Binswanger

Bye-bye Steuerparadies

US-Präsident Joe Biden will Gewinne globaler Konzerne weltweit zum gleichen Satz versteuern. Für das parasitäre Schweizer Dumping­modell dürfte das einschneidende Konsequenzen haben.

Von Daniel Binswanger, 10.04.2021

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Erinnern Sie sich an den Tod des Schweizer Bank­geheimnisses? An jenen folgenschweren Freitag, den 13. im März 2009, als Finanz­minister Hans-Rudolf Merz vor die Medien trat, um offiziell zu erklären, dass «die Schweiz den OECD-Standard in Steuer­sachen übernehmen will»? Derselbe Merz, der noch im März 2008 lauthals verkündete, das Ausland werde sich «am Schweizer Bank­geheimnis die Zähne ausbeissen»? Jetzt ist ein guter Moment, um sich dieses nicht besonders glanzvolle Kapitel der Schweizer Standort­politik in Erinnerung zu rufen. Die Geschichte steht gerade im Begriff, sich zu wiederholen.

Was ist damals geschehen? Schon seit langen Jahren wurde von der OECD, der EU und von verschiedenen Staaten starker Druck auf die Schweiz ausgeübt, weil es offenkundig war, dass das Bank­geheimnis eine parasitäre Wettbewerbs­verzerrung darstellt und irgendwann würde fallen müssen. Der Schweiz gelang es aber stets, mit wechselnden Verbündeten seine Preisgabe weiter hinaus­zuzögern. Dann kam die Finanz­krise, die Staats­schulden rund um den Globus stiegen sprunghaft an, in den USA wurde ein Demokrat zum Präsidenten gewählt – und plötzlich gab es kein Halten mehr.

Bye-bye Bankgeheimnis!

Und heute? Schon seit langen Jahren wird von der OECD, der EU und von verschiedenen Staaten starker Druck ausgeübt, weil es offenkundig ist, dass die Steuer­umgehung durch Gross­konzerne eine parasitäre Wettbewerbs­verzerrung darstellt, dass ihr irgendwann ein Ende bereitet werden muss und dass eine gewisse Harmonisierung der Gewinn­steuer­sätze etabliert werden wird. In der Kritik stehen insbesondere Staaten, die mit Tiefst­steuer­sätzen internationale Konzerne dazu bringen, ihre Gewinne zu ihnen zu transferieren – also Steuer­paradiese wie die Schweiz. Die Gewinn­steuer­harmonisierung konnte jedoch von wechselnden Allianzen stets immer weiter hinaus­gezögert werden.

Doch dann kam die Covid-Krise, die Staats­schulden rund um den Globus stiegen sprunghaft an, in den USA ist ein demokratischer Präsident gewählt worden – und plötzlich gibt es kein Halten mehr. Bye-bye Steuerparadies!

Noch etwas seltsamer als damals der bedauerliche Hans-Rudolf Merz steht nun allerdings das Führungs­personal der bürgerlichen Parteien in der politischen Landschaft: Vor noch nicht einmal zwei Jahren hat der Schweizer Souverän über die sogenannte Staf-Vorlage – das Bundes­gesetz über die Steuer­reform und die AHV-Finanzierung – abgestimmt, die bekanntlich ein Tausch­geschäft war. Die Bürgerlichen machten Konzessionen bei der AHV-Finanzierung, weil die SP im Gegenzug eine generelle Gewinn­steuer­senkung mittrug, die das Steuer­paradies Schweiz mit den von der EU eingeklagten Standards kompatibel machen und der Ungleich­behandlung von inländischen und ausländischen Firmen ein Ende setzen sollte.

Am Schweizer Gewinn­steuer­dumping, so der Plan von 2019, sollte das Ausland sich noch die Zähne ausbeissen. Resultat? Die AHV-Finanzierung wird bleiben. Die Steuer­reform dürfte Geschichte sein. Wer unfähig ist, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.

Zugegeben: Noch sind viele Fragen offen. Wie Bidens Finanz­ministerin Janet Yellen am Montag ankündigte, wollen die USA im Rahmen der OECD dafür plädieren, dass für grosse Konzerne international eine Gewinn­steuer von mindestens 21 Prozent durchgesetzt wird. Bisher wurde im Rahmen der OECD über einen Mindest­steuersatz von um die 12 Prozent verhandelt – das heisst über eine Harmonisierung auf so tiefem Niveau, dass sie letztlich eine Pseudo­reform dargestellt hätte. 21 Prozent hingegen würden das Geschäfts­modell der Steuer­paradiese vollkommen über den Haufen werfen.

Denkbar ist, dass ein so hoher Satz letztlich nicht konsens­fähig wird und dass man sich auf eine Unter­grenze irgendwo dazwischen einigen wird. Auch ein Gewinn­steuer­satz in mittlerer Höhe wäre für die Schweiz jedoch ein fundamentaler Einschnitt. Sie wird ihre Gewinn­steuern kräftig anheben müssen – und sie wird massiv vom inter­nationalen Steuer­substrat verlieren, das sie über die letzten zwei Jahrzehnte angezogen hat.

Man muss sich die gigantischen Dimensionen vor Augen führen, welche das Steuer­vermeidungs­geschäft in unserer paradiesischen Alpen­republik inzwischen angenommen hat. Im Jahr 2017 – um auf die jüngsten von der Eidgenössischen Steuer­verwaltung publizierten Daten zurückzugreifen – betrug die Summe der in der Schweiz versteuerten Reingewinne zu laufenden Preisen rund 450 Milliarden Franken. Im Jahr 2000 waren es etwas weniger als 150 Milliarden Franken: eine Verdreifachung in 17 Jahren.

Das BIP betrug im Jahr 2017 zu laufenden Preisen knapp 700 Milliarden, im Jahr 2000 etwa 470 Milliarden: eine Veranderthalb­fachung. Eigentlich sollten die Wirtschafts­leistung und die Gewinn­steuer­basis der Schweiz im selben Tempo wachsen, aber die ausgewiesenen Gewinne sind explodiert – weil sie gar nie in der Schweiz erwirtschaftet wurden.

Dieses parasitäre Geschäfts­modell – die Gewinne, die zu uns abfliessen, fehlen den anderen Ländern – muss nun grundsätzlich revidiert werden. Die Eidgenossenschaft wird die Gewinn­steuer­harmonisierung überleben, genauso wie sie das Ende des Bank­geheimnisses überlebt hat. Und in globaler Perspektive ist der neue Wille zu Kooperation eine gute Nachricht.

Joe Bidens Steuerpläne sind ein weiteres Zeichen für den eigentlichen Epochen­wechsel, den seine Präsidentschaft einzuleiten scheint. Die heutige forcierte Fiskal­konkurrenz ist eines der gravierendsten Symptome einer politisch nicht beherrschbaren, destruktiv gewordenen Globalisierung. Sie raubt den Staaten die Möglichkeit, handlungs­fähig zu bleiben, ihre Funktion zu erfüllen und sich vernünftig zu finanzieren. Sie verstärkt die Ungleichheit in doppelter Hinsicht: zum einen, weil sie die Unternehmens­gewinne aufbläht, was primär den Aktien­besitzern und damit der obersten Einkommens­schicht zugute­kommt. Die explodierende Ungleichheit in den USA hat auch etwas zu tun mit der Schweizer Standort­politik.

Zum anderen, weil die Bemessung der Gewinn­steuern einen Einfluss darauf hat, wie hoch die obersten Einkommens­steuer­sätze sein können. Ist der Abstand zwischen Gewinn­steuern und Einkommens­steuern nämlich zu gross, beginnen sich Selbstständig­erwerbende in Ich-AGs zu verwandeln und ihr Einkommen nicht mehr als Lohn, sondern als Gewinn auszuweisen. Angemessene Gewinn­steuern sind ein Kernelement eines austarierten Steuer­systems – wie das die in Berkeley lehrenden Ökonomen Emmanuel Saez und Gabriel Zucman bereits 2019 in einer grundlegenden Studie dargelegt haben, die nicht ohne Einfluss geblieben sein dürfte auf den Biden-Plan. Deshalb ist es von epochaler Bedeutung, wenn es der US-Regierung nun gelingt, dem race to the bottom ein Ende zu setzen. Die Zeit scheint reif.

Es sollte nicht vergessen werden, dass bereits die Trump-Administration Anstrengungen dazu unternahm, die delokalisierten Gewinne amerikanischer Unter­nehmen zu repatriieren. Natürlich hat die Trump-Regierung die Steuern gesenkt und nicht erhöht. Sie wollte sich nicht mit internationaler Kooperation, sondern mit «America first»-Rezepten helfen. Dennoch darf nicht unterschätzt werden, wie parteien­übergreifend der Konsens darüber ist, dass die internationale Steuer­ordnung grundlegend revidiert werden muss. Jetzt residiert im Weissen Haus ein Präsident, der wild entschlossen ist, einen eigentlichen Paradigmen­wechsel einzuleiten – und der auch über eine hauchdünne Senats­mehrheit verfügt, um fundamentale Reformen durchzusetzen.

Nebst der Höhe des internationalen Gewinn­steuer­mindestsatzes wird in den nächsten Monaten auch zur Debatte stehen, nach welcher Massgabe ein Land einen Teil der globalen Gewinne eines Konzerns besteuern kann. Im heutigen System werden die Gewinne dort versteuert, wo sie ausgewiesen werden – wodurch Unternehmen einen starken Anreiz haben, die Gewinne in Niedrigsteuer­länder zu verschieben. Dieser Anreiz kann durchbrochen werden, wenn die Unter­nehmen künftig die Steuern, die sie in einem Steuer­paradies «gespart» haben, in dem Land abliefern müssen, in dem ihr Hauptsitz liegt.

Diese Lösung adressiert jedoch nicht das Problem, dass Gewinne auch da versteuert werden sollten, wo sie erwirtschaftet werden. Wenn Google künftig in den USA hohe Zusatz­steuern bezahlen muss, weil es in anderen Teilen der Welt seine Gewinne erfolgreich am Fiskus vorbei­manövriert, verändert sich für europäische Staaten wie Deutschland oder Frankreich nur wenig. Wenn diese Zusatz­steuern jedoch proportional an diejenigen Staaten gehen, auf deren Territorien Google auch seine Umsätze macht, entsteht ein viel grund­sätzlicherer Ausgleich.

Für die Schweiz wird die neue Fiskal­ordnung noch aus einem weiteren Grund heraus­fordernd werden. Nach dem aktuellen Vorschlag der Biden-Regierung sollen davon nur Gross­konzerne betroffen sein. Am intensivsten wird die Steuer­vermeidung von den Big-Tech-Konzernen, der Pharma und den Grossbanken betrieben. Gleich zwei der Schweizer Schlüssel­sektoren dürften also eine starke Steigerung der Steuerlast zu gewärtigen haben. Das wird die Gewinne drücken, sollte aber verkraftbar sein: Der Konkurrenz wird es nicht anders ergehen.

Ist die Schweiz gerüstet für die neue Standort­konkurrenz, die nun hoffentlich eine Realität werden wird? Eine Konkurrenz nicht der Dumping­steuersätze, sondern der Arbeits­produktivität, der Bildungs­systeme, der Forschungs­standorte, der Infra­struktur, der Verkehrs­anbindung, des Kultur­angebots, der Lebens­qualität? Wir haben exzellente Karten, aber wir brauchen einen Plan. Das defensive Navigieren auf Sicht muss ein Ende haben. Sonst werden wir uns die Zähne ausbeissen.

Illustration: Alex Solman

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