Strassberg

Das Ende ist da

Wo sich der heutige Rechts­populismus vom historischen Faschismus unterscheidet. Und warum er sich so gut mit der Demokratie arrangiert.

Von Daniel Strassberg, 08.06.2021

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Im Jahr 1961 musste sich Ober­sturm­bann­führer Adolf Eichmann vor dem Bezirks­gericht Jerusalem dafür verantworten, die sogenannte «Endlösung», die Vernichtung der Juden Europas, geplant und durch­geführt zu haben. Der Prozess begann am 11. April 1961 und endete am 15. Dezember 1961 mit dem Todesurteil.

In den Monaten April und Juni war die Philosophin Hannah Arendt als Prozess­bericht­erstatterin für den «New Yorker» akkreditiert, zwei Jahre später veröffentlichte sie ihre Beobachtungen unter dem Titel «Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen». Eichmann, so Arendts These, sei bloss ein Rädchen – ein wichtiges zwar, aber dennoch ein Rädchen – in einer bürokratischen Tötungs­maschine gewesen. Seine Schuld, die Arendt keinen Augen­blick leugnet, bestehe darin, Befehlen gehorcht zu haben, ohne einen Moment über sich und sein Tun nach­zudenken. Arendt entwickelt daraus die Forderung, dass der Mensch in einer Art innerem sokratischem Dialog sich selbst Rechenschaft über sein Tun geben müsse. Das Böse besteht im Grunde in der Gedanken­losigkeit.

Über diesen epochalen Prozess und das ebenso epochale Buch scheint schon alles geschrieben worden zu sein, was es dazu zu schreiben gibt. Auch durch den Film von Margarethe von Trotta aus dem Jahr 2012 wurde dokumentiert, wie heftig Arendt für ihr Buch angegriffen wurde, wie sich Freunde von ihr abwandten und wie sie darunter gelitten hatte. Ihr wurde vorgeworfen, den National­sozialismus zu verharmlosen, auf die Schauspiel­kunst von Eichmann herein­gefallen zu sein und vor allem die Rolle der Juden­räte in denunziatorischer Absicht völlig falsch dargestellt zu haben. Auf der anderen Seite stützen die Experimente von Stanley Milgram, ebenfalls aus dem Jahr 1961, und die Unter­suchungen von Theodor W. Adorno zur autoritären Persönlich­keit Arendts These von der entscheidenden Rolle des unreflektierten Gehorsams und der blinden Autoritäts­gläubigkeit für den Erfolg des historischen Faschismus.

Trotz all dem lohnt es sich, sechzig Jahre nach dem Prozess in Jerusalem das Dossier noch einmal zu öffnen. Heute stellt sich die Frage, ob die These von der Banalität des Bösen auch für das Verständnis des heutigen Rechts­populismus etwas hergibt. Oder besser: für den Postfaschismus.

In einigem behielten die Kritiker Arendts recht. Tatsächlich scheint Eichmann nicht jener leidenschafts­lose Bürokrat gewesen zu sein, als der er sich darstellen wollte. Im Gefängnis schrieb er eine Auto­biografie, die heute in der israelischen National­bibliothek unter Verschluss liegt, die ich aber einsehen konnte. In dieser macht er unmiss­verständlich klar, dass er in einer göttlichen Mission unterwegs gewesen sei. Die falschen Götter hätten ihn verführt, schreibt er da. Auch dass die Macht des Faschismus auf banalem bürokratischem Gehorsam gründet, greift viel zu kurz.

Die Gewalt der Strasse, anfänglich vor allem von der Sturm­abteilung (SA) ausgeübt, war für den Sieg des National­sozialismus entscheidend. Wer Bücher­verbrennungen im Dritten Reich oder die Reichs­pogrom­nacht vom 9. November 1938 auf Youtube anschaut, gewinnt keinen Moment den Eindruck, hier handle jemand unter Zwang. Vielmehr scheint da ein riesiges, grausames Fest im Gang zu sein. Auch der italienische Faschismus nahm in der Gewalt der Strasse seinen Anfang. Um die Zeit des Marschs auf Rom im Jahr 1922, als Mussolini die Macht ergriff, überzogen die faschistischen Schwadronen das Land mit Terror. Die Situation in Spanien war nur deshalb leicht anders, weil der Gewalt der faschistischen Schläger­trupps so starker Wider­stand erwuchs, dass daraus ein Bürger­krieg entstand.

Allerdings tun die Kritikerinnen Hannah Arendt Unrecht, wenn sie behaupten, sie hätte das alles nicht gesehen. Im Gegenteil, schon 1951, in ihrem Opus magnum «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft», beschreibt sie minutiös, dass die «National­sozialistische Partei in ihren Anfängen aus gescheiterten Existenzen und Abenteurern [bestand], denen das bürgerliche Leben zu langweilig war» und die als körper- und gesichtslose Masse auf nichts anderes als auf Bewegung, auf den intensiv gelebten Augenblick – heute würden wir sagen: auf action –, aus waren. Nein, die Frage, die Hannah Arendt stellte, war wohl diese: Wie entsteht aus der grausamen und gesetzlosen Mordlust eines marodierenden Mobs eine kalte, staatlich-bürokratische Mordmaschine?

In den letzten Jahr­zehnten lebt der Faschismus – oder jedenfalls an den Faschismus erinnernde Macht­techniken – wieder auf. Fassungslos schauen wir zu, wie unzählige gewählte Regierungs­chefs ihre Staaten so umbauen, dass sie mindestens in Ansätzen faschistische Züge aufweisen. Nennen wir sie beim Namen: Andrej Babiš, Jair Bolsonaro, Recep Tayyip Erdoğan, Jarosław Kaczyński, Sebastian Kurz, Narendra Modi, Benjamin Netanyahu, Viktor Orbán, Wladimir Putin, Donald Trump. Dazu kommen Politikerinnen wie Marine Le Pen in Frankreich, die Gewehr bei Fuss stehen, um nach der Eroberung der Macht denselben Weg einzuschlagen, und bereits entthronte Führer­figuren wie Donald Trump oder Matteo Salvini, die wieder abgewehrt werden konnten – vorläufig jedenfalls.

Wie schon der historische Faschismus verfügt auch der heutige Post­faschismus über keine feste Ideologie und kann nur am Vorhanden­sein gewisser Elemente identifiziert werden. Ich schlage vor, Programme oder Regierungs­formen postfaschistisch zu nennen, die folgende Merkmale aufweisen: Aufhebung der Gewalten­teilung, Gleich­schaltung der Presse, Anwendung oder Androhung von nicht legitimierter Gewalt, Fremden­feindlichkeit, Konzentration auf eine Führer­figur, Pakt mit einer fanatischen, mindestens zu Teilen mobartigen Anhängerschaft, Verachtung für das Parlament.

Man könnte einwenden, die Frage, die Hannah Arendt umtrieb – also die Frage nach der Entstehung des Totalitarismus und danach, wie schliesslich Auschwitz möglich wurde –, sei nicht mehr relevant: Erstens unterscheidet sich der Post­faschismus vom alten Faschismus und besonders vom National­sozialismus genau darin, dass er es nicht mehr nötig hat, die Demokratie abzuschaffen; zweitens bringt er nicht diese extremen Formen grausamer Gewalt hervor.

Während die alten faschistischen Diktatoren die demokratischen Institutionen in dem Augenblick abschafften, in dem sie die Macht übernahmen, bauen die neuen Populisten ihr Herrschafts­system in die demokratischen Institutionen ein. In Syrakus auf Sizilien steht eine wunder­volle Kathedrale, die in einen alten römischen Tempel hinein­gebaut wurde. Die römischen Säulen wurden nicht abgerissen, sondern einbezogen. So etwa verfährt der Post­faschismus mit der Demokratie. Dadurch spielt trotz des Sturms auf das Kapitol oder der Hatz auf Ausländer in Chemnitz die Gewalt der Strasse eine marginale Rolle für die Macht­ausübung der Post­faschisten. Die heutigen Autokraten lassen sich lieber immer wieder demokratisch wählen.

Doch mir scheint, dass gerade diese Unter­schiede eine Analyse des Post­faschismus befruchten. Man kann Arendts Frage auch umdrehen und fragen, wie es möglich ist, dass der Post­faschismus die Macht innerhalb der Demokratie und (fast) ohne Gewalt der Strasse übernehmen kann.

Als ich für die letzte Kolumne über die Frage nach dem Sinn des Lebens das Buch «Der Sinn der Welt» von Jean-Luc Nancy (geboren 1940) las, stiess ich auf folgende Passage, die mich elektrisierte, trotz der gespreizten Sprache, zu der sich die französische Philosophie offenbar verpflichtet fühlt. Nancy schreibt:

Was «Totalitarismus» genannt wurde, ist die vollendete Präsentation eines Sinns als Wahrheit: der Mythos also, aber der Mythos als Wirklichkeit, ohne die différance seiner Erzählung. Das unmittelbare Da-Sein des Mythos, oder seine Immanenz. In der faschistischen Version ist die Wahrheit Leben der Gemeinschaft, in der Nazi-Version ist sie Entflammen des Volkes, in der kommunistischen Version ist sie Menschheit, die sich als Menschheit erschafft. Das Leben, das Feuer, die Schöpfung: drei Figuren des vollendeten Sinns, der sich selbst bedeutet und sich restlos in seinem Bedeuteten, ja in seinem Referenten absorbiert – denn die Wahrheit ist hier eine konkrete Punktierung. In dieser Hinsicht muss die Politik Schicksal sein, muss sie die Geschichte als Werdegang, die Souveränität als Emblem und das Opfer als Zugang haben.

Aus: Jean-Luc Nancy, «Der Sinn der Welt».

Nancy erkennt im Faschismus offenbar eine perverse Eschatologie, eine Lehre vom Ende der Zeiten. Zunächst unterscheidet er zwischen Wahrheit und Sinn: Sinn ist die Bewegung auf eine Wahrheit hin, die aber nie erreicht wird und nie erreicht werden darf. Vom Endziel dürfen nur die Mythen erzählen, es darf niemals verwirklicht werden. Das ist das Wesen des politischen Prozesses: Er kann zwar das Leben der Menschen verbessern, aber nie zu einem Ende kommen.

Der Totalitarismus hingegen gaukelt seinen Anhängern vor, die Wahrheit habe sich durchgesetzt und das Ende der Geschichte sei bereits gekommen. Der italienische Faschismus behauptete, die Utopie einer vollkommenen Volks­gemeinschaft sei Wirklichkeit geworden, der National­sozialismus sagte dies von der Utopie des richtigen, intensiven Lebens und der Stalinismus von der Utopie des neuen Menschen. Begriffe wie Endlösung und Endsieg drücken diese Endzeit­verwirklichungs­fantasie aus. Hitler sah das tausend­jährige Reich nicht in der Zukunft, sondern mit der Macht­übernahme bereits begonnen.

Diese eschatologischen Ideologien schaffen die liberale Demokratie ab und ersetzen sie durch eine halluzinatorische Endzeit. An die Stelle des politischen Prozesses wird eine aufgeheizt dauer­erregte Euphorie gesetzt. Diese Stimmung der Bewegung im Stillstand muss beständig aufrechterhalten bleiben, damit der Betrug nicht entlarvt wird. Deshalb sind in diesem pervertierten Endzeit­denken nicht etwa Frieden und Gerechtigkeit, sondern Gewalt und Grausamkeit der Beweis dafür, dass die Erlösung bereits eingetroffen ist: Im messianischen Zeitalter ist das Gesetz abgeschafft – das Paradies braucht keine Gesetze.

Doch genau dieser von Nancy festgestellte Gegensatz von prozesshafter Demokratie und messianischem Faschismus gilt heute nicht mehr. Seit Margaret Thatchers «There is no alternative» und Francis Fukuyamas Buch «Das Ende der Geschichte» von 1992 ist es offiziell (obwohl Fukuyama seine These später zurückzog): Das Ende der Geschichte ist erreicht, es gibt keinen politischen Prozess mehr, die Demokratie ist nur noch die bürokratische Verwaltung der Endzeit. Es ist keine lustvoll-perverse, sondern nur noch eine traurige Eschatologie: Die Endzeit ist gekommen, und so sieht sie aus.

Der leider verstorbene britische Autor Mark Fisher hat in seinem Buch «Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?» auf eindrückliche Weise gezeigt, wie es dem Kapitalismus gelungen ist, die Demokratie zu entpolitisieren, indem er sich selbst als die einzige mögliche Welt darzustellen vermochte. Während die faschistische Propaganda die beste aller möglichen Welten verkündet, behaupten der Kapitalismus und seine Negativ­propaganda nur noch, jede Veränderung führe zum Schlechteren.

Die Schweiz ist dafür ein Parade­beispiel. Sozialer Fortschritt wird immer mit demselben Argument ausgebremst: Dadurch gingen Firmen ins Ausland und Arbeits­plätze verloren. Eine Werte- oder Gerechtigkeits­diskussion wird gar nicht mehr geführt. Es wird lediglich gesagt: Seid vernünftig, es geht nicht anders. Auch dem Post­faschismus fehlt jedes revolutionäre und transgressive Moment, er ist ein bürokratischer Messianismus, eine verwaltete Endzeit, aus der alles Politische eliminiert wird, weil es nur stört.

Nur um ein störungs­freies Existieren zu ermöglichen, wird in Polen die Gewalten­teilung aufgehoben, in Ungarn die freie Presse unterdrückt, Österreich durch einen Junior­kanzler mit führer­artigen Allüren regiert und die Flüchtlinge an Italiens Grenze in den Tod geschickt. Selbst die Fremden­feindlichkeit ist im Vergleich zum alten Faschismus erstaunlich wenig rassistisch. Vom mythologischen Rassen­schwurbel entschlackt, geht es im Grunde nur noch darum, nicht gestört zu werden. Oder besser: nichts zu verlieren.

Der alte Faschismus verwandelt den politischen Prozess in Saturnalien, in ein Fest, das den Endsieg und den Untergang gleicher­massen feierte. Gesetz­losigkeit, Brutalität und Grausamkeit gehörten unbedingt dazu, um das Erregungs­niveau zu halten und zu beweisen, dass die Gesetze der verhassten Demokratie keine Geltung mehr haben. Auschwitz war die Endform davon, die monströse Verschmelzung von mörderischer Gesetz­losigkeit und perfekter Bürokratie.

Der Postfaschismus hingegen ist lediglich die nackte Form der postmodernen, vom Kapitalismus absorbierten und des Politischen entledigten Demokratie.

Man könnte sagen, die alten Faschisten fürchteten den demokratischen politischen Prozess, die neuen haben jegliche Hoffnung in ihn verloren. Wenn wir allerdings die anfangs aufgestellten Kriterien vergleichen, ähneln sich beide in fataler Weise.

Janis Joplins Ballade «Me and Bobby McGee» – «freedom’s just another word for nothin’ left to lose» – könnte nicht nur zur Hymne des Post­faschismus, sondern überhaupt unserer Zeit werden, würde die Klima­jugend die Hoffnung auf eine Rückkehr des Politischen nicht aufrechterhalten.

Illustration: Alex Solman

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