Ist da noch jemand über mir? Joseph Beuys 1974 in Schottland. Archiv Robert Lebeck

Stets zu Diensten: Joseph Beuys

Zum hundertsten Geburtstag wird der Ökopionier und Bürgerschreck tüchtig gefeiert. Hoch kontrovers diskutiert wird weiterhin auch sein Verhältnis zur NS-Vergangenheit. Zu Recht?

Von Antje Stahl, 09.04.2021

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Seitdem ich die Kunstgeschichte für mich entdeckte, hängt an meinem Kühlschrank eine gelbe Postkarte, auf der in Handschrift geschrieben steht: «Wer nicht denken will, fliegt raus (sich selbst).» Im Gegensatz zu einem Kaffee­becher mit einem Keith-Haring-Strich­männchen drauf hielt ich diese Postkarte immer für einen ganz okayen Dekoartikel, da sie für einen pseudo­intellektuellen Anstrich in meinem Haushalt sorgte – und darüber hinaus für ein ganz okayes Motto, um einiger­massen unbeschadet durch die Welt zu kommen. Auch wenn der Künstler, der diesen Aphorismus raushaute, der Herr Joseph Beuys, als super guilty pleasure einzustufen ist.

Hundert Jahre alt würde er am 12. Mai, davon haben Sie vermutlich schon gehört? Das Ministerium für Kultur und Wissenschaft von Nordrhein-Westfalen nahm immerhin rund 2 Millionen Euro in die Hand, damit die Institutionen des deutschen Bundes­landes and beyond den runden Geburtstag des Künstlers mit Ausstellungen und Ring­vorlesungen auch ja gebührend feiern – und alle Medien (die Republik hiermit eingeschlossen) fleissig darüber berichten.

Einst verdammt, jetzt vereinnahmt

Ein wenig genervt war ich schon von diesem Gratulations­getöse, das möchte ich gar nicht leugnen: Wer fühlt sich denn schon gern wie einer der Lemminge, die sich brav auf alles stürzen, was ihnen die Kultur­politik vor die Füsse wirft? Abgesehen davon, dass Jubiläums­feiern ohnehin immer nerven, hat auch noch Armin Laschet, der Minister­präsident von Nordrhein-Westfalen, Bundes­vorsitzender der CDU und möglicher Kanzler­kandidat, die Schirm­herrschaft für das kleingeschriebene Jubiläum namens beuys 2021 übernommen. Wer sich darauf einlässt, Beuys’ zu gedenken, läuft damit gleich doppelt Gefahr: seinen Artikel in den Dienst von Presse­abteilungen und einer deutschen Regierungs­partei zu stellen.

Andererseits scheint aber genau das eine der wenigen angemessenen Rampen zu sein, um sich ebenfalls einzumischen. Beuys war nun einmal einer der lautesten, einfluss­reichsten Künstler der deutschen Nach­kriegs­zeit – das hat nicht nur mit der ästhetischen Radikalität seines Werks, sondern auch mit seinem politischen Taten­drang zu tun. Wenn er nun definitiv zum Traditions­gut entschärft werden soll, ist es wohl angebracht, der Politik den Spiegel vorzuhalten und heraus­zufinden, welche Seiten dieses Vorzeige­künstlers für welche Zwecke instrumentalisiert werden sollen.

Im Wesentlichen sind es drei Grundzüge, die bis heute die Beuys-Legacy bestimmen: Er war erstens das Enfant terrible, das zur Freude und zum Hass sehr vieler Menschen den konservativen Kunst­betrieb auseinander­pflückte; zweitens der politische Revolutionär, Ökoaktivist und Mitbegründer der Grünen, dessen politisches Programm mittler­weile auch einstige Feinde gerne für sich reklamieren; und drittens gilt er als der grosse Verklärer der deutschen NS-Schuld, dem nun allerdings – und das sind, wie wir sehen werden, News – ein Kunst­historiker­kollege aus der Schweiz zur Rettung eilt.

Alle diese Aspekte sind selbstredend miteinander verschränkt. Beginnen wir deshalb mit dem naheliegenden: der schönen Verehrung, der Hommage.

Sie wurde zuletzt vom Regisseur Andres Veiel in Szene gesetzt, sein Dokumentar­film über Joseph Beuys kam 2017 heraus und erhielt sogar einige Preise. Auch wenn die eine oder andere Kollegin ihn dafür kritisierte, dass er viel zu nah an seinem Protagonisten dran gewesen sei und den alten Mythos des genialen Künstlers, der sich aufopfert, um die Gesellschaft gleich von allen Übeln – Kapitalismus, Umwelt­verschmutzung, Konsum – zu befreien, so hemmungslos bediene, wie das selbst die ganz fanatischen Kunst­geschichte-Fans eigentlich schon lange nicht mehr tun.

Zum Dokumentarfilm «Beuys»

In der Reihe «Dokdown» zeigt die Republik den Dokumentarfilm von Andres Veiel über Joseph Beuys. Er ist bis zum 23.04.2021 verfügbar. Hier gehts zum Film.

Ganz unberechtigt ist diese Kritik nicht, wie ich selber feststellen musste. Nach etwas über hundert Minuten Dokuspiel­filmzeit war ich nämlich so hingerissen von den hellen, wachen Augen dieses Künstlers und seinen endlosen Reden, dass ich fast den Glauben an das gesellschafts­verändernde Potenzial der Kunst zurückgewann. In der Einsamkeit dieser nicht enden wollenden Homeoffice-Zeiten reissen einen Beuys’ Angriffe auf die Verwaltungs­politik von Hochschulen und staatlichen Behörden, sein ganzes lautstarkes politisches Engagement, das Veiel sehr schön dokumentiert, tatsächlich mit. Und sie lassen ganz nebenbei die Schirm­herrschaft von CDU-Mann Laschet wie eine ziemlich absurde Ironie des Schicksals erscheinen.

Es war zwar ein SPD-Minister, Johannes Rau, der Beuys im Oktober 1972 fristlos aus dem Staats­dienst als Professor an der Kunst­akademie in Düsseldorf entliess. Aber die Grenzen zum konservativen Bürgertum verliefen damals eben noch entlang von politischen Inhalten, weshalb auch ein SPD-Vertreter sich schnell einmal im anderen Lager wieder­finden konnte.

Die Grünen und die 7000 Eichen

Beuys hatte es gewagt, im Rückenwind der 68er-Bewegung die Zulassungs­beschränkungen für Studierende infrage zu stellen und alle in seine Klasse aufzunehmen, die sich an der Akademie beworben hatten. Er sah nicht ein, dass Bürokraten über die Zukunft der Kunst entscheiden sollten, und forderte, das Hochschul­wesen bedingungs­los zu demokratisieren.

Zwischenzeitlich kam es daher zu Tumulten im Studien­sekretariat, von denen wir in Corona-Zeiten nur so träumen können, und Beuys wurde öffentlichkeits­wirksam von Polizisten hinaus­katapultiert. Noch im selben Jahr verklagte er das Land, gewann nach mehreren Instanzen im April 1978 sogar den Prozess und durfte sich weiterhin Professor nennen.

Es muss grüner werden: Im Rahmen der Documenta 7 konnten 1982 Eichen erworben werden, die in der Stadt Kassel gepflanzt wurden … Niklaus Stauss/keystone
… jeweils zusammen mit Basaltblöcken. Die letzte Eiche wurde fünf Jahre später an der Documenta 8 gepflanzt. Niklaus Stauss/keystone

Ein Jahr später war Joseph Beuys dann auch noch mit dabei, eine «Sonstige politische Vereinigung – Die Grünen» aufzustellen, um das Europa­parlament und die alte Bundes­republik mit Fragen rund um den Umwelt­schutz, die nukleare Abrüstung und die Grenzen des Wachstums zu bedrängen. Wenn im künstlerischen Kosmos von Beuys etwas wachsen und gedeihen sollte, dann waren es höchstens die 7000 Eichen, die er im Rahmen der Gross­ausstellung Documenta im Jahr 1982 bekanntlich eigenhändig in Kassel zu pflanzen begann.

Aus allseits bekannten Gründen (Pandemie) konnte ich mir leider kein eigenes Bild von dieser «Stadt­verwaldung statt Stadt­verwaltung» machen, für die Beuys damals kämpfte. Ein guter Freund aus Studien­zeiten, der in Kassel lebt, schickte mir dafür Fotos von den mittlerweile hoch gewachsenen Bäumen und den Steinen, die Beuys den Setzlingen zur Seite stellte.

Damals wirkten diese Steinstelen noch schwer und mächtig neben den jungen Pflanzen, heute stellen hingegen die Bäume sie so sehr in den Schatten, dass das von der Klimakrise erschütterte Herz tatsächlich wieder Hoffnung auf eine bessere Zukunft schöpft, in der die Natur auch über menschen­gemachtes Sperrgut siegen könnte – Beton oder Plastikmüll zum Beispiel. Joseph Beuys war offensichtlich nicht einfach nur ein Hippie mit grünem Herzen, sondern ein Künstler, der die Begrünung der tristen Strassen einer vom Krieg gebeutelten Stadt ästhetisch zu verdichten verstand.

Fettes «La La La»

Schon recht früh hatte Beuys seine Gefolgschaft der Avantgarde-Bewegung des sogenannten Fluxus angekündigt, für die das Ölgemälde von der Wand und die Skulptur vom Sockel gerissen gehörte. Im Jahr 1963 trat er in einem Stall im westdeutschen Hinter­land, in dem kleinen Dörfchen Kranenburg am unteren Nieder­rhein, mit einer Ausstellung in Erscheinung, für die er «niedere, unbedeutende ‹Werkchen› in die Position des Jesuskindes in der Krippe» stellte und von leibhaftigen Schweinen und Rindern betrachten liess, wie sein Weggefährte Bazon Brock festhielt. Beuys benutzte dazu Materialien wie Karton, Wachs oder Bimsstein. In winzig kleine Tonstücke ritzte er «La La La» ein, was ganz im Sinne der Dada-artigen Aktionen von Fluxus-Gefährten wie George Maciunas oder Nam June Paik war.

Noch im selben Jahr liess er auf einem Konzert dann zwei mechanische Spielzeug-Harlekine auftreten, die an seiner statt die Trommel schlugen. Und er fing an, mit Fett herum­zufuhrwerken, einem Material, das sich ebenfalls den Fängen des konservativen Kunst­geschmacks entzog – woran sich hierzulande vor allem die Berner mit leichten Fremdschäm-Anfällen zurück­erinnern dürften.

Im Jahr 1969 nämlich hatte der Kurator Harald Szeemann die Besucherinnen der Berner Kunsthalle in der Ausstellung «When Attitudes Become Form» mit einer ganzen Reihe von künstlerischen Positionen aufgebracht: Da wurde der Asphalt vor dem Eingang gesprengt (Michael Heizer), flüssiges Blei in die dahinter­liegende Eingangs­halle gekippt (Richard Serra) und der Verputz im Treppen­haus heraus­geschält (Lawrence Weiner).

Beuys schmierte die Ecken und Fuss­leisten mit Fett voll, was den Vorstand des Kunsthalle-Vereins so nachhaltig verstörte, dass er eine weitere Ausstellung, die Szeemann mit ihm plante, verhinderte. «Wir machen lieber zu, als noch einmal Beuys zu zeigen», stand in einer Presse­mitteilung. Beuys, der Bürger­schreck, war eben der Verfechter einer kompromiss­losen Ästhetik.

Avantgarde des Greenwashing

Besonders in den 7000 Eichen erkennen seine Fans daher gerne eine radikale Begriffs­erweiterung des sogenannten Readymade, das Marcel Duchamp Anfang des 20. Jahrhunderts in die Kunst­geschichte einführte, um sowohl das hart erlernte Kunst­handwerk als auch die schöne Form zum Teufel zu jagen. (Sie wissen schon: das Pissoir, das Duchamp mit dem Pseudonym R. Mutt signierte und 1917 als Spring­brunnen in New York ausstellte.)

Beuys bezeichnete seine Werke gerne als «soziale Plastik», erklärte mit anderen Worten den gesamten Vorgang des Bäume­pflanzens und -wachsen­lassens zur Kunst. Allerdings musste er sich, um seinen zerstreuten Wald finanzieren zu können, in Japan für eine Whisky-Werbung vor die Kamera stellen, womit das ach so marktferne Kunst­verständnis, das dem Fluxus und seinen Aktionen zugrunde liegen sollte, etwas in Schieflage geriet.

Aber wer wollte fast ein halbes Jahrhundert später noch davon ausgehen, dass etwas jenseits des Marktes und des Geldes zu stemmen sei? Inzwischen haben ja alle möglichen Firmen, durchaus auch profit­orientierte, vom Discounter über das Bau­unternehmen bis hin zum Ölkonzern, das sogenannte Greenwashing für sich entdeckt, das heisst natur­freundliche Massnahmen, mit denen sie sich von ihrem eigentlichen ökologischen Fuss­abdruck freizukaufen versuchen.

Im Spiegel ihres Einflusses wirken alle, die sich heute für die Baum­pflanzerei als Waffe gegen die Erdverpestung begeistern, immer ein wenig wie hilflose Kleingärtner. Aber wer, wenn nicht die CDU, kann sich mit solchen engagierten Bürgerinnen identifizieren?

Aktivist mit Spaten: Beuys pflanzt eine der 7000 Eichen in Kassel. R. Lehning/Stiftung 7000 Eichen/Stadt Kassel

Über Ostern posierte der Abgeordnete Norbert Röttgen braun gebrannt mit einem geflochtenen Körbchen voller bunter Eier auf einem rosa- und pinkfarbenen Sessel vor einer Terrasse mit einem Blumen­topf und einem kurz geschorenen Rasen­gärtchen für ein Twitter-Foto – so sieht die hoffnungs­volle Botschaft von Wahl­männern in diesen Zeiten einfach aus.

Politisch können sie deshalb mit der grünen Seite des künstlerischen Beuys-Werks besonders gut punkten, gerade weil das grüne Gewissen mittlerweile Hand in Hand mit einem Konservatismus geht, der seine Wider­sprüche immer dann outet, wenn er etwas, was er früher von ganzem Herzen hasste, nun plötzlich mit grosser Geste inszeniert.

Wie angekündigt gibt es aber noch eine andere, wie soll man sagen, braun-esoterische Seite des Beuys-Werks, um die bis heute heftig gestritten wird.

Der ewige Hitlerjunge

Während des Zweiten Weltkriegs hatte sich Beuys bei der Luftwaffe zum Bordfunker ausbilden lassen und war mit seinem Piloten irgendwo über der Krim abgeschossen worden. Aus diesem Erlebnis strickte er einen der berühmtesten Mythen der modernen Kunst­geschichte, der die Rezeption seines ganzen Werkes nachhaltig in den Schatten einer NS-Vergangenheits­bewältigung stellte, die unter dem Verdacht steht, beschönigend zu sein. Angeblich hatten ihn Tataren-Nomaden verletzt und geschunden in der Kälte gefunden und mit Filz, Fett und Milch gesund gewärmt und gepflegt.

Vieles, was Beuys mit seinem Habitus, seinem langen Mantel, seinem Hut und seiner Anhängerschaft repräsentierte und künstlerisch voran­brachte, wurde lange Zeit im Lichte dieses Narrativs beurteilt. Es scheint kaum mehr einen Ausweg aus dieser endlosen Rezeptions­schleife zu geben.

Anlässlich seiner ersten grossen Retrospektive im New Yorker Guggenheim Museum 1979/80 erreichte der Tataren-Mythos, festgehalten im Ausstellungs­katalog, die ganz grosse und breite Öffentlichkeit, weshalb Benjamin H. D. Buchloh und Rosalind E. Krauss – die damals führenden Theoretikerinnen der amerikanischen Avantgarde – sich für das US-amerikanische Kunstmagazin «October» darüber ausliessen. Während Krauss den Nazi-aus-der-Asche-Mythos noch ganz lustig fand, warf Buchloh, ihr Kollege aus Deutschland, Beuys vor, seinen Kriegs­einsatz zu idealisieren und lieber den verklärenden Anschluss an ein fernes Tatarenland zu suchen, als sich mit der historischen Fakten­lage zu beschäftigen.

Poseur mit Axt: Beuys 1970 in Düsseldorf. Archiv Robert Lebeck
Der Künstler mit Familie: Beuys mit Ehefrau Eva, Sohn Boien Wenzel (links) und Tochter Jessyka (1968). Archiv Robert Lebeck

«Beuys’ Kleidung ist das paradoxe Unikat einer Uniform, er erscheint als der letzte Überlebende einer aufgeriebenen Armee», wetterte der Kunst­historiker Beat Wyss zuletzt noch im Jahr 2008. «Beuys schwamm wie ein Fisch im Wasser des braunen Zeitgeists.» Und: «Sein Aktivismus ist das kathartische reenactment eines Hitlerjungen.»

Das klingt nicht nur hart, das lässt jedes Regierungs­oberhaupt schlecht aussehen, das sich mit diesem Künstler schmücken möchte. Zwar gehört die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit nicht zu den Kern­kompetenzen der deutschen Bundeswehr, dem Selbst­verständnis nach aber auf jeden Fall zu denen der deutschen Kultur­politik. Sie dürfte sich deshalb besonders freuen, dass der Schweizer Kunst- und Architektur­historiker Philip Ursprung jüngst eine Korrektur dieser verdammten Rezeptions­geschichte in Umlauf brachte.

Oder wurde Beuys immer ganz falsch verstanden?

Anlässlich des hundertsten Geburtstags verfasste Ursprung ein neues Buch über Joseph Beuys, für das er sich die Mühe machte, eine ganze Reihe von Kunst­werken ganz genau unter die Lupe zu nehmen, darunter auch eine sogenannte «Auschwitz Demonstration»-Vitrine, die sich in einem grossen Werk-Konvolut im Hessischen Landes­museum in Darmstadt befindet.

Neben allen möglichen symbol­trächtigen Gegen­ständen wie elektrischen Herdplatten, einer mumifizierten Ratte, vertrockneten Blutwürsten und Glasflaschen mit Jod und Fett (die aus den Jahren 1956 bis 1964 stammen sollen, Beuys aber erstmals 1968 zusammen­stellte) beinhaltet die Arbeit auch ein Schwarz-Weiss-Foto vom Konzentrations­lager Auschwitz-Birkenau, mit dem Beuys bereits Ende der Fünfziger­jahre konfrontiert wurde, als er sich an einem Wettbewerb für ein Mahnmal beteiligte.

Und genau darin will Ursprung nun ein Schlüssel­erlebnis im Leben des Künstlers erkennen, das wesentlich entscheidender für die persönliche Krise und Genese seines Werks sei als der Absturz über der Krim und das die Kritiker für immer zum Schweigen bringen könnte.

Joseph Beuys hatte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg sein Studium der Monumental­bildhauerei an der Düsseldorfer Akademie bei Ewald Mataré aufgenommen und im Anschluss daran im Jahr 1959 in einem alten Kirchturm in Büderich ein Ehrenmal aus Holz und Eisen für die Gefallenen beider Weltkriege realisiert. Kritiker wie Benjamin H. D. Buchloh griffen das gerne auf, um die formalen Analogien zwischen Beuys’ Kunst und der traditionellen klassischen Skulptur aufzuzeigen, für die sich die National­sozialisten bekanntlich viel mehr begeisterten als für abstrakte, surrealis­tische, modernistische Kunst, die sie als «entartet» degradierten. So wird Beuys’ Hitlerjugend-Biografie mit seiner Ästhetik zusammen­gebracht, und er wird von der künstlerischen Nachkriegs-Avantgarde abgegrenzt, den Fluxus-Kolleginnen, die eine mit Bedeutung aufgeladene Material­sprache ablehnten.

Ursprung konterkariert diese Lesart von Beuys’ Schaffen nun mit dessen Entwurf für ein Auschwitz-Mahnmal aus dem Jahr 1957, der zwar auch ein grosses Eisentor vorsah, die Plastik aus Leuchter, Schale, Kristall, Blume und Monstranz jedoch ohne Sockel auf dem Boden platzierte und das Lager weit­gehend unberührt liess. Damit habe Beuys «die Idee der Monumental­skulptur» dekonstruiert. «Statt eines einzelnen skulpturalen Monumentes», so Ursprung, «entwarf er ein System von zusammen­hängenden Fragmenten, welches die Aufmerksamkeit auf die Ruinen des Lagers lenken würde, nicht auf ein Kunstwerk.»

So wird nun Beuys’ «kritische Auseinander­setzung mit der Vergangenheit» mit seiner Ästhetik zusammen­gebracht, und er wird als deutscher Avantgardist unter den Fluxus-Kolleginnen ausgezeichnet, der «auf den Holocaust zeigt, den damals nur wenige sehen wollten oder konnten» und der versuchte, «mittels Kunst zu heilen, zu versöhnen und zu verbinden». Viele seiner Werke versteht Ursprung deshalb eher als Trauer­arbeit, selbst der berühmte Filzanzug (1970) erinnert ihn plötzlich an die Bekleidung von Häftlingen: «Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Beuys den National­sozialismus relativierte.»

Bei diesen jüngsten Rezeptions­runden zum beuysschen Werk geht es tatsächlich um mehr als Fach­simpelei. Im Kontext einer aufgeladenen Kultur­politik könnte sich Ursprungs Beitrag als grosser diplomatischer Dienst erweisen. Bis zu welchem Grad die Bundes­republik Deutschland sich nach dem Zweiten Weltkrieg mittels der bildenden Kunst von dem braunen Zeitgeist distanzierte, ihn still und heimlich unterschlug oder gar weiterhin in seine Ästhetik einbaute, wird gerade heute wieder heftig diskutiert.

Und da Joseph Beuys im Zentrum dieser Bewältigungs­arbeit steht, bewegen seine Für- und Gegensprecher auch das moralische Gewissen einer Nation wie einen Spielball hin und her. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.

Ursprung berührt in seinem Buch allerdings noch einen weiteren Aspekt des beuysschen Werks, der wohl ebenfalls noch kontrovers diskutiert werden wird. Ich hoffe, Sie bringen noch ein wenig Kraft auf, um last, but not least sein Verhältnis zu den lieben Tieren kennenzulernen …

Der Hirte aus Mittel­europa domestiziert den nordamerikanischen Mythos

Für seine erste Galerieausstellung im Jahr 1965 hatte der Künstler mit Honig und echtem Gold im Gesicht einem toten Hasen die Bilder erklärt, in Frankfurt am Main stand er 1969 zusammen mit einem lebendigen weissen Pferd auf der Bühne, und 1974 in New York hauste er mit einem Kojoten für ein paar Tage in einer Galerie. Ursprung will in diesen Aktionen «Empathie und Melancholie, Einfühlung und Introversion» erkennen, die für ein «Zusammen­leben von Mensch und Tier, ja sogar zwischen Menschen und Pflanzen» von grösster Bedeutung seien.

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Joseph Beuys - Eine Annäherung 4/4

So gesehen wäre Beuys nicht nur in Klimakrisen-Hinsicht ein Visionär, er antizipiere sogar das sogenannte Anthropozän, nach dem der Mensch für das Arten­sterben und die klimatischen Veränderungen verantwortlich gemacht wird und sich deshalb schleunigst auf Augenhöhe mit allen anderen Lebewesen begeben sollte. Aber stimmt das denn?

Vielleicht muss ich nicht gleich die Tierschützerinnen auf den Plan rufen, die sich immer mehr in die Kunst­geschichte einmischen, um den Einsatz von Lebewesen im Kunst­kontext abzuschaffen. Mit Rücksicht auf die visuelle Symbol­politik, die die postkoloniale Theorie seit Jahrzehnten vorantreibt, sollte man die Aneignung von Tieren für das beuyssche Schamanen­tum jedoch auch problematisieren.

In der New Yorker Galerie, in der er mit dem Kojoten hauste und täglich das «Wall Street Journal» las, gestikulierte Beuys mit einem Stab namens «Eurasien». «Die Landmasse von Europa und Asien zog sich wie ein roter Faden durch Beuys’ Werk der späten 1950er- und 1960er-Jahre», schreibt Ursprung an einer anderen Stelle seines Buches. Es solle einen «intuitiven ‹Ostmenschen› und einen rationalen ‹Westmenschen›» miteinander in Einklang bringen. Dass Beuys solche «unhaltbaren ethnologischen Kategorien», die «von der Ideologie der Kolonialzeit geprägt waren», verwendet habe, zeuge auch davon, «dass seine Begrifflichkeiten nicht immer auf der Höhe seiner künstlerischen Ausdrucks­mittel waren». Allerdings entpuppen sich auch die künstlerischen Ausdrucks­mittel – der Kojote allen voran – als nicht auf der Höhe seiner demokratischen Ideale.

Der Kojote sollte nämlich in etwa wie ein Kronzeuge auftreten, der an die Ursünde der Vereinigten Staaten von Amerika erinnert – an die Ermordung der Ureinwohnerinnen. In der Mythologie Nord­amerikas taucht das Tier bekanntlich immer wieder auf, das war auch dem vornehmlich weissen Kunst­publikum aus Manhattan bewusst, von dem sich Beuys so demonstrativ abgrenzte, dass er sich am Flughafen in Filz einwickeln und mit einem Kranken­wagen in die Galerie kutschieren liess.

Das Problem an dieser Aktion bleibt, dass Beuys wie ein Hirte aus Mittel­europa das Tier mit seinem Eurasien-Stab domestizierte und damit in die Fussstapfen jener Kolonialisten trat, die sich das angeblich Wilde bis zur Auslöschung aneigneten.

Seit ein paar Jahren ringt die Kunst­geschichte ganz besonders um solche Aneignungs­fragen, in den USA gab es nicht zuletzt heftige Debatten rund um Werke von weissen (männlichen) Künstlern, die sich guten Willens mit den Verbrechen an den Ureinwohnerinnen auseinander­setzten, ohne zu bedenken, dass diese sich kein weiteres Sprach­rohr wünschen, das nicht aus ihren eigenen Reihen kommt.

Westliche Kunstinstitutionen versuchen ihre Sammlungen deshalb um künstlerische Positionen zu erweitern, die nicht dem üblichen Kanon rund um die Herren Marcel Duchamp, Joseph Beuys, Andy Warhol, Donald Judd und so weiter entsprechen. Das nächste Mal, wenn ein Ministerium 2 Millionen Euro für die Kunst ausgibt, sollte es sich vielleicht vorab informieren, welche Kapitel der (Kunst-)Geschichte bislang ignoriert wurden. Es sind, versprochen, leider einige.

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