Binswanger

Urschweiz reicht nicht

Trotz politischer Sommerpause hat die offizielle Aufarbeitung der Pandemie­politik begonnen. Das Mantra: Die Schweiz muss bleiben, wie sie ist, dann kommt alles gut. Tatsächlich? Der nächste Herbst kommt bestimmt.

Von Daniel Binswanger, 24.07.2021

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Rückschau, Sommer­ferien, Nostalgie. Katastrophen­prognosen, Hektik, Grossalarm. Die letzte Woche war eine Woche der grossen Schizophrenie. Beziehungs­weise eines neuen Kipppunkts der Corona-Pandemie.

Am härtesten prallten die Gemüts­zustände am Dienstag zusammen. Im «Club» des Schweizer Fernsehens vereinte man eine illustre Runde zum «Weisch no»-Talk über «das ausser­gewöhnliche Corona-Jahr». Ex-Mister-Corona Daniel Koch etwa geriet in euphorisches Schwärmen über die «wahnsinnige Leistung» des Bundesrats. Auch was die «kantonalen Behörden» gemacht hätten, verlange «extrem hohen Respekt», sagte Koch mit huldigendem Blick auf Lukas Engel­berger, den etwas verblüfft aus der Wäsche blickenden Präsidenten der Gesundheits­direktoren­konferenz. Um Missverständnissen vorsorglich vorzubeugen, beeilte sich der heute als Berater beim europäischen Fussball­verband Uefa tätige Koch sofort zu präzisieren, es sei nicht seinetwegen, dass dieses Helden­stück vollbracht worden sei.

Am anderen Ende der Skala: Ebenfalls am Dienstag erschien das «Wissen­schaftliche Update» der Taskforce des Bundesrats, das in aller Nüchternheit ein bedrohliches Bild der Pandemie­lage zeichnet. Die Ansteckungs­kurve nimmt wieder einen steil exponentiellen Verlauf, und die Entwicklung der Epidemie in Gross­britannien führt vor, wie nach einer gewissen Frist auch die Zahl der Hospitalisationen anzusteigen beginnt – potenziell mit etwa derselben exponentiellen Dynamik wie die Fallzahlen.

Die Konklusion des Taskforce-Berichts ist nicht überraschend: Die wichtigste Massnahme, um einen Katastrophen­herbst zu verhindern oder wenigstens zu mildern, ist eine möglichst hohe Durch­impfung. Und genau hier steht die Schweiz schlecht da. Alle Nachbar­länder haben heute einen signifikant höheren Anteil der Bevölkerung mit mindestens einer Erstimpfung. Und auch bei der Impf­geschwindigkeit liegt die Schweiz inzwischen hinter sämtlichen Nachbarn zurück. Noch beunruhigender ist jedoch ein anderes Behörden­versagen: Gross­britannien hat es geschafft, dass nur rund 2 Prozent der über 70-Jährigen (also der exponiertesten Alters­kategorie) nicht geimpft sind. In der Schweiz ist dieser Prozent­satz fast zehnmal so hoch – und könnte in dieser Gruppe zu einer fast zehnmal so hohen Covid-Sterblichkeit führen.

Niemand kann mit Sicherheit voraussagen, wie sehr sich die Lage in den nächsten Wochen und Monaten zuspitzen wird. Doch der Boden für ein neues Drama im Herbst ist gelegt.

Ermutigend ist immerhin, dass sich nun auch offizielle Bemühungen zu einer sinnvollen Aufarbeitung der bisherigen Pandemie­politik entwickeln – auch unter Berücksichtigung von System­versagen und Fehlern.

Der Schweizer Bundeskanzler Walter Thurnherr gab diese Woche dem «Tages-Anzeiger» ein bemerkens­wertes Interview, das selbst­kritische Analysen mit neuer Deutlichkeit ertönen liess. Das ist nicht nur deshalb wichtig, weil nichts dringlicher sein könnte, als dass die Behörden aus der bisherigen Pandemie­bewältigung die richtigen Lehren ziehen, sondern auch im Hinblick auf die gesellschaftlichen und staats­politischen Konsequenzen der Jahrhundert­krise. Was bedeutet Corona politisch? Und wie wird dieses polarisierte, gespaltene Land Corona länger­fristig verarbeiten?

Die Antwort des Bundeskanzlers ist sowohl extrem erwartbar als auch extrem überraschend. Im Grunde lautet die Botschaft: Die Eidgenossenschaft muss bleiben, was sie immer war – und dann wird alles gut. Sie muss nur ihre beiden Kardinal­tugenden hochhalten: den Föderalismus und die direkte Demokratie. Man wird ein solches Traditions­bekenntnis einer Schweizer Magistrats­person kaum übel nehmen können – und dennoch ist es irritierend. Wenn uns die Pandemie schliesslich etwas dramatisch vor Augen geführt hat, dann sind es die Grenzen der «urhelvetischen» Wesenszüge.

Thurnherr ist sich dessen wohl bewusst und gibt eine Reihe von Begrün­dungen: «Der grosse Vorzug des Föderalismus ist nicht seine Effizienz, sondern seine Identifikations­kraft. (…) Peter von Matt hat einmal gesagt, der Föderalismus sei wie ein Huhn, das man nicht umbringen könne, ohne auf seine Eier zu verzichten. Und gleichzeitig kann man es nicht leben lassen, ohne dass es stinkt.» Es ist ein hübsches Zitat, mit dem hierzulande stets stechenden bäuerlichen Referenzrahmen.

Gleichzeitig ist es eine Aussage von erstaunlicher Kaltschnäuzigkeit. Die Hühner stinken? Knapp 8000 Mitbürgerinnen sind in der zweiten Welle gestorben, und es ist unbestritten, dass die Todes­zahlen viel, viel niedriger sein könnten, wenn erstens früher und entschiedener reagiert worden wäre und wenn zweitens das föderale Verantwortlichkeits­chaos nicht zu enormen Verzögerungen, ständigen Wider­sprüchen und lausiger Implementierung geführt hätte. Wir müssen den Gestank ertragen – den Verwesungsgeruch?

Der Bundeskanzler macht kein Geheimnis aus dem Grund für sein irritierendes Plädoyer: Der Föderalismus ist die entscheidende Quelle der politischen Identifikations­kraft. Was hält dieses Land zusammen? Dass alle relativ autonom agieren können – auch wenn es gigantischen Schaden anrichtet. Historisch mag diese Antwort ihre Berechtigung haben. Aber ist sie den heutigen Polarisierungs­tendenzen angemessen?

Wie in allen westlichen Demokratien schreitet die Polarisierung auch in der Schweiz voran und ist durch die Pandemie verstärkt worden. Die klassischen Gräben haben sich noch einmal vertieft: zwischen Stadt und Land (bezüglich Impf­bereitschaft), zwischen den Sprach­regionen (Betroffenheit, Aktionismus der Behörden), zwischen links und rechts (Unterstützungs­leistungen, Massnahmen­akzeptanz).

Die parteipolitische Fraktionierung nimmt weiter zu, demnächst wohl mit Folgen für die Zusammen­setzung der Schweizer Landes­regierung. Die politischen Felder, in denen sinnvolle Kompromiss­bildung kaum mehr möglich zu sein scheint, werden zahlreicher. Renten, Europa, Klima – und jetzt mit potenziell dramatischen Konsequenzen: das Impfen. Wenn der Föderalismus tatsächlich unsere beste Hoffnung ist, ist das nach heutigem Stand vermutlich keine gute Nachricht.

Natürlich gibt es auch noch die zweite helvetische Urtugend: die direkte Demokratie. Bundes­kanzler Thurnherr findet die momentane Zunahme von Referenden unbedenklich, spricht sich gegen eine Erhöhung der zu sammelnden Unterschriften­zahl aus, ist nach wie vor überzeugt von der pazifierenden Wirkung des direkt­demokratischen Vetorechts. Wenigstens in einer Hinsicht ist ihm zuzustimmen: Abstimmungen sind bisher für die Mängel des Pandemie­managements jedenfalls nicht direkt verantwortlich zu machen.

Eine andere Frage ist jedoch, wie sich die starke Zunahme der referendums­fähigen Akteure letztlich auswirken wird. Die Schlagkraft von temporären, themen­bezogenen Interessen­koalitionen wird grösser, auch Abstimmungs­­siege sind immer wieder drin. Das zweite Referendum gegen das Covid-Gesetz werden die «Freunde der Verfassung» voraussichtlich zwar ebenfalls verlieren – aber bei vielen anderen Vorlagen (zum Beispiel dem Medien­förderungs­gesetz) könnten sie die entscheidende Kraft sein, welche die Mehrheits­verhältnisse dreht.

Direktdemokratische Partizipation sollte nicht nur ein Unmuts­ventil sein, das immer dann seine Wirkung tut, wenn zu viel gesellschaftlicher Druck im Kessel ist, sondern die Bürgerinnen auch binden an institutionalisierte Akteure wie Parteien und Verbände. Von Mobilisierungs­mächten, die plötzlich aus dem Nichts kommen, wird diese Funktion unterminiert. Sie erfüllen keine Vermittlungs­funktion. Sie lassen Konflikte aufschäumen.

Natürlich sollen und müssen demokratische Systeme diese Konflikte auffangen, aber das entscheidende können sie nicht leisten. Um gemeinsame Ziele stiften zu können, braucht es nicht bloss vernünftige politische Systeme. Es braucht ein Mindest­mass an politischer Vernunft. Nicht die demokratischen Prozesse per se, sondern eine konsens­fähige Basis von Fakten und Werten schafft letztlich politische Identität.

Die Pandemie hat nun gezeigt, dass diese Basis weiter schwindet, ohne dass die Schweiz darauf eine Antwort hätte. Dieser Entwicklung muss begegnet werden – auch jenseits der Traditions­pflege.

Jetzt sollten wir allerdings erst einmal schauen, dass wir einiger­massen über die nächsten Monate kommen.

Illustration: Alex Solman

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