Strassberg

Der Sinn des Lebens

Müssen wir unserer Existenz ein Ziel, einen Zweck vorgeben, um zu wahrer Erfüllung zu gelangen? Die Antwort ist eminent politisch.

Von Daniel Strassberg, 11.05.2021

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Welche Funktion die Milz für den menschlichen Körper habe, will Rudolf Virchow (1821–1902), der berühmte Berliner Pathologe und Sozial­mediziner, vom Kandidaten des medizinischen Staats­examens wissen. Der Kandidat wird bleich, Schweiss perlt auf der Stirn, er rauft sich die Haare, bis er endlich den Satz hervor­pressen kann: «Es tut mir schrecklich leid, Herr Professor, eben wusste ich es noch, leider habe ich es vergessen.» – «O unglückliche Welt!», ruft Virchow aus. «Der einzige Mensch, der je wusste, wofür die Milz gut ist, hat es vergessen.» (Dazu muss man wissen, dass Mitte des 19. Jahr­hunderts die Funktion der Milz noch nicht bekannt war.)

Ähnlich scheint es uns Heutigen mit dem Sinn des Lebens zu ergehen. Es herrscht Einigkeit, dass sich die westliche Welt in einer Sinnkrise befindet. Besonders die Jugend des dekadenten Westens sieht im Leben keinen Sinn mehr und flüchtet sich in Konsum, Drogen, Gewalt, laute Musik, Sex, die virtuelle Welt und schlimmsten­falls in den islamistischen Terror. Alles, weil der Sinn abhanden­gekommen ist.

Offenbar kannten die Menschen früher den Sinn des Lebens, unglücklicher­weise ging er aber verloren, und nun muss er gesucht werden. Auf die Frage, was dieser Sinn denn gewesen sei, bevor er abhanden­kam (und ob man sich die Zeiten des Sinns tatsächlich zurück­wünschen kann), bleibt es seltsam still.

Der Sinn des Lebens ist ein erbaulich-spirituelles Thema, könnte man meinen, zugeschnitten auf die Ratgeber­ecke des Bahnhof­kiosks, aber gänzlich ungeeignet für eine Kolumne, die den Auftrag und den Anspruch hat, Philosophisches politisch zum Einsatz zu bringen. Doch weit gefehlt. Der Sinn des Lebens war immer schon eine eminent politische Angelegenheit – und ist es geblieben.

Das Wort «Sinn» wird in fünf unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht:

  1. Bedeutung (der Sinn eines Satzes)

  2. Richtung (Uhrzeigersinn)

  3. Kohärenz (die Erzählung ergibt keinen Sinn)

  4. Zweck (der Sinn einer elektrischen Sicherung)

  5. Wahrnehmungs­vermögen (Geruchssinn)

Im «Sinn des Lebens» kommen alle Bedeutungs­varianten zum Zug ‒ ausser der fünften, leider, denn aus Geruch lässt sich beim besten Willen kein Sinn ableiten. Die Rede vom Lebens­sinn will zum Ausdruck bringen, dass das Leben eine Richtung und Ziele ausserhalb der eigenen Existenz haben sollte. Viel Geld zu verdienen, gilt nicht als legitimer Lebens­sinn, sich dem Klima­schutz oder der sozialen Gerechtigkeit zu verschreiben, hingegen schon.

Auf der Beerdigung heisst es dann, der Verblichene habe ein erfülltes Leben gehabt. Erfüllt wird ein Leben durch die spirituelle Suche nach der Wahrheit, durch politisches und soziales Engagement, durch eine befriedigende Tätigkeit, durch eine grosse Leidenschaft (für die Oper, das Alphorn oder die Quanten­physik) und vor allem durch Kinder. Das Klischee von den Kindern als Lebens­sinn scheint erstaunlich aufklärungs­resistent. Jedenfalls muss Zeit, Geld und Nerven kosten, was als Lebens­sinn durchgehen will, und zwar möglichst viel.

Für die Höhe der Berge ist die Mühsal ihrer Besteigung durchaus kein Mass­stab. Und in der Wissenschaft soll es anders sein! – sagen uns Einige, die für eingeweiht gelten wollen –, die Mühsal um die Wahrheit soll gerade über den Werth der Wahrheit entscheiden! Diese tolle Moral geht von dem Gedanken aus, dass die «Wahrheiten» eigentlich nichts weiter seien, als Turn­geräthschaften, an denen wir uns wacker müde zu arbeiten hätten, – eine Moral für Athleten und Fest­turner des Geistes.

Aus: Friedrich Nietzsche, «Der Wanderer und sein Schatten», in «Menschliches, Allzumenschliches II».

Mühsal war seit jeher die Bedingung eines erfüllten Lebens, doch früher wurde der Lebens­sinn wenigstens von oben, vom Himmel und von der Obrigkeit, kostenlos zur Verfügung gestellt, niemand brauchte selbst danach zu suchen. Der Sinn stand nämlich in den Sternen geschrieben. Wie dem Seefahrer wiesen die Sterne jedem Einzelnen die Richtung, die er einschlagen soll, sie zeigten ihm den Sinn des Lebens an. Anhand der Stern­bilder überlegte (auf Französisch: considérer) der Astrologe als Experte für Lebens­sinn, wohin die Lebens­reise gehen soll. Siderum ist Lateinisch für Stern: Überlegen hiess demnach, sich an den Sternen zu orientieren, ihre Botschaft zu vernehmen. «Sidereus Nuncius» (1610), die Botschaft der Sterne, ist denn auch der Titel einer der wichtigsten Schriften Galileo Galileis.

Die Kirche, der Astrologie sonst nicht eben freundlich gesinnt, bediente sich ihrer schamlos, wenn es galt, die eigene Botschaft zu verbreiten: Dienet dem Herrn, und dienet den Herren! Das soll euer höchster Sinn sein. Ein Platz im Paradies ist euch dann gewiss! Die Reformation fügte dem Gehorsam noch die harte Arbeit als Zeichen der göttlichen Gnade hinzu.

Dass die Sterne und die Kirche inzwischen die Macht eingebüsst haben, das Ziel des Lebens vorzugeben, macht die Sache keineswegs einfacher, im Gegenteil, es lädt dem Einzelnen eine enorme Bürde auf. Denn nur die höheren Zwecke sind verschwunden, nicht aber das Denken in Zwecken. Die im Grunde religiös-christliche Vorstellung, in der Schöpfung habe alles seinen Zweck, hat überdauert, ohne dass man noch wüsste, was die Zwecke noch sein können.

Es wird zwar keine Unterwerfung mehr unter die himmlische und die irdische Herrschaft verlangt, aber die Forderung nach Unterwerfung unter die Herrschaft des Zwecks, irgend­eines Zwecks, ist geblieben. Was liegt da näher, als das eigene Leben an die Stelle der alten Zwecke zu setzen. Das Ich wird zum Herrscher über das Leben: Alles muss persönlich weiter­bringen, alles muss eine wichtige, intensive Erfahrung vermitteln, alle Tätigkeit muss sinnvoll und erfüllend sein.

Gut kapitalistisch herrscht ein harter Wettbewerb der Zwecke, eine Art Sinn­kontest: Netflix rangiert weit hinter Beethoven-Sonaten. Als wir damals unsere Kinder für die Kita anmelden wollten, noch vor dem Kinder­garten, war auf dem schriftlichen Tages­programm zu lesen: «10 bis 11 Uhr – freies Spiel». Der Rest war wohl hartes Training für ein Leben im Kapitalismus.

Im Jahre 1918 notiert Ludwig Wittgenstein im «Tractatus logico-philo­sophicus» diese rätselhaften Sätze:

6.52 Wir fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebens­probleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.

6.521 Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden des Problems. (Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand?)

Wissenschaftliche Fragen werden beantwortet, indem ein Problem formuliert, eine Methode vorgeschlagen und eine Lösung präsentiert wird. Die Wissenschaft gehorcht mit anderen Worten einer strengen Zweck­rationalität; sie ist lösungs­orientiert, wie das in neudeutschem Manager­sprech heisst. Doch das Leben ist kein Problem, das wissenschaftlich gelöst werden kann; man kann den Sinn des Lebens nicht so suchen, wie man die chemische Formel von Wasser oder die Ladung eines Elektrons sucht, meint Wittgen­stein. Man kann das Problem des Lebens höchstens zum Verschwinden bringen, indem man aufhört, nach seinem Sinn zu suchen.

So verstehe ich Wittgenstein: Das Leben ist keine Fahrt, bei der man zu Anfang das Ziel ins Navi eintippt und danach bloss noch einer nerv­tötenden Stimme zu folgen braucht. Das Leben fährt man auf Sicht, die nächsten Dinge sind die Wegmarken:

Es giebt eine erheuchelte Missachtung aller der Dinge, welche thatsächlich die Menschen am wichtigsten nehmen, aller nächsten Dinge. Man sagt zum Beispiel «man isst nur, um zu leben», – eine verfluchte Lüge, wie jene, welche von der Kinder­zeugung als der eigentlichen Absicht aller Wollust redet.

Aus: Friedrich Nietzsche, «Der Wanderer und sein Schatten», in «Menschliches, Allzumenschliches II».

Man soll sich nicht über die Zwecke belügen und dafür vermehrt auf die nächsten Dinge achten. Darin scheinen sich Nietzsche und Wittgenstein einig zu sein. Lehren nicht all die Achtsamkeits­seminare und spirituellen Wochen­enden, die allerorts angeboten werden, genau dasselbe? Mitnichten. Sie sind das pure Gegenteil, sie sind die spirituelle Tapete des Kapitalismus. Sauber in Portionen verpackt, lässt noch der Widerstand sich vermarkten und den Zwecken unterwerfen. Achtsamkeit für das Wohl­befinden und die Gesundheit: Lebens­sinn auf Kranken­schein (Zusatz­versicherung).

Was bleibt noch? Das ziellose Flanieren, meint Walter Benjamin im unvollendet gebliebenen «Das Passagen-Werk», sei die einzige Form des Wider­stands, die noch geblieben sei: «Der Müssig­gang des Flaneurs ist eine Demonstration gegen die Arbeitsteilung.»

Der Rausch des ziellosen Flanierens verhindert, ähnlich dem des Haschisch­rauchers, dass man sich der Logik des Konsums unterwerfen kann. Nicht um des Wohl­befindens willen, auch nicht um die 10’000 Schritte pro Tag zu gehen, welche die App fordert, sondern um die Wahrnehmung zu verändern:

Ein Rausch kommt über den, der lange ohne Ziel durch Strassen marschierte. Das Gehn gewinnt mit jedem Schritte wachsende Gewalt; immer geringer werden die Verführungen der Läden, der Bistros, der lächelnden Frauen, immer unwiderstehlicher der Magnetismus der nächsten Strassen­ecke, einer fernen Masse Laubes, eines Strassen­namens. Dann kommt der Hunger. Er will nichts von den hundert Möglichkeiten, ihn zu stillen, wissen. Wie ein asketisches Tier streicht er durch unbekannte Viertel, bis er in tiefster Erschöpfung auf seinem Zimmer, das ihn befremdet, kalt zu sich einlässt, zusammensinkt.

Aus: Walter Benjamin, «Das Passagen-Werk».

Illustration: Alex Solman

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