Der Chef im Ring: Edi Rama spricht in Kamza, nahe der albanischen Hauptstadt Tirana.

Edi Ramas dritter Wurf

Als Basketballspieler war er Teamplayer, als Künstler debattenfreudig. Jetzt, wo er seine dritte Amtszeit als Minister­präsident von Albanien antritt, muss Edi Rama sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er beides verlernt hat.

Eine Reportage von Franziska Tschinderle (Text) und Ilir Tsouko (Bilder), 01.05.2021

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«Albanien hat gewählt, Albanien hat entschieden, Albanien hat gesiegt», ruft Edi Rama ins Mikrofon. Es ist Dienstag­abend in der Haupt­stadt Tirana, und Rama steht an einem runden Rednerpult, hinter ihm die Reiter­statue des albanischen National­helden Skanderbeg, vor ihm ein Platz voller jubelnder Menschen. Er spricht über einen historischen Sieg, das Privileg, Albanien an der Spitze zu führen, und über seine Mutter, die das alles nicht mehr miterleben könne.

«Hoch lebe die Sozialistische Partei!», ruft er, er wirft die Hände in die Luft und legt die rechte Hand auf sein Herz. Am selben Abend werden Zeitungen auf der ganzen Welt schreiben, dass Albanien zum dritten Mal in Folge eine linke Regierung gewählt hat.

Hier beginnt das erste Missverständnis über Edi Rama.

Der 56-Jährige ist kein Ideologe. Er ist vor allem Selbst­darsteller. In der Theorie ist Albaniens Minister­präsident Sozial­demokrat. In der Praxis lockt er ausländische Investoren mit dem Argument an, dass es in seinem Land keine starken Gewerkschaften gebe.

Jubel für den Ministerpräsidenten, und Volksheld Skanderbeg wacht auf seinem Ross.

Ideologien und Partei­programme spielen für Politiker in Albanien eine unter­geordnete Rolle. Links? Rechts? Neoliberal? Konservativ? Zweitrangig.

Auch beim Dresscode zeigt sich Rama flexibel. Im Wahlkampf trat er mit Baseballkappe, weissen Sneakers und Jogging­hose auf.

Bei der Wahl am 25. April 2021 hat sich Rama eine dritte Amtszeit gesichert. Seit der Wende 1991 hat das kein Politiker vor ihm geschafft.

Wie ist ihm das gelungen? Und: Wofür steht dieser Mann überhaupt?

Zu Albanien

Albanien ist ein kleines Balkanland mit 2,8 Millionen Einwohnerinnen. Bis 1990 war es eine kommunistische Diktatur. Heute ist es eine parlamentarische Republik, in der sich seit der Wende zwei verfeindete Partei­blöcke gegenüber­stehen: die Demokraten, angeführt vom Juristen Lulzim Basha. Und die Sozialisten, denen seit 2005 Edi Rama vorsteht, ein ehemaliger Künstler. Am 25. April holte dessen Partei bei der Parlaments­wahl 49 Prozent der Stimmen, er tritt nun eine dritte Amtszeit als Minister­präsident an.

Mittwoch, es ist der Tag nach der grossen Sieges­rede. Die Freude müsste gross sein. Doch Rama strahlt beim Video­interview nicht in die Kamera. Keine Euphorie, er zeigt sich müde und still, die Stimme brummt, noch tiefer als sonst. Hinter ihm hängt das Porträt von Ismail Qemali, Albaniens erstem Minister­präsidenten nach der Unabhängigkeit 1912. Seitdem Ramas Bart weiss und etwas länger ist, sagen die Menschen im Land, dass er dem Gründungs­vater der Nation ähnle. Nur dass Qemali den Fez trug, eine osmanische Kopf­bedeckung, und Rama mit Vorliebe Baseballkappe.

Während er spricht, kritzelt er Skizzen auf Papier. Auf die Frage, wie lange er für das Gespräch mit der Republik Zeit habe, sagt er gelang­weilt: «Mal schauen, wie interessant es wird.»

Im Wahlkampf hatte Rama nach unliebsamen Fragen wortlos ein Fernseh­studio verlassen und dem Journalisten während des Gesprächs erklärt: «Ich bin nicht her­gekommen, um mir Ihren Bullshit anzuhören.» Es gibt Menschen, die sagen, acht Jahre an der Macht – davon vier mit absoluter Mehrheit – hätten Edi Rama verändert. Andere relativieren: Er sei halt einfach impulsiv und launisch.

Spricht man Rama auf seinen Sieg an, dann sagt er Sätze, die auch vom Teamcoach einer Sport­mannschaft stammen könnten: «Wir müssen gewinnen und für die Menschen arbeiten. Und wieder gewinnen und arbeiten und wieder gewinnen», sagt er. Das mache Champions aus. «Und die Sozialistische Partei ist ein Champion in diesem Land», sagt Rama.

Albanien ist ein Land, in dem Ärztinnen korrupt und teuer sind und das Arbeitslosen­geld nicht zum Leben reicht. Statt eines Sozial­programms verspricht Rama den Menschen aber etwas anderes: Flughäfen, Brücken und Häfen.

Wie kann es sein, dass er damit erfolg­reich war?

Spulen wir ein paar Wochen zurück.

Eine Antwort auf die Frage findet sich in Fshat, einem Dorf im Nord­osten: Häuser mit Apfel­bäumen im Garten und metallenen Wasser­tanks auf dem Dach. Obwohl die Luftlinie nach Tirana nur etwa 30 Kilometer beträgt, braucht man zwei Stunden hierhin. Mit Rama soll sich das ändern.

Es ist ein Mittwochmorgen, nass und wolkig – noch elf Tage bis zur Wahl. Bodyguards sichern eine Brücke, die sich zwischen zwei Kalkstein­felsen über eine Schlucht spannt. Rama, die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben, beugt sich über das Geländer, sein Social-Media-Team neben sich.

Kein Politiker auf dem Balkan hat in den sozialen Netzwerken eine solche Reichweite generiert wie er: rund 361'000 Follower auf Twitter und 1,3 Millionen auf Facebook – das ist die Hälfte der Landes­bevölkerung. Wobei: Die Diaspora ist gross, geschätzte 1,5 Millionen Albanerinnen leben im Ausland. Und: Ein Teil seiner Follower soll lokalen Medien zufolge auch eine ganze Armada an Fake-Bots sein. Jetzt tourt der Minister­präsident durch das Land, um echte Menschen zu treffen.

Die Brücke, auf der er im Wahlkampf steht, ist eine der höchsten auf dem Balkan. Sie ist Teil eines 250 Millionen Euro teuren Infrastrukturprojektes, der Rruga e Arbërit, der Strasse der Albaner. Neu gebaute Tunnel, Pass­strassen und Brücken sollen Dibër, eine abgelegene und arme Region im Osten, mit Tirana verbinden. Die Fahrtzeit soll von vier Stunden auf eine Stunde verkürzt werden. «Dibër ist dann kein Ort am Ende der Welt mehr», verspricht Rama.

Eine Brücke in die Zukunft: Hier rollen dereinst die Autos aus dem Nordosten des Landes in Richtung der Hauptstadt Tirana.

Noch fehlen dem Tunnel die Beleuchtung und der Asphalt. Am Eingang steht eine rostige Schranke, die von einem Polizisten bewacht wird. Rama darf schon heute durch die dunkle Röhre brettern. Im Wahlkampf ist die Zeit ein knappes Gut. Wenn der Minister­präsident anrollt, dann werden die Strassen gesperrt. Das Sandwich der Wahlkampf-Entourage: vorne die Polizei mit Blaulicht, hinten der Kasten­wagen mit den Bodyguards. In ihrer Mitte: ein Luxusjeep der US-Marke Lincoln mit verdunkelten Scheiben.

Im albanischen Sozialismus waren private Autos verboten. Heute gibt es davon mehr, als die oft holprigen Strassen vertragen. Asphalt ist in in diesem Land ein Indikator. An ihm wird gemessen, ob ein Politiker etwas taugt oder nicht. Hier in den Bergen gilt diese Regel ganz besonders.

Peshkopia, früher – unter den Osmanen – ein kleiner Markt­flecken, ist das administrative Zentrum der Region Dibër. Wahlkampfhalt, eine Rede steht an. Im Fussball­stadion stehen hundert Stühle bereit. Gegenüber hat jemand die britische Flagge an eine Wand gesprayt.

Blick über Peshkopia.

Während im Rest Europas vor Migration gewarnt wird, ist es in Albanien umgekehrt: Die grösste Gefahr ist, dass immer mehr Menschen gehen, im Fall von Peshkopia nach England. Dibër gehört zu den Regionen mit der höchsten Abwanderung im ganzen Land. Wer als Politikerin gut ausgebildete junge Menschen zurück­zuholen vermag, wird gefeiert.

Rama hat auf das Problem eine simple Antwort: «Jeder Emigrant, der bereit ist, zurück­zukehren, um in das Haus der Grosseltern zu investieren, soll 5000 Euro bekommen.»

Ob das reicht?

Nein, findet Vilson. Der 28-Jährige lehnt an der Tür eines Friseursalons, in dem Undercuts rasiert und Zigaretten geraucht werden, und sagt: «Es gibt Leute, die 22’000 Euro für den Weg nach London bezahlt haben. Warum sollten sie für 5000 Euro wieder zurück­kommen?» Rama sei ein wenig wie die Popsängerin Rihanna: «Sie singt auch immer work, work, work, work.» Aber genau davon gebe es hier zu wenig: «Ein Kellner in Peshkopia verdient 5 Euro am Tag. Das sind eine Packung Zigaretten und ein Kaffee.»

Um die Ecke steht der Stand von Blerim – 50 Jahre alt, Stoppelbart, Cordhose und Strick­pullover. Unter einem gelben Sonnendach verkauft er Äpfel, Orangen und Erdbeeren. Er blickt auf eine Tankstelle und hofft, dass die neue Strasse Motorrad­fahrer nach Dibër spülen wird. Auch sonst ist er Rama-Fan: «Seit er an der Macht ist, habe ich nicht vier, sondern acht Stunden Wasser am Tag.» Andere wissen selbst nicht so genau, warum sie da sind. «Bei uns gewinnt immer der Grösste», scherzt ein Zuhörer, der mit Zigarette in der Hand darauf wartet, dass die Rede beginnt.

Edi Ramas Bodyguard hat in Burrel alles unter Kontrolle.

In Dibër steht der grösste Berg des Landes, der Korab (2754 Meter). In dieser Gegend kamen zwei gewichtige Männer zur Welt: Der albanische Nationalheld Skanderbeg, der im Mittel­alter gegen die Osmanen kämpfte. Und Ahmet Zogu, Albaniens König von 1928 bis 1939.

Politik und Macht war und ist in Albanien eine männliche Domäne. Das Land wurde noch nie von einer Frau, sondern stets von starken Männern beherrscht: Prinz Wilhelm zu Wied, 1914 der «Fürst von Albanien», König Zogu, Benito Mussolini, Adolf Hitler und dann, vierzig Jahre lang, vom unerbittlichen Kommunisten Enver Hoxha. Ramas Vater, Bildhauer, meisselte während der Diktatur Partisanen­büsten.

Kein Wunder, galt Rama – nach autoritären Regimes aller Art – als erfrischend, zugänglich, modern. Als Kultur­minister trug er 1998 gelbe Hosen und eröffnete Kinos. Als Bürger­meister von Tirana (2000–2011) liess er die grauen Ziegelstein­blöcke bunt anmalen, illegal errichtete Gebäude abreissen und schrieb seiner Stadt einen Rap-Song. Als Minister­präsident kündigte er an, in Dialog mit der Zivil­gesellschaft zu treten, wandelte sein Büro in eine Galerie um und liess sich im Hinterhof einen Basketball­platz bauen.

Das ist der Rama, wie man ihn von ausserhalb Albaniens sieht: schillernd, anders, extravagant.

«Er ist ein Ausnahmepolitiker», sagt der deutsche SPD-Politiker Knut Fleckenstein, der alle zwei Monate als Berater des Parlaments nach Albanien reist. «Und er ist die Figur, die Albanien in Europa verkörpert.»

Gleichzeitig mahnt er: «Bei solchen Persönlichkeiten muss man aufpassen, dass sie nicht alles allein machen.»

Dem Image als Reformer ergeht es wie den Ziegelstein­bauten im ganzen Land: Es hat Risse bekommen. «Rama hat sich von einem Enfant terrible und einem Aussen­seiter zur Norm entwickelt, nämlich einem starken Mann, wie es auf dem Balkan leider so viele gibt», sagt Florian Bieber, Südosteuropa-Experte an der Universität Graz. Ein enger Weggefährte des Minister­präsidenten sagt: «Es gibt keine Partei mehr. Da ist nur noch Rama und seine One-Man-Show.»

Als Jugendlicher war Rama professioneller Basketball­spieler. Heute tourt er immer noch von Stadion zu Stadion.

Das Logo des Fussball­clubs in Peshkopia zeigt einen schnee­bedeckten Berggipfel. Die dazugehörige Arena platzt aus allen Nähten. Um einen besseren Blick zu erhaschen, klettern Jugendliche auf die Flach­dächer der umliegenden Häuser­blocks. Rama weiss, was Jugendliche aus der Gegend auf Mauern schmieren. Sechs blaue Buchstaben, die zum Schlacht­ruf der oppositionellen Demokraten geworden sind: Rama ik! (Rama, geh!)

Volksnah: Edi Rama mit seinen Fans …
… er hat vor allem auch ein offenes Ohr für Junge …
… wie hier bei einem Event der Sozialisten in Peshkopia.

Anstatt den Slogan zu ignorieren, geht dieser darauf ein: «Auch all jene, die ‹Rama ik!› rufen, werden durch meinen Tunnel fahren.» Dann dreht er sich zu den Jugendlichen auf den Dächern um: «Ihr wollt, dass ich gehe. Aber wohin denn?» Applaus brandet ihm entgegen.

Der Rasen in Peshkopia ist von den Hunderten Füssen matschig getreten, aus den Boxen dröhnt «Radioactive» von der Band Imagine Dragons.

«Welcome to the new age, to the new age. Welcome to the new age, to the new age, Whoa-oh-oh-oh, oh.»

Während seiner Rede projiziert Rama das versprochene neue Zeitalter auf eine Leinwand hinter sich: Apartment­blocks aus Glas und Stahl, Fotovoltaik­anlagen, Flughäfen und Fussgänger­zonen im 3-D-Format. Rama ruft: «Wir werden neue Tore nach Albanien eröffnen – in der Luft und zu Wasser.» Und: «Unsere Flugzeuge werden über die Ozeane fliegen.»

All das ist weit weg von Peshkopia. Das Wellblech der Fussball­tribüne ist ausgebeult, von den umliegenden Häusern bröckelt der Verputz. Aber Rama hält sich nicht mit Lokal­politik auf. Er erzählt vom Hafen in Durrës an der Adriaküste, wo ein Unter­nehmer aus Dubai 2 Milliarden Euro investieren will. «Dieser Hafen wird viele Menschen anziehen, die viel Geld ausgeben», verspricht Rama.

Shkodra, eine Stadt in Nordwest­albanien, kann von solchen Investitionen nur träumen. Hier sind die Strassen besser als in Dibër. Doch die Stadt ist ein hartes Pflaster für Edi Rama. Sie gilt als Hochburg von Lulzim Basha, Chef der oppositionellen Demokraten, kurz PD.

Das hat auch mit der Geschichte zu tun. Während der Diktatur wurde Shkodra, bis heute das Zentrum katholischer Albanerinnen, besonders hart bestraft. Priester wanderten wegen einer Bibel ins Gefängnis, Kirchen wurden zu Sport­hallen umfunktioniert. Im ganzen Land wurden sämtliche Religionen verboten bis auf eine: den Marxismus-Leninismus. Rama selbst ist Katholik, seine Frau Muslimin und die Kinder aus vorheriger Ehe christlich-orthodox. «Unser gemeinsames Kind wird irgend­wann einmal entscheiden, was er sein möchte», sagt er im Interview mit der Republik, «vielleicht wird er buddhistisch oder jüdisch.»

«Ich glaube an einen Gott, der unsichtbar ist», sagt er.

Im Jahr 2018 zog er eine andere Metapher heran und erklärte: «Europa ist unsere Religion.» Umfragen geben ihm recht. Kein Land auf dem West­balkan ist proeuropäischer eingestellt.

Die Eröffnung von Beitritts­gesprächen lässt dennoch auf sich warten, zuletzt legte Frankreich ein Veto ein. Von Rama, einem erklärten Proeuropäer, sind in jüngster Zeit immer öfter EU-kritische Töne zu hören.

«Die EU hat sich in eine Föderation aus nationalen Egoismen verwandelt», sagt er im Gespräch mit der Republik. Spricht Rama über das europäische Projekt, dann tendiert er dazu, vorsichtige Metaphern zu benutzen. Die EU durchwandere eine «Wüste», sagt er. Die Migrations­krise von 2015 habe eine «Narbe» in ihr Antlitz geschlagen. Rama betont dennoch, dass er an das europäische Projekt glaube: «Es ist eine frustrierende Beziehung. Beide Seiten beteuern, dass sie sich lieben, aber eine Ehe ist in weiter Ferne.»

Auf eine Zukunft in der Europäischen Union können sich in Albanien alle Parteien einigen. Worüber man sich streitet: die Vergangenheit.

Davon erzählt Bardh Spahia. Der Chirurg kandidiert hier in Shkodra für die Demokraten. In seinem Büro im Zentrum – über einem Beautysalon – erzählt er, im Anzug und mit FFP2-Maske: «Nach der Wende haben wir ihnen vergeben, aber sie haben sich nie entschuldigt.»

Sie – damit meint er ehemalige Partei­kader und Staats­anwälte des Regimes. Bis heute würden sie in Ramas Partei geduldet, meint er. Und so gilt auch jetzt noch die Faust­regel: Wer während der Diktatur verfolgt wurde und im Norden lebt, wählt PD.

An diesem Abend im April ist Rama nach Shkodra gekommen, um die Faust­regel zu brechen. «Ich, ein Kommunist?», ruft er in ein Mikrofon und bricht in schallendes Gelächter aus. «Habt ihr den Verstand verloren?» Dann spricht er über zwei Dinge, die seine Biografie geprägt haben: die Diktatur und Dinamo Tirana.

Feindesland für Edi Rama: Bardh Spahia von der gegnerischen Partei der Demokraten auf einem Plakat in Shkodra.
Einmal Sportler, immer Sportler: Edi Rama im Fussballstadion von Kamza.
Der Abstand stimmt: Versammlung in Lezhë.

Die Diktatur, das war quasi Europas Nordkorea. Dinamo war Ramas Basketball­verein. Hoxha trieb das kleine Land in die Selbst­isolation, zog Zäune auf und liess die Küsten überwachen. «Albanien war von einer Mauer umgeben», sagt Rama zur Republik, «und wir mussten kleine Löcher hinein­schlagen, damit ein klein wenig Licht herein­kommt.» Ramas Guckloch nach draussen? Der Sport, später die Kunst. Manchmal auch beides zusammen.

«Ich habe Basketball gespielt, weil ich das Land verlassen wollte, um in ein Museum oder eine Kunst­galerie zu gehen», erinnert sich Rama zurück. Und Ilir Trebicka, der ehemalige Captain seiner Mannschaft, sagt: «Nach jedem Auslands­spiel mussten wir unsere Reise­pässe wieder zurückgeben.»

Trebicka ist heute 69 Jahre alt. Mit dem aktuellen Minister­präsidenten teilte er sich das Zimmer bei Auslands­spielen, darunter Mitte der Achtziger im westdeutschen Paderborn. «Wir haben das Spiel verloren», erinnert sich Trebicka, «aber wir waren in einem Restaurant essen. Der Kellner brachte Brot an den Tisch, und immer, wenn er zurückkam, war der Korb leer.» Es war die Zeit der Lebensmittel­rationen in Albanien.

Sozialdemokraten in Europa erzählen heute von einem gänzlich anderen Rama. «Zum Abend­essen ist er mit Limousine, weissem Jogging­anzug und Gold­kettchen vorgefahren und hat anschliessend den besten Wein bestellt», sagt ein Abgeordneter aus dem EU-Parlament.

Der Dresscode passt: Edi Rama unterwegs in Burrel.

In den 1990er-Jahren lebte Rama noch auf schmalem Fuss. Damals war er als Künstler in Paris und teilte sich eine Wohnung mit dem einige Jahre jüngeren Anri Sala. Der ehemalige Mitbewohner sagt: «Materielle Dinge waren Rama nie wichtig.»

Sala, 47, lebt mittlerweile in Berlin und stellt in Galerien auf der ganzen Welt aus. Er kennt den heutigen Politiker seit seiner Kindheit. Mentor nennt er ihn. Und er erinnert sich, wie der Kunst­professor Rama an der Akademie der Bildenden Künste ein Ölgemälde zeigte: der «Schrei» von Edvard Munch. Expressionistische Kunst war in Albanien verboten, ebenso Rockmusik oder Bücher von Nietzsche oder Agatha Christie. «Es war ein politischer Akt, dieses Bild zu zeigen», sagt Sala heute.

Eines von Ramas eigenen Bildern hängt heute dort, wo man es nicht erwarten würde: in Tirana im Arbeits­zimmer von Schrift­steller Fatos Lubonja, einem lautstarken Kritiker des Minister­präsidenten.

«Wissen Sie, wir waren einmal enge Freunde», sagt Lubonja. Wann er ihn kennengelernt habe? «1991, kurz nachdem ich aus dem Gefängnis entlassen wurde.»

Lubonja war einer von tausenden politischen Häftlingen, die während der Hoxha-Diktatur in Kupferminen schuften mussten. Siebzehn Jahre verbrachte er im Gefängnis und in Lagern. Der Grund: Als 23-Jähriger hatte er einen kritischen Tagebuch­eintrag über den Diktator verfasst. 1991, als das Regime zusammen­brach, kam Lubonja frei und traf auf einen «radikalen Intellektuellen». «Lass uns was Neues machen, etwas wirklich Anti­kommunistisches», soll Rama damals gesagt haben.

Es war die Zeit des grossen Umbruchs: Statuen wurden zertrümmert, Parteien gegründet, Botschaften und Öltanker gestürmt. Rama organisierte Debatten in Kinosälen und schrieb Artikel für Lubonjas Kultur­zeitschrift. Heute findet Lubonja: Liberale und Linke in Europa würden sich von Ramas Künstler­image blenden lassen. In Wahrheit setze dessen Partei auf volle Kontrolle. Als Beispiel nennt Lubonja eine Datenbank, die im Wahlkampf vom albanischen Online­portal «Lapsi.al» enthüllt wurde und sich im Besitz der Sozialistischen Partei befinden soll. Darin sind die Namen, Telefon­nummern und Adressen von 910’000 Wählerinnen vermerkt, ausserdem Kommentare über ihre politische Ausrichtung und ihren Arbeitgeber.

Lubonja scrollt durch sein iPhone und liest einige dieser Kommentare vor, die in der Presse als Screen­shots zirkulieren.

Sein Facebook-Profil lässt vermuten, dass er PS wählt

Sein Haus ist nicht legalisiert

Hat Sklerose

Seine Mutter ist in der Gemeinde beschäftigt

Transparency International spricht von einem «alarmierenden Trend», personen­bezogene Daten «zur Beeinflussung der Wahl­ergebnisse» zu nutzen.

Rama spricht von einem Missverständnis. Die Daten stammten aus Gesprächen zwischen Partei­aktivistinnen und Wählern, sagt er. Es gehe darum, von Tür zu Tür zu gehen und über die Bedürfnisse und Wünsche der Basis Bescheid zu wissen.

Datenbanken über Wählerinnen anzulegen, sei der eine Skandal, sagt Lubonja, der Schrift­steller. Der zweite beginne auf seinem Balkon.

Von dort kann er dabei zusehen, wie rund um den zentralen Skanderbeg-Platz immer höhere Bürotürme in die Luft wachsen. Es wird gemunkelt: Die sind nicht zum Wohnen da, sondern zum Geld­waschen. Im Januar 2021 wurden Telefon­mitschnitte italienischer Ermittlungs­behörden öffentlich: Clan-Mitglieder der kalabrischen Mafia zeigten Interesse, in Albaniens Bauwirtschaft zu investieren.

Das alte Tirana, mit seinen alten Villen und seinen verwilderten Hinter­höfen mit Orangen­bäumen, wird mehr und mehr dem Erdboden gleichgemacht.

Auch Ramas ehemalige Lieblings­kneipe könnte abgerissen werden. An einem Freitag­abend, zwei Tage vor der Wahl, macht Besitzerin Maja Sperrstunde: Sie schliesst die Tür ab, schenkt den Gästen Rakia ein und beginnt zu erzählen. «Das hier ist keine Bar», stellt sie, Anfang sechzig, gleich am Anfang klar, «sondern eine Institution.»

Die Kneipe heisst «Noel», weil sie an einem 25. Dezember eröffnete. Über der Bar hängen rote Christbaum­kugeln, und an der Wand, die mit Hunderten Zeitungs­blättern vollgeklebt ist: ein vergilbtes Schreiben von Edi Rama aus dem Jahr 1995.

Erinnerung an alte Zeiten: Edi Ramas Karte an die Bar «Noel».

«Nur etwas Kleines fehlt mir in Paris: das ‹Noel› und ihr.»

Das Noel steht fast so lange wie die Demokratie in Albanien. Die Bar ist auch Zeitzeugin der politischen Spaltung im Land. «Die Demokraten sassen hier und die Sozialisten dort», erinnert sich Maja, eine Frau mit kurzen, schwarzen Haaren. «Wir haben sie hier aufwachsen sehen», sagt sie, als handle es sich um ihre Kinder.

Heute sind die Kinder erwachsen und streiten immer noch: Die PD hat vor zwei Jahren das Parlament verlassen und die Lokal­wahlen von Juni 2019 boykottiert. Ihr Anführer Lulzim Basha wirft Rama Wahl­fälschung, Korruption und Nähe zur organisierten Kriminalität vor.

48 Stunden vor der Wahl ruft Basha ein letztes Mal seine Anhänger in Tirana zusammen. «Der Sonntag wird der heilige Tag der Albaner sein!», ruft er. Und: «Das ist nicht das Tirana von Edi Rama! Es ist eure Stadt!» Dann schallt die Hymne der Opposition aus den Boxen: «Unstoppable» von der australischen Popsängerin Sia. Ein Feuerwerk kracht, blaue Luft­ballons steigen in den Himmel.

Ein Anhänger der Demokraten nach einer Rede von Parteichef Lulzim Basha.

Blau und Lila. Seit dreissig Jahren ist Albanien in diese zwei Farben gespalten. Der Norden wählt tendenziell Basha, der Süden Rama.

Die Krux am albanischen System: Kommt es zu einer Rotation zwischen den Grossparteien, wird nicht nur die Regierung ausgewechselt – sondern gleich der gesamte Beamten­apparat, Schul­direktorinnen und Positionen in Gemeinden, Polizei und der Verwaltung. Das sei problematisch, sagt Ditmir Bushati, Albaniens ehemaliger Aussen­minister. Seiner Sozialistischen Partei sei es nicht gelungen, weder die soziale Ungleich­heit noch die politische Spaltung im Land zu kitten. «Wer auf Wahlkampf­veranstaltungen geht, will entweder den Job behalten oder einen bekommen», sagt Bushati.

Es war Rama, der Bushati – Harvard-Abgänger, Jurist und EU-Experte – 2005 in die Partei holte und später zum Aussen­minister beförderte. Nachdem Bushati öffentlich Kritik äusserte, setzte ihn der Partei­vorsitzende nicht mehr auf die Wahlliste.

Stattdessen klingelte dieses Jahr am 8. März das Handy bei Edona Bilali.

Die 31-Jährige berät Start-ups bei Projekt­anträgen, ist kein Partei­mitglied und Pendlerin: Derzeit doktoriert sie in Österreich. «Im Sommer hätte ich meine Dissertation präsentieren sollen», erzählt sie. Doch dann rief Edi Rama an.

Die Zukunft der Sozialistischen Partei: Edona Bilali.

Jetzt sitzt Bilali im zweiten Stock der PS-Zentrale in Shkodra und ist sichtlich angespannt. Es ist Sonntag, der 25. April, in sechs Stunden schliessen die Wahllokale. Vor Bilali liegt ein Stapel Flyer. Darauf ihr Gesicht und ihr Wahl­versprechen: ein besseres Klima für Unter­nehmer, Investitionen in Tourismus und Land­wirtschaft, Frauen­förderung. Was sie an Rama schätze? Er höre zu und fördere junge Quer­einsteigerinnen. Sie sei der «lebende Beweis» dafür, dass die Partei keine «One-Man-Show» sei.

Die Konflikte mit der PD will Bilali überbrücken, wenn sie einmal Abgeordnete ist. Sie erzählt von ihrem Wunsch, dass sich nach Auszählung der Stimmen alle Kandidaten friedlich die Hände reichen.

Bilali sagt das vier Tage nachdem in Elbasan, einer Stadt in Mittel­albanien, ein Wahlhelfer der Sozialisten von einem Anhänger der Demokraten erschossen wurde. Der Grund: vermutete Wahl­fälschung.

Auch Altin, ein 30-Jähriger mit Tommy-Hilfiger-Brusttasche, spricht von Stimmenkauf.

Oder besser gesagt: flüstert. Er steht im Gang einer Dorfschule, 10 Kilometer nördlich von Shkodra. Sie ist nach einem Guerilla-Kämpfer benannt, der im Ersten Weltkrieg Widerstand gegen die Serben leistete. Heute befinden sich die Dörfer rund um die Schule im Wider­stand gegen den albanischen Minister­präsidenten und seine Partei. Die Kabine, in der man seine Stimme abgibt, ist aus Karton und mit der immer gleichen Zahl bekritzelt: 9.9.9.9. Die Partei­nummer der PD.

Altin ist der Ortsvorsteher mehrerer Dörfer mit rund 12’000 Einwohnerinnen. «Jeden Tag», sagt er, «verschwinden zwölf von ihnen nach Deutschland.» Wenn Rama gewinnt, dann will auch er sich auf den Weg machen: «Das schwöre ich.»

Drei Tage später ist Altin immer noch da. Seine Partei hat die Wahl­niederlage hingenommen, die befürchteten Krawalle sind ausgeblieben. «Ich will der Minister­präsident von allen Albanern sein», hat Rama bei seiner Rede gesagt. Am nächsten Tag sitzt er in seinem Büro, den Zeichen­block auf dem Schoss, und führt das Interview mit der Republik.

Was antwortet er der Opposition, die ihm weiterhin Wahl­manipulation und Korruption vorwirft? «Gar nichts», sagt Rama. «Die Vorwürfe sind eine einzige Fantasie.»

Zur Autorin

Franziska Tschinderle ist freie Journalistin, sie lebt in Wien. Mit der Republik sprach sie jüngst über Angriffe, denen sie durch ihren Beruf ausgesetzt ist.

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