Sie arbeitete vor 15 Jahren an der Verfassung Kosovos mit, heute ist Vjosa Osmani mit 39 eines der jüngsten Staats­oberhäupter Europas.

«Wir wollen keine Rache. Wir wollen Gerechtigkeit»

Wie führt man ein Land in die Zukunft, das mit den Schatten der Vergangenheit kämpft? Kosovos neue Präsidentin Vjosa Osmani über Rechtsstaat, Korruption, Genozid – und was sie sich für ihre Töchter wünscht.

Ein Interview von Franziska Tschinderle (Text) und Marie Haefner (Bilder), 07.07.2021

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Es ist Ende Juni, in Wien. Vor dem Hotel Imperial stehen Limousinen mit getönten Scheiben und Einsatz­wagen der Polizei. Der Anblick ist nichts Aussergewöhnliches: Im Luxus­palais stiegen schon Richard Wagner, Kaiser Wilhelm I., Nikita Chruschtschow und Charlie Chaplin ab. Auch Queen Elizabeth und Michael Jackson nächtigten hier. Im Inneren gibt es lange, mit roten Teppichen ausgelegte Gänge, glänzenden Marmor, funkelnde Kron­leuchter und Hunderte von Türen.

Die Bodyguards von Vjosa Osmani klopfen an die Tür des Zimmers 101 – die Fürsten­suite im ersten Stock. Sie streifen durch den prächtigen Saal mit Stuck an der Decke und einem Ölgemälde von Kaiserin Sisi an der Wand. Einer von ihnen bewacht die Tür, während sich Osmani setzt und eine Tasse Kräuter­tee bestellt. Draussen brütet die Sommerhitze.

Vjosa Osmani, vor kurzem twitterten Sie einen Artikel des britischen «Guardian» von 1999. Darin erzählt ein junges Mädchen, wie es mit ihrer Familie von Kosovo nach Montenegro geflüchtet ist. Und Maiskolben von den Feldern gegessen hat, weil es sonst nichts gab. 22 Jahre später ist dieses Mädchen Präsidentin von Kosovo – und eines der jüngsten Staats­oberhäupter Europas. Wie blicken Sie auf Ihre bisherige Karriere zurück?
Es war eine herausfordernde, aber lohnende Reise. Sie spiegelt nicht nur meine Geschichte wider, sondern auch, wie Kosovo zum Staat wurde. Ich habe sehr früh begonnen, mich politisch zu engagieren, weil es nach Kriegs­ende die natürlichste Sache der Welt war – ich wollte unser Land mit aufbauen. Ich war damals 17 und trat der Jugend­gruppe der Demokratischen Liga Kosovos (LDK) bei, in der sich auch meine Familie engagierte.

Sie studierten dann zunächst Jus und dann Völker­recht in den USA, bevor Sie sich wieder der Politik widmeten. Warum?
Mir wurde etwas klar: Bevor du politisch aktiv wirst, sieh zu, dass du ökonomisch unabhängig bist, eine Ausbildung machst und Erfahrung sammelst. Das macht dich viel stärker, wenn du später einmal einen Raum betrittst, in dem fast immer nur Männer sitzen. In einer patriarchalen Gesellschaft werden Frauen Steine in den Weg gelegt. Mir ist es wichtig, diese Steine wegzurollen, damit es unsere Töchter und deren Töchter irgendwann einmal besser haben.

Sie sind Mutter von zwei kleinen Mädchen. Was von dem, was Sie erlebt haben, soll Ihren Töchtern erspart bleiben?
Es beginnt im Kindheits­alter. Mädchen wird vermittelt, dass nur bestimmte Berufe gut genug für sie sind. Polizistin, Wissenschaftlerin, Astronautin oder Soldatin: Diese Berufe galten lange als unerreichbar für Frauen. Hätte ich jedes Mal, wenn mir jemand erklärt hat, dass Politik und Diplomatie nichts für Frauen ist, einen Dollar bekommen, wäre ich heute reich.

Man hat Ihnen gesagt, dass Politik nichts für Frauen ist?
Die ganze Zeit. Auch heute noch. Aber die Menschen in Kosovo haben bei der letzten Wahl gezeigt, dass sie emanzipierter sind als so manche politische Partei. Sie haben entschieden, eine Frau zur stimmen­stärksten Kandidatin in der Geschichte des Landes zu wählen. Und in weiterer Folge zur Präsidentin. Wir brauchen diese Emanzipation bereits im Kinder­garten. Kein Traum, den ein kleines Mädchen hat, sollte als zu viel oder zu unerreichbar angesehen werden. Wenn ich mich umschaue, sehe ich überall Ungleichheit. Es ist wie bei einem Marathon, bei dem die Läufer nicht an derselben Stelle lossprinten und Frauen weit zurück­liegen. Sie brauchen einen Schub, damit sie dort loslaufen können, wo Männer starten.

Sie kamen in einem Land zur Welt, das sich vor 30 Jahren aufgelöst hat: Jugoslawien. Haben Sie Erinnerungen an den sozialistischen Vielvölkerstaat?
Ich wurde 1982 geboren …

Zwei Jahre nach dem Tod des Langzeit­präsidenten Tito.
Ich habe kaum noch Erinnerungen. Alles, was ich heute weiss: Albaner wurden in Jugoslawien immer diskriminiert. Aber erst 1989, als Slobodan Milošević an die Macht kam, begann sich ein Apartheid-ähnliches System zu etablieren. Albaner wurden ihrer fundamentalen Freiheiten und Menschen­rechte beraubt.

Zum Beispiel in den Schulen.
Ein Jahr nachdem ich in die Schule kam, durfte dort nicht mehr Albanisch gesprochen werden. Meine Generation wurde im Untergrund unterrichtet, in einem parallelen Bildungs­system. Damals war Bildung ein Mittel des nationalen Überlebens. Bildung war mehr, als ein Diplom zu bekommen. Wir riskierten unser Leben, wenn wir in die Schule gingen.

1998 wurde aus dem Konflikt ein Krieg. Sie waren damals 16 Jahre alt.
Eigentlich waren wir nie richtig Kinder. In den Neunziger­jahren haben wir im Fernsehen verfolgt, was in Bosnien passiert, und uns gedacht: Wir sind die Nächsten. Das ist es, was uns erwartet. 80 Prozent der Bevölkerung wurden zu Flüchtlingen. Fast jeder wurde aus seinem Haus vertrieben, darunter auch meine Familie. Es ist schwer, das alles mit Worten zu beschreiben. All das schärfte unsere Mission: So etwas darf nie wieder passieren.

Die kosovarische Regierung will Serbien wegen Völker­mord verklagen. Unterstützen Sie diese rechtlichen Schritte?
Absolut. Ich bin Anwältin, habe mich auf internationales Recht spezialisiert – und jahrelang Vorlesungen über Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegs­verbrechen gehalten. Als Politikerin und als Mensch glaube ich, dass wir eine moralische Verpflichtung haben, Gerechtigkeit für die Opfer zu erreichen. Und als Juristin glaube ich, dass es stichfeste Beweise dafür gibt, dass es Serbiens Absicht war, Kosovo auszulöschen.

Serbische Militärs und Polizei­funktionäre wurden 2007 vom Uno-Tribunal für Kriegs­verbrechen in Ex-Jugoslawien verurteilt. Allerdings nicht wegen Völker­mord, sondern wegen Kriegsverbrechen.
Der Krieg in Kosovo war kürzer als in Bosnien. Dennoch zeigt sich ein Muster. So etwa beim Massaker von Meja, auch als Srebrenica Kosovos bekannt. Männer und Buben wurden von ihren Familien getrennt und in einem Feld exekutiert. Einige wurden später in Massen­gräbern gefunden. Aber es gibt immer noch viele, die bis heute vermisst sind. Und dann gibt es Fälle wie derjenige in Poklek: Dort wurden mehrere Familien, inklusive Kleinkinder, in einen Raum gesteckt, getötet und verbrannt. Die Polizei liess sie nicht flüchten. Wenn das keine Vernichtungs­absicht war, was dann? Sie hätten die Menschen auch verscheuchen oder aus ihren Häusern werfen können. Aber sie durften nicht gehen. Das ist Genozid. Und wir müssen es beim Namen nennen.

Warum ist das Ihnen so wichtig?
Ich repräsentiere ein Volk, das niemals die Möglichkeit bekommen hat, zu heilen. Seit 20 Jahren erzählt man uns, dass wir nach vorne blicken und vergessen sollen, was passiert ist. Aber weiterzumachen hat eine Bedingung: Gerechtigkeit. Wir wollen keine Rache. Wir wollen Gerechtigkeit.

Welches Gericht könnte eine solche Klage anhören?
Ein internationaler Gerichtshof. Unsere Experten erörtern gerade Wege, wie das funktionieren könnte.

Viele Experten bezweifeln, dass so eine Klage Erfolg hätte. Manche bezeichnen sie gar als Mittel von Kosovos Premier­minister Albin Kurti: um in den am 15. Juni gestarteten Verhandlungen mit Serbien Druck auszuüben – damit Serbien Kosovo endlich als Staat anerkennt.
Wir spielen keine politischen Spiele mit dem Schicksal unseres Volkes. Aus meiner Sicht ist es kein politisches, sondern ein humanitäres Thema. Was in Kosovo passiert ist, war staatlich gelenkte Aggression. Dahinter standen nicht Einzeltäter, die sich betrunken haben und Verbrechen begehen wollten, sondern ein Staat. Dahinter stand ein Plan, der von Slobodan Milošević ausgearbeitet wurde. Menschen, die für ihn arbeiteten und sich hinter ihm versammelt haben, führten ihn aus.

Der serbische Präsident Aleksandar Vučić war Informations­minister von Milošević. 2018 hat er ihn als «grossen serbischen Führer» bezeichnet. Wie viel des alten Regimes sehen Sie in Ihrem Amts­kollegen in Belgrad?
Leider zu viel. Aber mir ist es immer wichtig, zu betonen: Diese Verbrechen wurden nicht von «den Serben» begangen, sondern vom Milošević-Regime. Vučić ist von diesem Weg nie abgebogen. Im Gegenteil. Er glorifiziert, was passiert ist. Er sollte zumindest einen Kranz in Batajnica niederlegen, wo die Leichen von Hunderten Zivilistinnen in Massen­gräbern gefunden wurden. Ein serbischer Politiker sollte 22 Jahre nach dem Krieg Menschlichkeit beweisen: sich niederknien und um Vergebung bitten. Stattdessen wird Geschichts­revisionismus betrieben. Die Regierung Vučić hat Medaillen und Orden an Offiziere und Polizisten verliehen, um die Verbrechen, die in Kosovo und Bosnien begangen wurden, zu ehren.

Kosovos Premier Albin Kurti wurde während des Kriegs nach Serbien verschleppt und sass im Gefängnis. Jetzt sitzt er mit Aleksandar Vučić am Verhandlungs­tisch in Brüssel. Was erwarten Sie?
Für Kurti stehen die Länder­grenzen nicht zur Diskussion. Sie wurden 2008 festgelegt. Kurti wird sicherstellen, dass gefährliche Abenteuer wie das Neuziehen von Grenzen ausser Frage stehen. Ich koordiniere mich jede Woche mit ihm zu den wichtigsten aussen­politischen Fragen, ganz besonders in Bezug auf den Dialog mit Serbien.

Im April hat Kurti für Aufregung gesorgt, weil er zur Parlaments­wahl nach Albanien gereist ist. Dort hat er für den Ableger seiner Partei Vetëvendosje abgestimmt. In der Vergangenheit hat er sich immer wieder für einen Zusammen­schluss von Albanien und Kosovo ausgesprochen. Verstehen Sie die Sorgen?
Nachdem immer noch das Wahlgeheimnis gilt …

Es ist offensichtlich, wo Kurti das Kreuz gemacht hat. Nach dem Wahlgang hat er die Partei­zentrale des von Vetëvendosje unterstützten Kandidaten besucht.
Albin Kurti hat eine doppelte Staats­bürgerschaft und somit das Recht, in Albanien zu wählen. Um seinen Urnen­gang wurde ein grosser Wirbel gemacht. Aber als Regierungs­chef ist Kurti unmissverständlich, wo er die Grenzen seines Landes sieht. Er setzt sich für die euro-atlantische Integration ein und eine starke Republik. Es stimmt, dass seine Partei einen Ableger in Albanien hat, aber ich kenne die Details nicht, da ich das als Präsidentin nicht näher verfolge.

Zurück zum Dialog mit Serbien, der seit zehn Jahren läuft. Zankapfel ist der mehrheitlich von Serben bewohnte Norden rund um die Stadt Mitrovica, wo Sie herkommen. Im Sozialismus wurde dort ein Denkmal aus Beton errichtet. Es symbolisiert das Zusammen­leben der serbischen und albanischen Bewohnerinnen. Aber heute ist das Gegenteil eingetreten: Mitrovica ist eine geteilte Stadt.
Mitrovica ist geteilt, weil es nie eine echte Anstrengung gab, beide Seiten zusammen­zubringen. Im Rest von Kosovo ist das hingegen passiert: Nehmen wir Gračanica, eine kleine Stadt in der Nähe von Pristina. Nach dem Krieg standen dort Strassen­sperren, die einem am Weiterfahren hinderten. Heute haben Kosovo-Albaner und Kosovo-Serben gleicher­massen Geschäfte dort. Mitrovica hingegen ist seit 1999 ein politisches Instrument Serbiens, um Kosovo zu destabilisieren.

Das heisst?
Die Serben im Norden haben keine Angst vor mir. Sie haben Angst vor den Gangs, die sich durch die von Serbien geschaffenen, illegalen Strukturen in Mitrovica etabliert haben. Deswegen sollten wir nicht nur einen Dialog mit Präsident Vučić führen, sondern auch mit den Kosovo-Serben im Land. Wir müssen klarmachen, dass es möglich ist, in einer multi­ethnischen Gesellschaft zusammen­zuleben. Grenz­ziehungen nach ethnischen Kriterien hingegen ist eine Idee, die ins 19. Jahr­hundert gehört.

Es gibt immer noch Menschen, die so argumentieren: Warum nicht den überwiegend von Serben besiedelten Norden gegen das Preševo-Tal in Südserbien tauschen, wo eine grosse albanische Bevölkerung lebt?
Hier geht es nicht um einen Tausch­handel. Es geht darum, eine dauerhafte, friedliche Lösung zu finden. Die Anerkennung von Kosovo in seinen jetzigen Grenzen ist das einzige Abkommen, das unserer Region mehr Frieden bringen kann. Ansonsten sehe ich den Auftakt zu einer weiteren Destabilisierung, die immer mehr internationale Investitionen nach sich ziehen müsste. Zwei Jahrzehnte nach dem Krieg ist es an der Zeit, in Demokratie und Rechtsstaat zu investieren.

«Hätte ich jedes Mal, wenn mir jemand erklärt hat, dass Politik und Diplomatie nichts für Frauen ist, einen Dollar bekommen, wäre ich heute reich.»

Sie sind selbst Juristin, haben in den USA promoviert und wurden 2006 Beraterin des damaligen kosovarischen Präsidenten Fatmir Sejdiu.
Das war ein wichtiger Zeitpunkt, nicht nur in meiner politischen Karriere, sondern auch in der Geschichte Kosovos. Damals begannen die Ahtisaari-Plan-Verhandlungen um den Status des Landes, und ich war in diesen historischen Prozess eingebunden. Wir haben von null auf begonnen, Institutionen zu gründen, eine Verfassung geschrieben, Minderheiten­gesetze formuliert. In Rekord­zeit haben wir über 44 Gesetze ausgearbeitet. Ich weiss nicht, ob es ein zweites Land gibt, das dazu in der Lage war. Für uns wurde ein Traum wahr. Vor uns gab es so viele Generationen, die für diesen Moment gekämpft haben.

Sie sprechen vom 17. Februar 2008, als Kosovo einseitig seine Unabhängigkeit von Serbien erklärte.
Noch heute erzähle ich Leuten davon, wie sich das angefühlt hat, die ersten Botschaften in der Geschichte des Landes zu eröffnen. So etwas gab es davor einfach nicht. Solche Ereignisse wirken unbedeutend, aber auf meine politische Laufbahn hatten sie einen grossen Einfluss.

Ihre Zeit als eine der jüngsten Abgeordneten im jüngsten Staat Europas begann.
Die Heraus­forderungen waren gross: weil ich jung und weil ich eine Frau war. Vor allem aber, weil ich daran geglaubt habe, dass man Wahl­versprechen nicht nur ausspricht, sondern auch hält. Diese Haltung war mir heilig, und hier begannen die Uneinigkeiten mit meiner ehemaligen Partei, der LDK. Also bin ich bei den Wahlen von Februar 2020 auf einer anderen Liste gelandet.

Gemeinsam mit Albin Kurti, heute Premier­minister. Ihr grosses Wahlversprechen: die Korruption zu bekämpfen. Inwiefern betrifft das Menschen im Alltag?
Korruption ist in den Institutionen verbreitet, nicht unter den Menschen. Das ist auch der Grund, warum eine Veränderung möglich war. Ich bin zuversichtlich, dass wir die Korruption in Rekord­zeit bekämpfen können. Wir haben Gesetze verabschiedet, die es Justiz­behörden ermöglicht, stärker gegen Kriminalität und Korruption vorzugehen. Darunter eine Rechts­grundlage zur Beschlag­nahmung von illegal erlangtem Vermögen. Und wir bauen ein neues Handels­gericht auf, das sicherstellt, dass es Gerechtigkeit bei Verträgen gibt und diese auch eingehalten werden. Ich will ein unabhängiges und entpolitisiertes Justiz­system, in dem jeder Mensch gleich behandelt wird. Man muss da aber mit gutem Beispiel vorangehen: Wenn es eine unbestechliche politische Spitze gibt, hat das auch Auswirkungen auf Bürokratinnen, Richter und Staatsanwältinnen.

In Albanien wurden Richter und Staats­anwälte auf fachliche Eignung, Vermögen und mögliche Verbindungen zur organisierten Kriminalität überprüft. Die Justiz­reform war in der Region einzigartig. Ein Vorbild für Kosovo?
Ja, wir brauchen eine solche Justiz­reform, aber nicht so, wie es in Albanien abgelaufen ist. Wir müssen es besser machen – nämlich Schritt für Schritt. Wir brauchen Unterstützung von unseren internationalen Partnern, finanziell und personell. Sonst kollabiert das Justizsystem.

Genau das ist in Albanien passiert. Gerichte waren über Jahre unterbesetzt und konnten somit keine Entscheidungen fällen.
Wir wollen daraus lernen. Deswegen sprechen wir mit jenen Expertinnen, die in die Justiz­reform in Albanien eingebunden waren. Was sind die Fehler, die Kosovo nicht wiederholen sollte? Ein Punkt ist der Personal­mangel. Deswegen auch das Schritt-für-Schritt-Verfahren, damit Gerichte weiter­arbeiten können. Das wird Jahre dauern. Aber es ist ein unvermeidbarer Prozess. Erst wenn unser Rechts­staat fit ist, können wir wirtschaftlich erfolgreich sein.

Sie haben kürzlich entschieden, die kosovarische Vorsitzende der Zentralen Wahl­kommission, Valdete Daka, zu entlassen. Das war umstritten. Warum haben Sie das gemacht?
Weil sie ihren Job nicht unabhängig ausgeführt hat. Wer einer zentralen Wahl­kommission vorsteht, muss wie ein unabhängiger Richter agieren und darf nicht von politischen Parteien ernannt werden. An ihre Stelle ist ein Richter getreten, der in der Vergangenheit Integrität und Unabhängigkeit bewiesen hat. Jetzt gelten dieselben Regeln, die ich oben dargelegt habe, auch für ihn.

Aus der Schweiz kam zuletzt der Vorwurf, die Zentrale Wahl­kommission habe es der Diaspora bei der Briefwahl unnötig schwer gemacht.
In Zukunft sollte die Diaspora das Recht haben, über die Botschaften zu wählen. Diese Menschen haben mitgeholfen, unser Land aufzubauen, und sollten mitentscheiden dürfen, was hier passiert. Ihre Überweisungen sind so hoch wie das jährliche Staats­budget. Doch wir sollten in der Diaspora mehr sehen als nur ihre Überweisungen. Das könnten auch Fach­kräfte sein, die zurück­kehren, und Unternehmerinnen, die Investitionen tätigen. Aber eine Wahlreform entscheide letztlich nicht ich, sondern das Parlament.

Die Schweiz hat mit rund 200’000 Menschen nach Deutschland die grösste Diaspora der Kosovo-Albaner. Doch bis 2019 galt: Rente bekommt nur, wer den Wohnsitz in der Schweiz hat. Rund 50’000 Menschen, die zurück nach Kosovo gezogen sind, gingen leer aus. Was sagen Sie dazu?
Laut dem, was ich gehört habe, war die kosovarische Bürokratie das Problem. Prozesse haben sich ewig in die Länge gezogen. Das Sozial­versicherungs­abkommen wurde von einer kosovarischen Regierung zur anderen weiter­gereicht. Jetzt ist es in Kraft getreten. Ich kann die Menschen verstehen, denen dieses Recht jahrelang verwehrt war. Aber ich will nicht mit dem Finger auf jemanden zeigen. Solche Verhandlungen brauchen viel Diplomatie.

Die grösste bürokratische Hürde ist die fehlende Reise­freiheit: Kosovo ist das einzige Land auf dem Westbalkan, dessen Bürgerinnen nicht visafrei in den Schengen­raum reisen dürfen. Frankreich und die Niederlande blockieren den Prozess.
Es gibt absolut keinen Grund, Kosovo als einziges Land der Region zu blockieren und in ein isoliertes Ghetto zu verwandeln. Ganz ehrlich: Es ist für uns schwer nachzuvollziehen, was das Problem ist. Aber als neue Führung sind wir bereit, diese Sorgen aus dem Weg zu räumen. Kosovo produziert keine Migration. Wir sind ein winziges Land mit einer kleinen Bevölkerung. Wir haben doppelt so viele Vorgaben erfüllt wie andere Länder. Ich fürchte, die Länder blockieren den Prozess aus innen­politischem Kalkül. Aber Wahlen in Frankreich oder den Niederlanden haben nichts mit unserem Recht auf Reise­freiheit zu tun. Die Blockade zieht grosse Probleme nach sich, etwa wenn Kosovarinnen nicht an Diskussionen oder Seminaren im Ausland teilnehmen könnten.

Kommen wir zum Fussball: Die Stars des Schweizer Fussballs sind Xherdan Shaqiri und Granit Xhaka, zwei Spieler mit Wurzeln in Kosovo. An der Welt­meisterschaft 2018 gab es in der Schweiz eine riesige Debatte, weil sie beim Torjubel mit ihren Händen den Doppel­adler formten – das Wappen­tier Albaniens. Serbien fühlte sich provoziert.
Für Serbien ist alles eine Provokation. Wenn ich bei regionalen Treffen anwesend bin. Wenn ich den Namen meines Landes erwähne. Der mit der Hand geformte Doppel­adler ist kein nationalistisches Zeichen, sondern ein Symbol der Freiheit. Wenn man glücklich ist, dann fühlt man sich frei wie ein Vogel. Niemals in der Geschichte war er ein Symbol von Hass. Ganz im Gegenteil. Albaner haben nie gegen irgendwen Krieg geführt oder ein fremdes Territorium besetzt. Wir sind eine friedliebende Nation.

Shaqiri und Xhaka wollten damit auch ihre Identität betonen. Was sagen Sie Schweizerinnen mit Wurzeln in Kosovo, die sich weder hier noch dort so richtig zu Hause fühlen?
Ich habe selbst eine Weile im Ausland gelebt, aber nicht so lange, um mir solche Fragen zu stellen. Ich denke, sie sollten sehr stolz auf das sein, was sie tun. Und auch niemals vergessen, dass ihr Beitrag Gewicht hat und die Menschen in Kosovo dankbar sind. Es war die Diaspora, die den Wandel möglich gemacht hat. Ich glaube, dass Kosovo aufgrund der schlauen, jungen Köpfe, die es gibt, eine bessere Zukunft erwartet. Es ist an der Zeit, dass dieses Potenzial auf der internationalen Bühne wahrgenommen wird, statt Kosovo immer nur als Belastung zu sehen.

Zur Autorin

Franziska Tschinderle ist freie Journalistin und lebt in Wien. Für die Republik schrieb sie zuletzt über den albanischen Ministerpräsidenten Edi Rama.

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