Maschinell aussortiert
Kein Mensch liest die Bewerbung – sondern eine Software, die dann oft auch Endstation ist. Wie berechtigt ist diese Angst vieler Stellensuchender? «Humane Ressourcen», Folge 8.
Von Reto Hunziker (Text) und AHAOK (Illustration), 08.06.2021
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Sie schreiben eine Bewerbung, geben sich Mühe, Sie versuchen, alles richtig zu machen. Doch dann wird Ihr Dossier von einer Software aussortiert. Weil die Software die Keywords, die im Inserat standen, nicht in Ihren eingereichten Unterlagen gefunden hat. Ein Mensch hätte womöglich gesehen, dass Sie trotzdem geeignet wären für die Stelle. Doch die Maschine denkt nicht, sie gehorcht – und rangiert Sie aus dem Rennen.
So weit die Befürchtungen vieler Stellensuchender. «Wofür soll ich mir all die Mühe geben, zu überzeugen», denken Sie sich, «wenn meine Daten nachher ohnehin in Nullen und Einsen aufgeteilt werden?» Die Vorstellung, die Bewerbung werde von keinem Menschen mehr gelesen, verunsichert. Aber ist die Angst auch berechtigt?
Wie liesse sich der Bewerbungsprozess entstauben? Die Jobvermittlung auf dem Arbeitsamt weniger bürokratisch gestalten? Der Stellensuche ihr Schrecken nehmen? Jobcoach Reto Hunziker geht in zehn Beiträgen der Frage nach, welche Fehler die verschiedenen Beteiligten – Firmen, Bewerberinnen, Ämter – immer wieder machen und wie ein humaner Stellenmarkt funktionieren könnte. Hier finden Sie den Auftakt mit den grundlegenden Fragen.
Ihre Inputs nimmt Reto Hunziker gerne auf. Was haben Sie auf dem Stellenmarkt erlebt? Mit welchen Schwierigkeiten sind Sie konfrontiert? Welche Fragen stellen Sie sich? Schreiben Sie es ins Dialogforum.
Brillenträgerin? Aussortiert
In den letzten Jahren sind wir – das ist offensichtlich – vermehrt mit Bewerbungsmasken konfrontiert, wo wir unsere Unterlagen getrennt hochzuladen oder sogar einzelne Felder damit zu füllen haben. Ausserdem ist immer häufiger von Algorithmen die Rede, von Bewerbungsmanagement-Systemen, von E-Recruiting, CV Parsing, von Hiring and Recruiting Tools und Applicant Tracking Systems (ATS). Alles Werkzeuge und Dienste, die es Firmen erleichtern sollen, die Flut an Bewerbungen zu bewältigen und aus dieser die besten Kandidatinnen auszuwählen. Möglichst schnell, möglichst berechenbar, möglichst effizient.
Das CV Parsing etwa ermöglicht es, den Lebenslauf einfacher zu durchsuchen. Die Software speist die Daten automatisch in eine Datenbank ein, worauf sie sortiert und gesucht werden können. Mithilfe von ATS lassen sich die Kandidaten dann nach ausgewählten Kriterien filtern. Solche Systeme sind mittlerweile auch für kleinere Firmen erschwinglich.
Internationale Konzerne gehen noch viel weiter, sie experimentieren mit Videoanalyse-Programmen – allerdings mit durchzogener Bilanz: Eine Software, die in Videogesprächen Tausende Merkmale der Kandidatinnen registriert, war im Endeffekt sehr anfällig auf Accessoires. Brillenträger wurden zum Beispiel als weniger gewissenhaft eingestuft, wie der Bayerische Rundfunk in einem Test herausfand. Auch eine Bücherwand im Hintergrund beeinflusste die Einschätzung der Kandidatin.
Andere Anwendungen erstellen Persönlichkeitsprofile von Kandidaten, indem sie Posts und Likes ihrer Social-Media-Profile durchleuchten. Die Universität Cambridge demonstriert, wie das funktioniert.
Tricksen ist nicht nötig
Für Recruiter haben diese Werkzeuge fast nur positive Aspekte: Die Effizienz wird gesteigert, aufwendige Routineaufgaben fallen weg. Ganz anders sieht es für die Stellensuchenden aus. Sie tun sich schwer mit der Vorstellung, von Computern begutachtet zu werden. Das erstaunt nicht, der Bewerbungsprozess wirkt auf sie so schon intransparent, Maschinen machen ihn noch undurchschaubarer.
Aus Angst, ihre Bewerbung könnte von der Software nicht berücksichtigt werden, greifen einige von ihnen in die Trickkiste. Sie schreiben etwa die Keywords, die sie als wichtig vermuten, in ihr Motivationsschreiben und markieren sie weiss. So sind sie für einen Menschen nicht sichtbar, für die Software schon.
Das schadet zwar nicht, ist aber auch nicht nötig. Mehrere Personalexperten bestätigen: Stand heute werden Recruiting-Tools genutzt, um eine Vorauswahl zu treffen. Und zwar vorwiegend via hard facts, sprich: Ausbildung, Fremdsprachenkenntnisse oder auch berufliche Stationen. Alles Faktoren, die auch vor einem menschlichen Recruiter zu Filterkriterien würden. Die Abfrage dieser zwingenden Kriterien wird quasi ausgelagert, damit sich die Recruiter auf das Menschliche konzentrieren können.
Auch Umfragen lassen vermuten, dass die Automatisierung im Personalwesen nicht so verbreitet ist wie angenommen (oder befürchtet). In einer Befragung der Deutschen Gesellschaft für Personalführung von 2019 gaben von 68 Unternehmen ganze 66 an, dass bei ihnen noch keine künstliche Intelligenz (KI) im HR-Bereich im Einsatz stehe.
In der Schweiz sieht es ähnlich aus. Die Umfrage «Personalmanagement-Trends 2016» ergab bei 100 HR-Leuten: «Nur gerade 6 Prozent der untersuchten Unternehmen setzen eine sogenannte Bewerbermanagement-Software ein, die den Rekrutierungsprozess verkürzt, vereinfacht und dadurch kostengünstiger gestaltet.» Obwohl damit angeblich 130 Millionen Franken gespart werden könnten.
Natürlich, das ist fünf Jahre her, und in denen kann viel passieren, Tatsache aber bleibt: Die Schweiz ist ein KMU-Land. 99 Prozent der Schweizer Unternehmen beschäftigen weniger als 250 Mitarbeitende.
Der Mensch bleibt der wichtigste Faktor
Die allerwenigsten Schweizer Unternehmen haben ständig zahlreiche Stellen zu besetzen. Darum müssen sie auch nicht eine stete Flut an Bewerbungen bewältigen, die eine Automatisierung nötig machen würde. Der Trend zur Verselbstständigung des Recruitings geht ganz klar von internationalen Firmen aus. Es sind grosse Namen wie Google, Siemens oder IBM, die in künstliche Intelligenz investieren.
Doch Zugzwang und Trittbretteffekt sind beträchtlich, viele kleinere Firmen werden aufspringen. Und natürlich die Stellenvermittler, an die manche KMU ihre HR-Aufgaben auslagern. Dass hierzulande jedoch grossflächig Algorithmen zum Zug kommen, etwa in Verhaltens- oder Wortschatzanalysen, das wird noch dauern, bis die Technik solide ist und sich überall durchgesetzt hat.
Was dann? In Deutschland schätzten zwar über 90 Prozent der befragten Unternehmen die Auswirkungen des Einsatzes von KI als positiv ein. Sie waren sich aber auch einig, dass eine Maschine weder Gespräche führen, Leistungen von Kandidatinnen bewerten noch die Entscheidung «einstellen oder absagen» treffen sollte.
Und das soll auch so bleiben: Der Faktor Mensch hat bei Personalentscheiden immer noch der wichtigste zu sein – so das einhellige Votum der Arbeitgeber. Nicht der Computer wird die Entscheide treffen, sondern ein Mensch. Die Softwaretools sind dazu gedacht, ihn dabei zu unterstützen.
«Das Scannen der CVs kann man nicht perfekt automatisieren», sagt Personalexperte und Dozent Matthias Mölleney, der sich mit der Thematik befasst, «aber in der Vorauswahl kommt die Software wohl auf das Niveau von HR-Anfängern.» Das heisst: Das Programm macht nichts anderes, als ein Recruiter ohnehin tun würde – aufgrund der Fakten entscheiden: passt oder passt nicht.
Der Mensch wird die HR-Maschine jedoch immer begleiten müssen. So, dass nicht wie im Fall von Amazon die künstliche Intelligenz Frauen weniger beachtet, bloss weil die Datenbasis männerlastig war. Damit eine Software die Realität einigermassen abbilden kann, muss es auch die Datenbasis tun, die wir Menschen vorher einspeisen.
Und solange die Maschinerie vom Menschen abhängt, bleibt sie – bis zu einem gewissen Grad – subjektiv und fehleranfällig. Wie tröstlich.
Tipps: Hinterfragen und abwägen
1. Lassen Sie sich nicht verrückt machen: Ob Mensch oder Maschine – eine gewisse Willkür gehört zum Bewerbungsprozess.
2. Hinterfragen Sie: Wenn Ihnen unwohl ist beim Gedanken, wie eine Nummer behandelt zu werden, sollten Sie sich fragen: Warum will ich unbedingt bei diesem Unternehmen arbeiten? Und: Will ich das in Kauf nehmen?
3. Sehen Sie es positiv: Da Recruiting-Tools mehr Bewerbungen verarbeiten können und auch Videoanalysen mehr «Gespräche» für den ersten Eindruck zulassen, können tendenziell mehr Kandidatinnen genauer betrachtet werden.