Strassberg

Schöne neue, grenzenlose Welt

Die Demokratie gerät derzeit enorm unter Druck, weil ihre elementarste Voraussetzung wegbricht: der gemeinsame Raum.

Von Daniel Strassberg, 09.02.2021

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Vielleicht wird der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 dereinst als der Tag in die Geschichte eingehen, an dem eine Epoche endete, die mit einem anderen Sturm begann, dem Sturm auf die Bastille. Das Zeitalter der Demokratie hätte dann exakt 84’548 Tage gedauert.

Die aufgebrachte, vom Hunger bedrohte Menschen­menge, die am 14. Juli 1789 die Festung Bastille stürmte, wollte nur Munition für den weiteren Kampf erbeuten, doch ohne es zu ahnen, wurde sie zum Symbol der Ablösung der feudalen Ordnung durch die Demokratie. So könnte der Mob, der das Kapitol erstürmte, zum Symbol des Unter­gangs der liberalen Demokratie werden.

Die Französische Revolution brachte keineswegs sofort die Demokratie. Es war ein langer und blutiger Weg, bis sich in Europa so etwas wie eine liberale Demokratie etablieren konnte. Doch am Beginn dieses Weges stand die Französische Revolution, weil sie das alte aristokratische Ordnungs­prinzip zerschmetterte.

Ähnlich einer Bibliothek muss eine Gesellschaft die Menschen, die ihr angehören, nach einem bestimmten System einteilen. In einer Aristokratie gilt die Geburt als das alleinige Kriterium, in einer anderen Gesellschaft kann es der Besitz, die Zugehörigkeit zu einem Totemtier, das Alter, die Hautfarbe, die berufliche Tätigkeit oder eine Kombination dieser Kriterien sein.

Das grösste Problem nach der Zerschlagung der Aristokratie war es deshalb, ein für eine Demokratie geeignetes Ordnungs­system zu finden. Es musste, so viel war klar, eine Einteilung sein, welche die ausgeglichene Vertretung von Interessen ermöglicht, hat die Demokratie doch den Anspruch, die Interessen aller Menschen zu berücksichtigen, nicht nur die der Adeligen.

Schon etwa vierzig Jahre vor der Französischen Revolution machte sich ein französischer Adeliger zu diesen Fragen Gedanken. Er hiess Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu und veröffentlichte im Jahr 1748 das Buch «Vom Geist der Gesetze», worin er den Aufbau einer modernen Demokratie skizzierte.

Darin findet sich folgende Passage:

Wenn es wahr ist, dass der Charakter des Geistes und die Leidenschaften des Herzens in den verschiedenen Klimaten ausserordentlich verschieden sind, dann müssen die Gesetze auf die Unterschiedlichkeit dieser Charaktere Bezug haben.

Kalte Luft zieht die Oberfläche der äusseren Gewebe unseres Körpers zusammen. Das vermehrt deren Spannkraft und fördert die Rückkehr des Blutes von den entfernten Teilen zum Herzen. Sie vermindert die Ausdehnung dieser Gewebe, dadurch vermehrt sie ihre Kraft. Warme Luft dagegen erschlafft die Aussenseite der Gewebe und verlängert sie; sie vermindert also ihre Stärke und Spannkraft. In den kalten Klimaten besitzt man also mehr Kraft.

Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, «Vom Geist der Gesetze», 1748.

So geht es lange weiter. Montesquieu erklärt umständlich, welchen Einfluss das Klima auf den Charakter hat, um am Ende zu einem absonderlichen Schluss zu kommen: «Die Bewohner warmer Länder sind furchtsam, wie es die Greise sind; die der kalten Länder sind mutig wie die jungen Leute.»

Was führt einen, der als Erfinder der modernen Demokratie gilt, zu Über­legungen, die für unsere Ohren nicht nur seltsam naiv, sondern reichlich nationalistisch klingen?

Da es in einer Demokratie unmöglich ist, die Interessen jedes Einzelnen zu berücksichtigen, braucht es Interessen­gruppen, deren Vertreterinnen mit den Vertretern anderer Gruppen verhandeln können. Es braucht also eine Einteilung, die Menschen zusammen­führt, deren Interessen sich irgendwie ähnlich sind. Interessen werden aber, davon ist in der Zeit der Aufklärung nicht nur Montesquieu überzeugt, weitgehend durch die Bedingungen der natürlichen Umgebung bestimmt, in denen jemand aufwächst und lebt.

Das Klima bestimmt die Beschaffenheit des Bodens, diese diktiert die Art der landwirtschaftlichen Produktion, und diese wiederum prägt das Zusammen­leben, die Erziehung und den Charakter. Wo, wie in Vietnam, Reis auf Terrassen angebaut wird, braucht es eine starke Dorf­gemeinschaft, denn es ist unmöglich, ein Reisfeld alleine zu bewirtschaften. Man muss sich zusammen­raufen, weshalb im ruralen Vietnam die Dorf­gemeinschaft auch eine starke Stellung hat. Das auf der Bürokratie der Mandarine aufgebaute politische System Chinas wiederum entwickelte sich aufgrund der Notwendigkeit, die knappe Ressource Wasser vernünftig zu verteilen.

So ist es im Grunde wenig erstaunlich, dass die einzige Einteilung, die Montesquieu zum Ersatz der Aristokratie einfiel, der physische Raum war: Diejenigen Menschen gehören zusammen, die im selben Gebiet leben.

Es lag auf der Hand, soziale Bereiche wie Landwirtschaft, Verkehr, Handel, Bildung, Wasser­rechte, Recht­sprechung, Kultur oder Sicherheit für ein geografisch überschaubares und gut umgrenztes Gebiet zu regeln. Für kleinere Gebiete wie ein Dorf, wo jeder jede kennt, reichen informell tradierte Regeln, die man Bräuche oder Sitten nennt. Grössere Gebiete benötigen aber eine geschriebene Verfassung. Deshalb heisst sein Buch «Vom Geist der Gesetze».

So entstand die Idee der Nation: Eine Nation ist die Bevölkerung eines begrenzten Gebietes, die sich irgendwie organisieren muss. Obschon nicht jeder National­staat demokratisch ist, eignet er sich wegen des gemeinsamen Raumes für die Demokratie besser als alle anderen gesellschaftlichen Organisations­formen. Der gemeinsame Raum lässt sich erstens leicht in Regionen mit eigenen Interessen einteilen, in Kantone zum Beispiel. Er erlaubt es zweitens relativ einfach, Vertreter der Regionen an einen zentralen Ort zu schicken, um über unterschiedliche Interessen zu verhandeln.

Und drittens, der vielleicht wichtigste Punkt: Weil der Raum knapp ist, zwingt er die Einwohnerinnen, Institutionen und Mechanismen zu entwickeln, die es ermöglichen, den Raum aufzuteilen und ihn zugleich gemeinschaftlich zu nutzen. Eine Nation wird also durch einen begrenzten Raum, gemeinsame Interessen, gemeinsame Institutionen und eine gemeinsame Identität gebildet.

Dieser Zusammenhang hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert, und Corona hat ihn noch um eine weitere Schrauben­drehung gelöst: Der Raum, in dem Menschen leben, bestimmt kaum noch ihre Interessen. Ich kann am selben Tag in Indien einen Anzug bestellen, in Hawaii an einer Lesegruppe teilnehmen und in New Jersey einen Vortrag halten (alles reale Beispiele!). Multinationale Konzerne können jederzeit drohen, ihre Produktion zu verlagern, und so die Demokratie in Geiselhaft nehmen.

Die Demokratie gerät derzeit enorm unter Druck, weil ihre elementarste Voraussetzung wegbricht: der gemeinsame Raum. Ausser Verkehrs­politik fällt mir nichts ein, wo der Zusammenhang von begrenztem Raum und gemeinsamem Interesse noch vollständig gegeben ist. Schon bei der Bildung hört er auf: Während jemand problemlos in Zürich wohnen, in Finnland studieren und in den USA forschen kann, dürfen in der Stadt Zürich mehr als 50 Prozent (!) der Eltern schulpflichtiger Kinder bei der Bildungs­politik nicht mitreden. Während eine Chirurgin in New York per Joystick einen Patienten in Athen operiert, stirbt eine Bewohnerin der Bronx, weil sie sich diesen Eingriff nicht leisten kann.

Räumliche Nähe spielt keine Rolle mehr, der physische Ort, an dem Menschen zusammen­wohnen, begründet kaum noch gemeinsame Interessen. Was Menschen heute miteinander verbindet, ist der Zugang zu digitalen und ökonomischen Ressourcen. In dieser schönen neuen Welt kann nur mitmischen, wer einen Internet­zugang hat und Englisch spricht, das heisst, über ein gewisses Einkommen und eine gewisse Bildung verfügt. Laut dem Bericht der Breitband­kommission für digitale Entwicklung haben weltweit 3,9 Milliarden Menschen keinen Zugang zum Internet.

Das ist fast die Hälfte der Weltbevölkerung.

Die andere Hälfte aber lebt in einer potenziell unbegrenzten Welt: Die Menge der Daten verdoppelt sich alle zwei Jahre, die Geschwindigkeit der Übertragung etwa auch. Alles nach oben offen, es gibt keine natürlichen Grenzen. Darüber hinaus leben wir so, als seien auch Energie­ressourcen unbegrenzt verfügbar, wir leben in der Fantasie, die Welt liesse sich beliebig vervielfältigen.

Die Folge davon ist, dass gar keine Notwendigkeit mehr besteht, Interessen demokratisch, das heisst durch Vertretung, zu verhandeln. Copy-and-paste ist das Motiv der Zeit, jeder Einzelne kann jederzeit alles vervielfältigen. Stösst einer oder eine an Grenzen, beginnt er oder sie einen neuen Thread oder er gründet eine neue Bubble. Es sind nun diese Bubbles, die Identitäten stiften, nicht mehr die Dörfer oder Landschaften. Deshalb ist Identität nicht mehr das Ergebnis einer Auseinander­setzung oder eines Ringens, sie ist bloss noch der Spiegel der Bubble, in der wir leben. In der Ära der Ich-AG ist die Idee, sich vertreten zu lassen, ohnehin obsolet geworden.

Selbstverständlich findet auch der antidemokratische Mob im Internet statt. Er ist vom Netz keineswegs ausgeschlossen, im Gegenteil, es gibt namhafte Stimmen, die den Erfolg der Rechten auf die bessere Nutzung des Internets zurückführen. Aber die bizarren Fantasien von QAnon, der derzeit erfolgreichsten rechten Verschwörungs­theorie, zeigen in entstellter Form ihre eigenen geheimen Wünsche: Die Eliten halten in unterirdischen Verliesen Kinder gefangen, um durch deren Adrenochrom ewige Jugend zu erlangen. Die anderen, könnte man übersetzen, haben einen gemeinsamen Ort, an dem sie sich treffen und ihre Interessen artikulieren können. Im Sturm auf das Kapitol wollten die Ortlosen den physischen Ort besetzen und dort ihre eigene Stimme erheben, an welchem es ihre sogenannten Vertreter längst nicht mehr für sie tun.

Mit dem Schwinden des Raumes verliert die Demokratie ihre Grundlage. Damit sie nicht vollends zur leeren Folklore verkommt, müssen zwei Probleme gelöst werden.

Lässt sich anstelle des Raumes ein anderes, ein gerechteres Ordnungs­prinzip finden?

Gibt es Vertretungs­modelle, die die Interessen der Bevölkerung abbilden?

Zaghafte Versuche in diese Richtung gibt es, zum Beispiel die Frauen­quote, die von der – durchaus überzeugenden – Vorstellung ausgeht, dass das Geschlecht, in das jemand hinein­geboren wird, seine oder ihre Erfahrungs­welt entscheidender prägt als das Klima. Vorderhand kommt sie meistens als Quote für nationale Institutionen zum Einsatz. Aber man kann sie natürlich von einer territorialen Bindung auch entkoppeln.

Der Sturm auf das Kapitol hat die Misere der Demokratie schonungslos offengelegt. Sie ist ortlos geworden. Nicht nur die US-amerikanische.

Illustration: Alex Solman

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