Humane Ressourcen

Zu alt ist zu einfach

Stellensuchende über 50 fühlen sich benachteiligt. Aber sind sie das wirklich? Es ist kompliziert. «Humane Ressourcen», Folge 9.

Von Reto Hunziker (Text) und AHAOK (Illustration), 15.06.2021

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Knallhart sei es, sagte er. In dem Alter habe man keine Chance mehr, sagte er. Firmen wollten junge Mitarbeiter, sagte er. Er fühle sich auf dem Abstell­gleis, sagte er.

Was ich von Stellen­suchenden über 50 schon oft gehört hatte, vernahm ich nun von einem 45-jährigen Grafiker. Ich war verblüfft und fragte mich: Ist man heute tatsächlich schon früher (zu) alt als früher? Sind Ältere im Arbeits­markt wirklich benachteiligt? Oder ist es manchmal auch bloss eine willkommene Erklärung?

Ein Versuch, die wesentlichen Fragen zu beantworten.

Warum ist das Thema seit Jahren präsent?

Die Gesellschaft wird immer älter aufgrund von höherer Lebens­erwartung und weniger Geburten. Die geburten­stärksten Jahrgänge sind heute zwischen 50 und 60 Jahre alt. Personen über 50 machen mehr als 30 Prozent der Beschäftigten aus. Wie es Arbeit­nehmerinnen über 50 ergeht, dürfte also schon nur aus eigener Betroffenheit sehr viele Menschen im Land interessieren. Ausserdem bilden sie eine kaufkräftige Gruppe mit grossem Einfluss auf Wahlen und Abstimmungen – und prägen deshalb öffentliche Debatten massgeblich mit.

Sind Personen über 50 häufiger arbeitslos?

Auch wenn es sich anders anfühlt, wenn man selber betroffen ist: Gemäss Zahlen des Staats­sekretariats für Wirtschaft (Seco) haben sich Arbeits­losigkeits­risiko und -dauer in den letzten 10 Jahren nur unwesentlich verändert. So lag die Arbeitslosen­quote bei den 50- bis 64-Jährigen stets zwischen 2,2 und 2,8 Prozent (nur 2020 waren es 2,9 Prozent). Und damit stets tiefer als bei den Alters­klassen 15–24 sowie 25–49. Auch bei den Kündigungen liegen die Ü50er im Schnitt oder sogar darunter.

«Die Arbeitslosenrate ist nicht höher bei Personen über 50, die Alters­gruppe ist also nicht übervertreten», bestätigt Patrick Arni, Dozent an der Universität Bristol, der zum Thema geforscht hat. Dies gelte branchenübergreifend.

Eine bestimmte Herausforderung gibt es aber doch: Wenn ältere Arbeit­nehmerinnen ihre Stelle verlieren, brauchen sie oft länger, um wieder Fuss zu fassen und eine neue Stelle zu finden.

Bei den Erwerbstätigen über 50 befinden sich 75 Prozent auch zehn Jahre später im Arbeits­markt. Bei den Arbeits­losen sind es nur 50 Prozent. Die Stellensuche dauert bei über 50-Jährigen mit durchschnittlich 7,8 Monaten länger als bei anderen Alters­gruppen (bei 40- bis 50-Jährigen: 5,8 Monate). Aber auch die Varianz ist gross: Viele schaffen es nach 4 Monaten, andere brauchen über ein Jahr.

Eine Arbeitslosigkeit mit 50, 55 oder 60 Jahren reduziere die Arbeitsmarkt­partizipation der Betroffenen bis zum ordentlichen Rentenalter nachhaltig und löse teilweise auch frühzeitige Rücktritte aus dem Erwerbs­leben aus, schreibt das Seco in einer Arbeitsmarkt­studie von 2020.

Nicht nur sind ältere Stellensuchende länger arbeitslos als jüngere, auch die negativen Effekte einer Aussteuerung scheinen sich im Alter zu verschärfen: Im Zeitraum von 2010 bis 2016 fanden 45 Prozent der 55- bis 59-Jährigen im ersten Jahr nach ihrer Aussteuerung wieder einen Job. Bei den 60- bis 64-Jährigen waren es 30 Prozent.

Zur Serie «Humane Ressourcen»

Wie liesse sich der Bewerbungs­prozess entstauben? Die Job­vermittlung auf dem Arbeits­amt weniger bürokratisch gestalten? Der Stellen­suche ihr Schrecken nehmen? Job­coach Reto Hunziker geht in zehn Beiträgen der Frage nach, welche Fehler die verschiedenen Beteiligten – Firmen, Bewerberinnen, Ämter – immer wieder machen und wie ein humaner Stellen­markt funktionieren könnte. Hier finden Sie den Auftakt mit den grund­­­legenden Fragen.

Ihre Inputs nimmt Reto Hunziker gerne auf. Was haben Sie auf dem Stellen­markt erlebt? Mit welchen Schwierigkeiten sind Sie konfrontiert? Welche Fragen stellen Sie sich? Schreiben Sie es ins Dialogforum.

Sind über 50-Jährige zu teuer für die Arbeit­geber?

Je älter die Mitarbeiterin, desto höher die Sozial­abgaben. Bei den aller­meisten Pensions­kassen steigen die Versicherungs­beiträge mit dem Alter des Versicherten. Ab 35 Jahren gehen rund 10 Prozent des Bruttolohns in die berufliche Vorsorge, ab 45 Jahren sind es 15 Prozent und ab 55 Jahren 18 Prozent.

Das liesse sich allenfalls kompensieren mit tieferen oder zumindest gleich­bleibenden Netto­löhnen. Doch auch beim Lohn ist man es in der Schweiz gewohnt, dass mit einem Stellen­wechsel in der Regel kein Rückschritt stattfindet.

Kritiker halten das Pensionskassen-Argument für eine Ausrede der Arbeitgeber. Zumal sich die Unterschiede durch tiefere Nettolöhne bereinigen liessen. Auch die Lohnlinearität kann man infrage stellen. «Ist es nicht leichter, mit 60 eine Lohneinbusse hinzunehmen, als mit 50?», fragt eine Personal­verantwortliche. Und: «Warum muss ich als Arbeitgeber für einen älteren Arbeitnehmer mehr Abzüge bezahlen als für einen jüngeren?»

Bestrebungen, einen Einheitssatz für die Pensions­kassen­beiträge einzuführen oder die Differenzen auszugleichen, konnten sich bisher allerdings nicht durchsetzen.

Sind sie weniger leistungsfähig?

Ältere Arbeitnehmer seien häufiger krank, weniger belastbar, geistig nicht mehr so flexibel, weniger lernfähig – so die gängigen Vorurteile. Wissenschaftlich konnte bisher keines davon belegt werden. Der Vorwurf, über 50-Jährige seien digital nicht versiert und nicht auf dem neuesten Stand der modernen Technik, ist ebenfalls schwer nachzuweisen. Gibt es doch krasse Unterschiede zwischen den Branchen und natürlich auch unter den Individuen.

Klar ist einzig: In einer Arbeitswelt, die sich stetig wandelt, kann es sich niemand leisten, stehen zu bleiben und sich auf die Erstausbildung zu verlassen.

Bereits 2006 schrieb Avenir Suisse: «Bei Mitarbeitenden über 50 ist oftmals weniger das Alter an sich ein Risiko­faktor als ein zu langes Verbleiben an der gleichen Arbeits­stelle oder der gleichen Position.» Und weiter: «Langjährig immobile Mitarbeitende verlieren häufig an Arbeitsmarkt­fähigkeit.»

Dies bekräftigt ein Personalverantwortlicher: «Ich erlebe immer wieder ältere Mitarbeitende, die sich nicht mehr anpassen können. Alles, was neu ist, ist ihnen suspekt oder lehnen sie gar ab. Hier müssen ältere Mitarbeitende flexibler, offener und agiler werden und dann versuchen, den Arbeitgeber davon zu überzeugen.» Auf der anderen Seite müsse ein Unternehmen Rahmen­bedingungen schaffen, damit die Mitarbeitenden auch nach jahrelanger Arbeitstätigkeit weiterhin gefordert würden und Verantwortung übernehmen könnten.

Werden über 50-Jährige benachteiligt?

Es gibt keine stichhaltigen Beweise, dass Arbeitnehmerinnen, die älter als 50 Jahre sind, benachteiligt werden. Wie eine Umfrage der Outplacement-Firma von Rundstedt unter knapp 800 Arbeitgeberinnen und etwas mehr als 1000 Arbeit­nehmern zeigte, gibt es zumindest unterschiedliche Auffassungen. Einerseits ergab die Befragung, dass trotz punktueller Benachteiligung keine «konkreten Praktiken oder diskriminierenden Handlungen» seitens der Arbeitgeber ersichtlich sind.

Andererseits sahen von den befragten Arbeitnehmern 73 Prozent der Beschäftigten sowie 93 Prozent der Stellen­suchenden das Alter in Bewerbungs­situationen klar als Nachteil. Das Fazit gemäss von Rundstedt: «Wir können davon ausgehen, dass die Schwierigkeiten einer (wachsenden) Ü50-Minderheit strukturell bedingt sind.»

Was sind mögliche Lösungs­ansätze?

Massnahmen wie die Überbrückungs­rente für Ausgesteuerte ab 60, die auf den 1. Juli eingeführt wird, könnten ein hilfreicher Weg sein. Weitere Ansätze wären: ein stärkerer Kündigungs­schutz (was wiederum für Arbeit­geberinnen eine Hürde darstellen könnte), Teilzeitrenten-Modelle, eine tiefere Alters­schwelle für die verlängerte ALV-Bezugsdauer (schon ab 50?) oder ein Einheitssatz beziehungs­weise eine System­änderung bei der beruflichen Vorsorge.

Generell sollten wir hier flexibler und pluralistischer denken. «Von der Idee, in einem Job 100 Prozent zu arbeiten, bis man 65 ist, sollten wir uns langsam, aber sicher verabschieden», sagt HR-Experte Matthias Mölleney. In den Niederlanden arbeiten mehr als die Hälfte Teilzeit, kombinieren teils mehrere Jobs, bis zur Pension. «In diese Richtung wird es auch bei uns gehen», ist sich Mölleney sicher, «auch wir brauchen flexiblere Modelle.»

Dass sich auch Unterstützung bei der Stellensuche auszahlt, konnte Wissenschaftler Patrick Arni nachweisen. 2008 führte er eine Feldstudie durch mit Stellen­suchenden über 45. Diese bekamen in einer Arbeits­marktlichen Massnahme (AMM) ein intensives Coaching. Suchstrategien wurden erarbeitet, Perspektiven dargelegt und die Kompetenz zur Stellensuche gefördert. «Trotz hoher Kosten ging das Kosten-Nutzen-Verhältnis dank nachhaltiger Vermittlung auf.» Arni fügt an, dass sich die Erwartungs­haltung der Stellen­suchenden aufgrund des Coachings angepasst habe. Am Ende verbesserte sich die Vermittlungs­quote signifikant.

Arni könnte sich noch mehr Unterstützung durch die Arbeit­geber vorstellen. «Neben exklusiven Kompetenzen sollten sie auch allgemeine Kompetenzen fördern.» Auch Weiter­bildungs­voucher, finanziert durch einen Bildungs­fonds, sieht er als Möglichkeit. Gerade was Job-Search-Kompetenzen anbelangt, scheint es seitens älterer Stellen­suchender Nachhol­bedarf zu geben.

«Meine Beobachtung», so ein Stellenvermittler: «Je grösser das Unternehmen, desto schwieriger ist es für ältere Bewerber.» Ob diese Wahrnehmung repräsentativ ist oder nicht – die Firmen müssen sich bewusst sein, was sie an erfahrenen Mitarbeitern haben. Eigenschaften wie Arriviertheit, Gelassenheit, Erfahrung, aber auch Loyalität zeichnen sie aus. Ausserdem ist eine gute Durch­mischung von Vorteil. Es ist Zeit, die antiquierten Ansichten über das Alter zu hinterfragen.

Tipps: So stärken Sie Ihre Position

1. Aktivieren Sie Ihr Netzwerk: Viele Stellen­suchende über 50 finden eine Stelle über Vitamin B. Nutzen Sie also Ihre Kontakte.

2. Bleiben Sie up to date: Angesichts der Vorurteile und Stereotype – zeigen Sie, dass Sie aktiv, motiviert, flexibel und innovativ sind (im besten Fall, ohne diese Floskeln zu verwenden) und mit den Jungen mithalten können. Sei es in Ihrem Linkedin-Profil, im Motivations­schreiben oder mit einer Online­weiterbildung.

3. Nutzen Sie Ihre Vorteile: Sind Sie beim RAV angemeldet und über 50, können Sie respektive kann Ihr potenzieller Arbeit­geber von Einarbeitungs­zuschüssen profitieren. Bedingung ist, dass Sie sich für eine Stelle bewerben, für die Sie noch nicht die erwarteten Kompetenzen mitbringen.

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