischen Spielen teilnimmt, gewinnt sie immer mehr Medaillen. Dieses Jahr lag sie auf der Rangliste der einzelnen Länder hinter den USA auf Platz 2.
Warum heimsen europäische Athleten so viele Medaillen ein, warum behauptet sich der Kontinent zuoberst? Drei Antworten drängen sich auf.
Europa zählt viele Nationalstaaten: Von Portugal über Finnland bis Kasachstan nahmen insgesamt 50 europäische Länder an den Spielen von Tokio teil. 40 von ihnen holten Edelmetall. Dass Europa so viele Delegationen an Olympia schicken darf, ist ein Vorteil, etwa gegenüber den USA. Man stelle sich vor, jeder einzelne US-Bundesstaat hätte sein eigenes olympisches Sportprogramm, würde sein eigenes Team an die Spiele schicken – die nordamerikanische Medaillenausbeute wäre höher.
Europa ist reich, und Sport ist teuer. Eine kleine Überschlagsrechnung dazu: Swiss Olympic hat ein Jahresbudget von rund 80 Millionen Franken. Bei 13 Medaillen macht das rund 6 Millionen Franken pro Medaille. Hinzu kommen umfangreiche private Aufwendungen der Sportlerinnen und die ganze Trainingsinfrastruktur, die in einem Land vorhanden sein muss. Das muss man sich erst einmal leisten können. So manches afrikanische oder asiatische Land ist schlicht zu arm, um an Olympia brillieren zu können.
Europäische Athletinnen treten in vielen Disziplinen an – auch in den neuen (Trend-)Sportarten, die jeweils dazukommen, wie etwa Skateboarden, Surfen oder Klettern. Das ergibt viele Medaillenchancen. Länder aus anderen Erdteilen sind dagegen meist schmaler aufgestellt: In Disziplinen wie Bahnradfahren oder Fechten sind beispielsweise fast keine afrikanischen Teilnehmer am Start. Entsprechend einseitig ist die Medaillenausbeute: Von den total 37 Medaillen für Afrika entfallen deren 31 auf gerade einmal zwei Sporttypen: Leichtathletik und Kampfsport.
Rein zahlenmässig ist die nicht europäische Bevölkerung auf der Welt längst in der Überzahl. Man darf hoffen, dass sich dies früher oder später auch im Medaillenspiegel niederschlägt. Erste Tendenzen sind da: Indien etwa hat an den Spielen von Tokio 2020 so viele Auszeichnungen geholt wie noch nie: 7 Stück.
Doch gerade dieses Beispiel zeigt eindrücklich: Wenn ein asiatisches Milliardenland bloss halb so viele Medaillen gewinnt wie ein europäischer Kleinstaat – die Schweiz –, dann sind die Kontinente noch nicht gleichmässig repräsentiert. Bis es so weit ist, dürfte es noch einige Olympiaden dauern.
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