Humane Ressourcen

Maschinell aussortiert

Kein Mensch liest die Bewerbung – sondern eine Software, die dann oft auch Endstation ist. Wie berechtigt ist diese Angst vieler Stellen­suchender? «Humane Ressourcen», Folge 8.

Von Reto Hunziker (Text) und AHAOK (Illustration), 08.06.2021

Teilen9 Beiträge9

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!

Sie schreiben eine Bewerbung, geben sich Mühe, Sie versuchen, alles richtig zu machen. Doch dann wird Ihr Dossier von einer Software aussortiert. Weil die Software die Keywords, die im Inserat standen, nicht in Ihren eingereichten Unter­lagen gefunden hat. Ein Mensch hätte womöglich gesehen, dass Sie trotzdem geeignet wären für die Stelle. Doch die Maschine denkt nicht, sie gehorcht – und rangiert Sie aus dem Rennen.

So weit die Befürchtungen vieler Stellen­suchender. «Wofür soll ich mir all die Mühe geben, zu überzeugen», denken Sie sich, «wenn meine Daten nachher ohnehin in Nullen und Einsen aufgeteilt werden?» Die Vorstellung, die Bewerbung werde von keinem Menschen mehr gelesen, verunsichert. Aber ist die Angst auch berechtigt?

Zur Serie «Humane Ressourcen»

Wie liesse sich der Bewerbungs­prozess entstauben? Die Job­vermittlung auf dem Arbeits­amt weniger bürokratisch gestalten? Der Stellen­suche ihr Schrecken nehmen? Job­coach Reto Hunziker geht in zehn Beiträgen der Frage nach, welche Fehler die verschiedenen Beteiligten – Firmen, Bewerberinnen, Ämter – immer wieder machen und wie ein humaner Stellen­markt funktionieren könnte. Hier finden Sie den Auftakt mit den grund­­­legenden Fragen.

Ihre Inputs nimmt Reto Hunziker gerne auf. Was haben Sie auf dem Stellen­markt erlebt? Mit welchen Schwierigkeiten sind Sie konfrontiert? Welche Fragen stellen Sie sich? Schreiben Sie es ins Dialogforum.

Brillenträgerin? Aussortiert

In den letzten Jahren sind wir – das ist offen­sichtlich – vermehrt mit Bewerbungs­masken konfrontiert, wo wir unsere Unterlagen getrennt hochzuladen oder sogar einzelne Felder damit zu füllen haben. Ausserdem ist immer häufiger von Algorithmen die Rede, von Bewerbungs­management-Systemen, von E-Recruiting, CV Parsing, von Hiring and Recruiting Tools und Applicant Tracking Systems (ATS). Alles Werkzeuge und Dienste, die es Firmen erleichtern sollen, die Flut an Bewerbungen zu bewältigen und aus dieser die besten Kandidatinnen auszuwählen. Möglichst schnell, möglichst berechenbar, möglichst effizient.

Das CV Parsing etwa ermöglicht es, den Lebens­lauf einfacher zu durchsuchen. Die Software speist die Daten automatisch in eine Datenbank ein, worauf sie sortiert und gesucht werden können. Mithilfe von ATS lassen sich die Kandidaten dann nach ausgewählten Kriterien filtern. Solche Systeme sind mittlerweile auch für kleinere Firmen erschwinglich.

Internationale Konzerne gehen noch viel weiter, sie experimentieren mit Video­analyse-Programmen – allerdings mit durchzogener Bilanz: Eine Software, die in Video­gesprächen Tausende Merkmale der Kandidatinnen registriert, war im Endeffekt sehr anfällig auf Accessoires. Brillen­träger wurden zum Beispiel als weniger gewissenhaft eingestuft, wie der Bayerische Rundfunk in einem Test herausfand. Auch eine Bücher­wand im Hinter­grund beeinflusste die Einschätzung der Kandidatin.

Andere Anwendungen erstellen Persönlichkeits­profile von Kandidaten, indem sie Posts und Likes ihrer Social-Media-Profile durchleuchten. Die Universität Cambridge demonstriert, wie das funktioniert.

Tricksen ist nicht nötig

Für Recruiter haben diese Werkzeuge fast nur positive Aspekte: Die Effizienz wird gesteigert, aufwendige Routine­aufgaben fallen weg. Ganz anders sieht es für die Stellen­suchenden aus. Sie tun sich schwer mit der Vorstellung, von Computern begutachtet zu werden. Das erstaunt nicht, der Bewerbungs­prozess wirkt auf sie so schon intransparent, Maschinen machen ihn noch undurchschaubarer.

Aus Angst, ihre Bewerbung könnte von der Software nicht berücksichtigt werden, greifen einige von ihnen in die Trickkiste. Sie schreiben etwa die Keywords, die sie als wichtig vermuten, in ihr Motivations­schreiben und markieren sie weiss. So sind sie für einen Menschen nicht sichtbar, für die Software schon.

Das schadet zwar nicht, ist aber auch nicht nötig. Mehrere Personal­experten bestätigen: Stand heute werden Recruiting-Tools genutzt, um eine Vorauswahl zu treffen. Und zwar vorwiegend via hard facts, sprich: Ausbildung, Fremdsprachen­kenntnisse oder auch berufliche Stationen. Alles Faktoren, die auch vor einem menschlichen Recruiter zu Filter­kriterien würden. Die Abfrage dieser zwingenden Kriterien wird quasi ausgelagert, damit sich die Recruiter auf das Menschliche konzentrieren können.

Auch Umfragen lassen vermuten, dass die Automatisierung im Personal­wesen nicht so verbreitet ist wie angenommen (oder befürchtet). In einer Befragung der Deutschen Gesellschaft für Personal­führung von 2019 gaben von 68 Unternehmen ganze 66 an, dass bei ihnen noch keine künstliche Intelligenz (KI) im HR-Bereich im Einsatz stehe.

In der Schweiz sieht es ähnlich aus. Die Umfrage «Personal­management-Trends 2016» ergab bei 100 HR-Leuten: «Nur gerade 6 Prozent der untersuchten Unter­nehmen setzen eine sogenannte Bewerber­management-Software ein, die den Rekrutierungs­prozess verkürzt, vereinfacht und dadurch kosten­günstiger gestaltet.» Obwohl damit angeblich 130 Millionen Franken gespart werden könnten.

Natürlich, das ist fünf Jahre her, und in denen kann viel passieren, Tatsache aber bleibt: Die Schweiz ist ein KMU-Land. 99 Prozent der Schweizer Unternehmen beschäftigen weniger als 250 Mitarbeitende.

Der Mensch bleibt der wichtigste Faktor

Die allerwenigsten Schweizer Unter­nehmen haben ständig zahlreiche Stellen zu besetzen. Darum müssen sie auch nicht eine stete Flut an Bewerbungen bewältigen, die eine Automatisierung nötig machen würde. Der Trend zur Verselbst­ständigung des Recruitings geht ganz klar von internationalen Firmen aus. Es sind grosse Namen wie Google, Siemens oder IBM, die in künstliche Intelligenz investieren.

Doch Zugzwang und Trittbretteffekt sind beträchtlich, viele kleinere Firmen werden aufspringen. Und natürlich die Stellen­vermittler, an die manche KMU ihre HR-Aufgaben auslagern. Dass hierzulande jedoch grossflächig Algorithmen zum Zug kommen, etwa in Verhaltens- oder Wortschatz­analysen, das wird noch dauern, bis die Technik solide ist und sich überall durchgesetzt hat.

Was dann? In Deutschland schätzten zwar über 90 Prozent der befragten Unternehmen die Auswirkungen des Einsatzes von KI als positiv ein. Sie waren sich aber auch einig, dass eine Maschine weder Gespräche führen, Leistungen von Kandidatinnen bewerten noch die Entscheidung «einstellen oder absagen» treffen sollte.

Und das soll auch so bleiben: Der Faktor Mensch hat bei Personal­entscheiden immer noch der wichtigste zu sein – so das einhellige Votum der Arbeit­geber. Nicht der Computer wird die Entscheide treffen, sondern ein Mensch. Die Software­tools sind dazu gedacht, ihn dabei zu unterstützen.

«Das Scannen der CVs kann man nicht perfekt automatisieren», sagt Personal­experte und Dozent Matthias Mölleney, der sich mit der Thematik befasst, «aber in der Vorauswahl kommt die Software wohl auf das Niveau von HR-Anfängern.» Das heisst: Das Programm macht nichts anderes, als ein Recruiter ohnehin tun würde – aufgrund der Fakten entscheiden: passt oder passt nicht.

Der Mensch wird die HR-Maschine jedoch immer begleiten müssen. So, dass nicht wie im Fall von Amazon die künstliche Intelligenz Frauen weniger beachtet, bloss weil die Datenbasis männerlastig war. Damit eine Software die Realität einiger­massen abbilden kann, muss es auch die Datenbasis tun, die wir Menschen vorher einspeisen.

Und solange die Maschinerie vom Menschen abhängt, bleibt sie – bis zu einem gewissen Grad – subjektiv und fehler­anfällig. Wie tröstlich.

Tipps: Hinterfragen und abwägen

1. Lassen Sie sich nicht verrückt machen: Ob Mensch oder Maschine – eine gewisse Willkür gehört zum Bewerbungsprozess.

2. Hinterfragen Sie: Wenn Ihnen unwohl ist beim Gedanken, wie eine Nummer behandelt zu werden, sollten Sie sich fragen: Warum will ich unbedingt bei diesem Unter­nehmen arbeiten? Und: Will ich das in Kauf nehmen?

3. Sehen Sie es positiv: Da Recruiting-Tools mehr Bewerbungen verarbeiten können und auch Video­analysen mehr «Gespräche» für den ersten Eindruck zulassen, können tendenziell mehr Kandidatinnen genauer betrachtet werden.

Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus mit einem Monatsabonnement oder einer Jahresmitgliedschaft!