Zettelwirtschaft
Dass Firmen die Kompetenzen von Bewerbern einschätzen wollen, ist verständlich. Aber dass sie dabei so fixiert auf Diplome sind, ist unnötig und unsympathisch. Und es wird schlimmer. «Humane Ressourcen», Folge 6.
Von Reto Hunziker (Text) und AHAOK (Illustration), 25.05.2021
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Wer sich einen neuen Staubsauger zulegen und dabei nichts falsch machen will, der vergleicht im Voraus mögliche Kandidaten. Saugkraft, Langlebigkeit, Handling und natürlich Preis – welches Modell hat was zu bieten? Im direkten Konkurrenzvergleich wird ein Favorit ausgemacht – und schliesslich gekauft. Das ist effizient, das ist verlässlich, das ist rational.
Was bei Staubsaugern funktioniert und in Ordnung ist, wird Menschen jedoch nicht gerecht. Wir sind keine Roboter, die sich nüchtern vermessen lassen. Trotzdem scheint der Rekrutierungsprozess immer weiter Richtung Berechenbarkeit zu driften. Richtung effizientem, vernünftigem Faktenabgleich.
Sehr gut sichtbar wird das am Beispiel Diplome und Weiterbildungen. Für jede Tätigkeit wünscht sich der Arbeitgeber ein Zertifikat – so wirkt es zumindest, wenn man Stelleninserate betrachtet. Als könnte nur eine Bescheinigung garantieren, dass die Kandidatin kompetent ist.
Ein Jahr ohne Stelle
So bewirbt sich etwa ein junger Mann als Online-Marketing-Manager, obwohl er keine Aus- oder Weiterbildung in dem Bereich hat und «nur» über Praxiswissen verfügt, das er sich autodidaktisch erarbeitet hat. Das mag auf Anhieb nicht sehr überzeugend wirken, aber wer ihm ein paar Minuten über die Schultern schaut oder seinen Ausführungen lauscht, merkt schnell, dass sich seine Begeisterung für das Online-Marketing längst in Form von Kompetenz manifestiert hat. Dennoch bleibt er auch nach einem Jahr Jobsuche ohne Stelle, denn – hier gilt wiederum der alte Zopf – ohne Erfahrung kein Einstieg.
Anderes Beispiel: Eine Frau Mitte 30 hat in einem KMU als Administratorin jahrelang auch Social-Media-Aufgaben übernommen. Das KMU geht pleite, die Frau möchte weiterhin im Bereich Social Media arbeiten. Doch weil es von Mitbewerbenden nur so wimmelt und die meisten eine Aus- oder Weiterbildung vorweisen können, sieht sie sich fast gezwungen mitzuziehen. Obwohl sie das nötige Fach- und Erfahrungswissen bereits mitbringt.
Es ist verständlich, dass sich Arbeitgeber harte Fakten wünschen. Sie erleichtern den Vergleich (wie bei den Staubsaugern). Doch Quereinsteigerinnen, Autodidakten, junge talentierte Tüftlerinnen kommen so erst gar nicht in die engere Auswahl – obwohl sie vielleicht motivierter oder bewandter wären als der Durchschnitt.
Wie liesse sich der Bewerbungsprozess entstauben? Die Jobvermittlung auf dem Arbeitsamt weniger bürokratisch gestalten? Der Stellensuche ihren Schrecken nehmen? Jobcoach Reto Hunziker geht in zehn Beiträgen der Frage nach, welche Fehler die verschiedenen Beteiligten – Firmen, Bewerberinnen, Ämter – immer wieder machen und wie ein humaner Stellenmarkt funktionieren könnte. Hier finden Sie den Auftakt mit den grundlegenden Fragen.
Ihre Inputs nimmt Reto Hunziker gerne auf. Was haben Sie auf dem Stellenmarkt erlebt? Mit welchen Schwierigkeiten sind Sie konfrontiert? Welche Fragen stellen Sie sich? Schreiben Sie es ins Dialogforum.
Die langfristige Folge: eine Normierung der Bewerbenden und ihrer Curricula. Zickzack-Lebensläufe? Sterben aus. Soft Skills? Werden systematisch unterschlagen.
An die Diplome krallen
Für Stefan Wolter, Direktor der Schweizer Koordinationsstelle für Bildungsforschung, sind Diplome legitime «Informationsverdichtungen, die dazu dienen, dass Arbeitgeber wissen, was sie bekommen, und potenzielle Arbeitnehmende sich nicht mühsam beweisen müssen, sondern eben einfach den Nachweis erbringen können, dass sie über die geforderten Fähigkeiten und Kompetenzen verfügen». Problematisch werde es nur dort, «wo Diplome diesen Informationscharakter verlieren» (man spricht dann etwa von Titelinflation) oder «wenn Personen, die eigentlich die Kompetenzen hätten, nicht aber das Diplom, beim HR schon aus dem Rekrutierungsprozess fallen». Nach dieser Definition dürften wir längst in einem problematischen Bereich sein.
«Die Arbeitgeber sind schon sehr zahlen- und zettelfixiert», bestätigt ein HR-Fachmann. Ein anderer befürchtet, dass «zirka 90 Prozent der Unternehmen auf dieser Welt noch heute ineffektiv rekrutieren; weil die Diplome hier eine verlässliche Orientierung darstellen, krallen sie sich daran». Es brauche darum ein Umdenken, bereits am Anfang des Rekrutierungsprozesses. «Damit erst gar keine 150 bis 200 Bewerbungen eingehen – zumal es nie eine Möglichkeit geben wird, unter 200 Menschen die richtige Person fair auszuwählen und gleichzeitig allen gerecht zu werden.»
Hinzu kommt, dass der (Weiter-)Bildungswettbewerb soziale Ungerechtigkeit verschärft: Je höher der Abschluss, desto eher bildet sich jemand weiter. Der Weiterbildungswahn vergrössert also die Kluft zwischen Qualifizierten und Nichtqualifizierten. Während von jenen mit obligatorischer Schulbildung 2016 nur 40 Prozent eine Weiterbildung absolvierten, waren es 80 Prozent bei jenen mit Tertiärabschluss. Und weil Weiterbildungen teuer sind, wird zudem der Graben zwischen Arm und Reich tiefer. Auch als Burn-out-Faktor dürfte die Jagd nach Scheinen nicht zu unterschätzen sein.
Trotzdem ist zu befürchten, dass sich die Fokussierung auf Zertifikate noch zuspitzen wird. Denn im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung wird vermehrt mit Anpassungsfähigkeit und lebenslangem Lernen argumentiert. Der Wandel zwingt uns dazu, ebenfalls in Bewegung zu bleiben. Zumal sich die Anforderungen schnell ändern können, ganze Berufe automatisiert und Sektoren obsolet werden.
Die Bildungsinstitutionen stehen längst bereit. Es besteht fast schon ein Überangebot an Weiterbildungen. Thomas Daum, damaliger Direktor des Arbeitgeberverbands, warnte bereits 2011 in der «SonntagsZeitung» vor einer «Diplominflation», bei der es «für jede Fingerbewegung ein Diplom» gebe.
Eine Frage der Haltung
Zugegeben, es ist nicht ganz einfach, dem Diplom-Tunnelblick zu entgehen. Zumal die Alternativen aufwändig – und damit teuer – sind. Assessments, ausgeklügelte Fragebögen, Persönlichkeitstests, mehrere ausführliche Gespräche, Probearbeiten, spielerische Auswahlverfahren (Stichwort: Gamification). Alles keine Kleinigkeit, klar. Aber ein bisschen mehr Einfallsreichtum und Innovation, die nicht in Richtung Automatisierung gehen, dürfte man dennoch von den Arbeitgeberinnen erwarten.
Vielleicht ist es auch eine Frage der Haltung: Müsste statt eines möglichst kostengünstigen Auswahlprozesses nicht das Potenzial und die Motivation von Kandidaten im Zentrum stehen? Wie viel sagt ein Diplom tatsächlich über Kompetenz und Fähigkeit eines Menschen aus? Ist im Berufsleben nicht das Erfahrungskönnen höher zu gewichten? Während die meisten Arbeitgeberinnen in Kauf zu nehmen scheinen, dass sie wertvolle potenzielle Mitarbeiter übersehen, steuern ein paar wenige gegen den Trend.
Es ist klar, dass wir uns alle weiterentwickeln müssen. Sich auf den Lorbeeren der Erstausbildung auszuruhen, liegt heute nicht mehr drin, die Aktualität des Wissens ist zentral. Und trotzdem ist der Mensch kein Betriebsprogramm, zu dem man regelmässig und endlos Updates runterladen kann. Unsere natürliche Intelligenz funktioniert so, dass wir on the job am besten dazulernen.
Statt sich an Scheine zu klammern, sollten Arbeitgeberinnen feinfühliger und erfinderischer darin werden, die Kompetenzen ihrer Mitarbeiter zu eruieren. Ergebnisoffener und mutiger rekrutieren – und danach ihre Leute fördern. Zumal die Qualität einer Mitarbeiterin weder nur in der Anhäufung ihrer Zertifikate noch ihrer Erfahrungen zu sehen ist, sondern auch in ihrem Ausbaupotenzial. Das haben wir den Staubsaugern voraus.
Wider den Diplomwahn: Das könnte helfen
1. Stärken kommunizieren: Solange wir Arbeitgebern keine Anhaltspunkte liefern, klammern diese sich an Zertifikate. Darum: Präsentieren Sie, was Sie können – zum Beispiel in einem Kurzprofil im Lebenslauf.
2. Transparenz: Haben Sie ein gewünschtes Diplom für eine Stelle nicht, kommunizieren Sie dies offen im Motivationsschreiben. Erläutern Sie aber unbedingt, warum sie trotzdem geeignet sind.
3. Mit Arbeitsproben punkten: Wenn Sie sich mit guten Ideen oder einem kuratierten Portfolio bewerben, ist das benötigte Diplom vielleicht gar nicht mehr so wichtig.