Illustration: Arsh Raziuddin. Animation: Vishakha Darbha. © 2020 The Atlantic Media Co., erschien zuerst in «The Atlantic Magazine»

Die Prophezeiungen von Q

Wie sich eine amerikanische Verschwörungs­erzählung weltweit verbreitet und in eine gefährliche neue Phase eintritt: Sie wird zu einer Religion.

Von Adrienne LaFrance (Text) und Bernhard Schmid (Übersetzung), 10.10.2020

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Wären Sie ein Anhänger, man würde es Ihnen nicht ansehen, weil Sie aussähen wie jeder andere auch. Sie könnten eine Mutter sein, die die Reste vom Teller ihrer Kleinen pickt, oder der junge Mann mit den Kopf­hörern auf dem Trottoir gegenüber. Sie könnten Buchhalter sein, Zahnarzt, eine Grossmutter, die in der Küche Cupcakes glasiert. Gut möglich, dass Sie in eine evangelikale Kirche gehen. Rein vom Äusserlichen her wären Sie jedenfalls kaum zu erkennen – was sein Gutes hat, weil womöglich eines gar nicht so fernen Tages finstere Mächte hinter Ihnen her sein werden.

Sie sind sich durchaus darüber im Klaren, wie verrückt sich das anhört, aber das ist Ihnen egal. Sie wissen, dass auf unserem Planeten eine kleine Gruppe im Schatten agierender Manipulatoren die Strippen zieht. Sie wissen, dass diese Leute mächtig genug sind, um sich ungestraft an Kindern vergehen zu können. Sie wissen, dass die Mainstream-Medien dieser Clique dienstfertig in die Hände arbeiten – zusammen mit Hillary Clinton und den geheimnis­vollen Mitgliedern des tiefen Staats.

Sie wissen, allein Donald Trump steht zwischen Ihnen und der unausweichlichen Verwüstung der Welt. Sie sehen die Welt von Plagen und Seuchen gebeutelt und wissen, sie sind Teil des Plans. Sie wissen, dass sich der Zusammen­stoss zwischen Gut und Böse nicht wird vermeiden lassen, und Sie harren der grossen Erweckung, die uns bevorsteht. Entsprechend müssen Sie auf der Hut sein, die Ohren vor dem Hohn der Ignoranten verschliessen, sich nach Ihres­gleichen umsehen. Und Sie müssen kampfbereit sein.

Und das alles wissen Sie, weil Sie Q-gläubig sind.

I. Schöpfung

Die Ursprünge von QAnon fallen in die jüngste Vergangenheit, und dennoch sind Mythos und Realität kaum zu trennen. Einen Ansatz­punkt bietet Edgar Maddison Welch, ein zutiefst religiöser Vater von zwei Kindern, dessen Leben in der kleinen Stadt Salisbury, North Carolina, bis Anfang Dezember 2016 nicht weiter bemerkenswert war.

Am Morgen des Sonntags, 4. Dezember 2016, schnappte sich Welch sein Mobiltelefon, eine Schachtel Schrot­patronen und drei geladene Waffen – ein Sturmgewehr vom Typ AR-15, einen Trommel­revolver und eine Flinte – und sprang in seinen Toyota Prius. Er fuhr die knapp 600 Kilometer nach Chevy Chase, einer wohlhabenden Vorstadt von Washington, D. C. Dort parkierte er, verstaute seinen Revolver in einem Hüftholster und trat, die AR-15 schräg vor der Brust, in eine Pizzeria namens Comet Ping Pong.

Rein zufällig hatte meine kleine Tochter in ebendiesem Restaurant an einem Sonntag­nachmittag zwei Jahre früher ihren ersten Schluck Wasser probiert. Kinder kehren dort samstags mit Eltern und Teamkolleginnen nach dem Fussballmatch ein; ausserdem treten dort am Wochenende Bands aus der Gegend auf. Während sie auf ihre Pizza aus dem grossen Tonofen warten, fordern Kinder im Saal hinter dem Restaurant ihre Grosseltern zu einer Partie Pingpong. Comet Ping Pong ist ein allseits beliebtes Lokal in der Hauptstadt.

Die Gäste dort bemerkten Welch sofort. Eine Schärpe in Form einer AR-15 würde wohl in jedem zivilen Umfeld auffallen, erst recht in einem Lokal wie Comet. Während Eltern, Kinder und Angestellte, viele von ihnen kauend, nach draussen liefen, begann Welch sich in dem Restaurant umzusehen. Als eine Tür sich nicht mit einem Butter­messer öffnen liess, feuerte er einige Kugeln ins Schloss. Alles, was er fand, war ein kleiner Lager­raum mit einigen Computern. Es war nicht das, was er erwartet hatte.

Welch war einer Verschwörungs­erzählung wegen nach Washington gekommen, die es unter dem Namen «Pizzagate» zu trauriger Berühmtheit brachte und der zufolge Hillary Clinton von Comet Ping Pong aus einen Kinder-Sexring betrieb. Aufgekommen war dieser Gedanke im Oktober 2016, als auf Wikileaks eine Fülle von E-Mails aus dem Account von John Podesta veröffentlicht wurde. Er war Bill Clintons letzter Stabschef im Weissen Haus gewesen, nun war er Leiter von Hillary Clintons Präsidentschafts­kampagne.

Comet Ping Pong wurde in diesen Mails wiederholt erwähnt, unter anderem in einem Austausch zwischen Podesta und James Alefantis, dem Besitzer des Restaurants. Es ging dabei hauptsächlich um Spenden­veranstaltungen. Aber prominente Leute aus Trumps Lager unterstützten zunehmend eine Behauptung, die in eher von Trollen frequentierten Ecken des Internets (wie 4chan) aufgekommen war, um sich dann auch in zugänglicheren Bereichen wie Twitter und Youtube zu etablieren. Der Behauptung zufolge belegten die E-Mails einen rituellen Kindsmissbrauch. Einige Verschwörungs­gläubige behaupteten, dieser finde im Keller des Restaurants statt – das gar keinen Keller hat. War in den E-Mails von «Pizza» und «Pasta» die Rede, deutete man das als Code für «Mädchen» und «kleine Jungs».

Kurz nach Trumps Wahl, als Pizzagate im Internet wütete, begann Welch wie besessen Verschwörungs­videos auf Youtube zu schauen. Er versuchte, mindestens zwei Bekannte für seine Aktion zu gewinnen; er textete den Leuten von seinem Wunsch, «das Leben einiger weniger für das Leben von vielen» zu opfern und «ein korruptes System» zu bekämpfen, «das in unserem Hinterhof Babys und Kinder entführt, foltert und vergewaltigt».

Als Edgar Maddison Welch in dem Restaurant zu dämmern begann, dass Comet Ping Pong nichts weiter als eine Pizzeria war, legte er die Waffen nieder, ging zur Tür hinaus und ergab sich der Polizei, die das Gebäude inzwischen umstellt hatte. «Die Info stimmte wohl nicht zu 100 Prozent», sagte Welch nach seiner Verhaftung gegenüber der «New York Times».

Welch scheint allen Ernstes geglaubt zu haben, im Comet Ping Pong würden Kinder festgehalten. Verwandte und Freundinnen setzten sich schriftlich beim Richter für ihn ein: Er sei ein fürsorglicher Vater, ein frommer Christ, ein Mann, der sich für andere beide Beine ausreisse. Welch hatte eine Ausbildung bei der freiwilligen Feuerwehr gemacht; er war nach dem Erdbeben mit einem Hilfstrupp des Baptistischen Männer­bunds nach Haiti geflogen. Ein Freund aus seiner Kirchen­gemeinde schrieb: «Er zeigt die Handlungs­weise eines Menschen, der nach Erkenntnis und der praktischen Umsetzung biblischer Wahrheit strebt.»

Welch selbst hat aufrichtige Reue zum Ausdruck gebracht; in einem handschriftlichen Brief an den Richter schrieb er: «Ich hatte nie die Absicht, Unschuldige zu erschrecken oder jemandem etwas zu tun, sehe aber jetzt, wie dumm und unverantwortlich meine Entscheidung war.» Man verurteilte ihn zu vier Jahren Haft.

Pizzagate schien in Vergessenheit zu geraten. Einige seiner prominentesten Vertreter nahmen Abstand davon. Wie etwa Jack Posobiec, ein Verschwörungs­theoretiker, der heute für den Trump-freundlichen Kabel-Newskanal One America News Network als Korrespondent tätig ist. Und Alex Jones, Betreiber der Verschwörungs-Website Infowars und Moderator einer damit verbundenen Radiosendung, entschuldigte sich angesichts einer drohenden Klage von Restaurant­besitzer Alefantis dafür, Pizzagate Vorschub geleistet zu haben.

Bei allem öffentlich zum Ausdruck gebrachten Bedauern gibt es keinen Hinweis darauf, dass Welch nicht weiter an Pizzagate glaubt, dass also eine Kabale mächtiger Eliten straflos Kinder missbraucht.

Dem Anstieg der Aktivitäten im Internet nach zu urteilen, hatten viele andere durchaus Möglichkeiten gefunden, über die Comet-Ping-Pong-Episode hinaus­zugehen und sich auf die – ihrer Ansicht nach – grössere Wahrheit zu konzentrieren. Wer auf die richtigen Stimmen auf den richtigen Websites achtete, konnte in Echtzeit die Kernprämissen von Pizzagate recycelt sehen, revidiert, neu interpretiert. So konnten sich die Millionen, die sich auf Sites wie 4chan und Reddit tummeln, weiter über diese geheime und unantastbare Kabale informieren, über ihre niederträchtige Handlungs­weise, ihre Absichten, ihren Blutdurst, ihre moralische Verkommenheit – und ihre Verbindungen zur Linken, insbesondere zu den Demokraten und hier wieder vor allem zu Clinton. Ausserdem konnte man, und das sollte sich als wesentlich erweisen, von einem kleinen, aber wachsenden Unter­grund amerikanischer Patrioten lesen, der sich zu wehren begann.

Aus all dem zusammen­genommen entstand eine Weltsicht, die bald einen Namen bekommen sollte: QAnon – abgeleitet von einer mysteriösen Person, die unter dem Kürzel «Q» anonym auf 4chan postete. Wenn auch physisch nicht zu verorten, verfügt QAnon über eine Infrastruktur, eine eigene Literatur, eine wachsende Gefolgschaft und verkauft obendrein allerhand Merchandising. Die Bewegung zeigt aber auch noch einige andere wesentliche Qualitäten, die Pizzagate nicht aufzuweisen hatte. Mit Fakten konfrontiert, verfügt sie über genügend Anpassungs­fähigkeit, um eine Bewegung dieser Art auch auf längere Zeit zu tragen. Für QAnon lässt sich für jeden Widerspruch eine Erklärung finden; Argumente nützen nichts mehr.

Verschwörungs­erzählungen hat es in der US-amerikanischen Geschichte immer gegeben; entsprechend gross ist die Versuchung, sie als bedeutungslos abzutun. Um diese Sichtweise beizubehalten, bedarf es im fortschreitenden 21. Jahrhundert allerdings zunehmend einer gewissen Blindheit.

Ich arbeitete 2011 als Lokal­reporterin bei «Honolulu Civil Beat», einer lokalen investigativen Newssite, als Donald Trump das Fundament für seine Präsidentschafts­kampagne legte: Er zweifelte – allen Fakten und Unterlagen zum Trotz – öffentlich an, dass Barack Obama in Hawaii geboren sei. Trump behauptete, Obama sei in Wirklichkeit in Afrika und damit nicht auf amerikanischem Boden zur Welt gekommen – was ihm die Kandidatur für das höchste Amt der Vereinigten Staaten verwehrt hätte. Ich erinnere mich noch gut an die Debatte in unserer Redaktion in Honolulu: Sollten wir über diesen «Birther»-Irrsinn überhaupt berichten? Wie sich heraus­stellte, fanden Trumps durch und durch auf Lügen gegründete Unter­stellungen genügend Abnehmer, um ihm als Sprungbrett zu dienen.

Neun Jahre später, Trump war jetzt Präsident, tauchten über Nacht die ersten Berichte über ein beängstigendes neues Virus auf. In der QAnon-Community wurden eine Reihe von Ideen diskutiert: Das Coronavirus gebe es gar nicht wirklich; und falls doch, dann habe ihn der «tiefe Staat» produziert, die «Star Chamber» – ein geheimes Gremium aus hohen Staats­bediensteten und anderen Angehörigen der Elite, die heimlich die Welt regieren; dass die Hysterie um die Pandemie Teil eines Komplotts gegen Trumps Wieder­wahl sei; und dass die Medien­eliten den Blutzoll bejubelten.

Einige dieser Ideen schafften es auf Fox News, und der Präsident äusserte sie öffentlich. Der «New York Times» zufolge retweetete Trump bei mindestens 145 Gelegenheiten Berichte, die sich zum Teil auf Verschwörungs­erzählungen bezogen, auch auf solche aus dem Lager von QAnon.

Während man die Macht des Internets von Anfang an ahnte, verstand man mitnichten die Natur dieser Macht: die Fähigkeit des Internets, jeden Anschein einer allen gemeinsamen Realität zu zerschlagen und dabei ganz nebenbei Bürger­gesellschaft und demokratische Staats­führung zu unterminieren. Ausserdem ermöglicht es das Internet, dass völlig unbekannte Einzelne die Massen erreichen.

Diese Verzerrung einer gemeinsamen Realität lässt einen Mann mit einem Sturmgewehr in eine Pizzeria einfallen. Sie sorgt für Online-Foren, auf denen sich Leute in schillernden Bildern die Ermordung einer ehemaligen Aussen­ministerin ausmalen. Sie bietet das Versprechen auf eine «Grosse Erweckung», bei der Eliten vertrieben werden und die Wahrheit ans Licht gelangt. Sie bringt Chat-Sites zum Glühen mit Spekulationen darüber, ob die Corona-Pandemie womöglich der Augenblick ist, auf den QAnon gewartet hat. Noch zur Jahrhundert­wende wäre nichts von alledem auch nur denkbar gewesen.

QAnon ist emblematisch für die Empfänglichkeit, ja die Begeisterung des modernen Amerikas für Verschwörungs­erzählungen. Aber es ist auch bereits weit mehr als eine lose Ansammlung von Chatroom-Besuchern mit einem Faible für diese Erzählungen. QAnon ist eine durch ihre pauschale Ablehnung von Vernunft, Objektivität und anderen Werten der Aufklärung geeinte Bewegung. Und wir sehen uns aller Wahrscheinlichkeit nach eher am Anfang ihrer Geschichte als am Ende. Die Gruppe verbindet Paranoia mit inbrünstiger Hoffnung und einem starken Zugehörigkeits­gefühl. Radikal neu ist auch die Art, wie sie der uralten Beschäftigung mit dem Endzeit­gedanken neues Leben einhaucht. Beim Blick auf QAnon sehen wir nicht nur einen Verschwörungs­mythos, sondern erleben die Geburt einer neuen Religion.

Viele sprachen für diese Recherche nur ungern mit mir über QAnon, wenn sie überhaupt bereit waren, zu sprechen. Allerdings erwiesen sich Anhänger der Bewegung hier und da als durchaus willens, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. 2019 stufte das FBI QAnon in einem internen Memo als inlands­terroristische Bedrohung ein. Das Memo erwähnte einen Mann, den man 2018 mit Material zum Bau einer Bombe erwischt und verhaftet hatte; laut FBI hatte er einen Anschlag auf das Kapitol von Springfield geplant, der Hauptstadt von Illinois. Er hatte vor, die «Amerikaner auf ‹Pizzagate› und die Neue Weltordnung (NWO) aufmerksam zu machen, die die Gesellschaft demontierten».

Ausserdem erwähnte das Memo einen Anhänger von QAnon in Nevada, der ebenfalls 2018 verhaftet wurde; er hatte den Verkehr auf dem Hoover-Damm mit einem gepanzerten Truck blockiert. Der Damm staut den Colorado River zum Lake Mead und ist mit 35 Milliarden Kubik­meter Speicher­inhalt der grösste Stausee der USA. Der schwer bewaffnete Mann forderte die Veröffentlichung des Berichts des General­inspektors über Hillary Clintons E-Mails. Das FBI-Memo wies warnend darauf hin, dass Verschwörungs­theorien die Bedrohung durch extremistische Gewalt­täter schürten, vor allem wenn Individuen «als selbst ernannte ‹Rechercheure› oder ‹Ermittler› Einzel­personen, Geschäfte oder Gruppen herauspickten, um sie dann fälschlicher­weise der Beteiligung an dem imaginären Plan zu bezichtigen».

Die Gefolgschaft von QAnon ist gefürchtet, sowohl wegen ihrer grimmigen Online-Attacken auf Skeptiker als auch wegen ihrer Tendenz, Gewalt zu schüren. Auf einem mittlerweile stillgelegten QAnon-Board auf Reddit liessen sich Poster genüsslich bezüglich Hillary Clintons Schicksal aus. «Ich bin ehrlich überrascht, dass die noch keiner ermordet hat», schrieb jemand. Ein anderer «Die Geier reissen ihre verwesende Leiche in Fetzen.» Ein Dritter: «Ich möchte ihr Blut in der Gosse sehen.»

Illustration: Arsh Raziuddin. Animation: Vishakha Darbha

Als ich mit Hillary Clinton über QAnon sprach, sagte sie: «Ich irritiere die wie sonst niemand … Würden nicht die Leute vom Secret Service meine Post durchgehen und den zahlreichen Drohungen gegen mich nachgehen, ich würde mir Sorgen machen.» Sie hat längst erkannt, dass die erfundene Realität, in der Verschwörungs­theoretikerinnen sie verorten, beileibe kein Parallel­universum ist, sondern in Wirklichkeit unser eigenes Universum prägt. Auf die Trolle im Internet bezogen, sagte Clinton: «Ich glaube nicht, dass die Leute bis jüngst überhaupt verstanden haben, wie gut organisiert diese Trolle sind und wie viele verschiedene strategische Komponenten da im Einsatz sind.»

II. Offenbarung

Am 28. Oktober 2017 tauchte der heute weithin als Q bekannte anonyme User zum ersten Mal auf 4chan auf, einem sogenannten Imageboard, das für seine grotesken Memes ebenso bekannt ist wie für widerwärtige Fotos und eine brutale Mobbing­kultur. Q prophezeite die unmittelbar bevor­stehende Verhaftung Hillary Clintons und einen gewaltsamen landesweiten Aufstand. Sein Post lautete folgendermassen:

Auslieferung HRC [Hillary Rodham Clinton] gestern mit sofortiger Wirkung für mehrere Staaten eingeleitet für den Fall einer grenzüberschreitenden Flucht. Aufnahme ihres Reisepasses in Fahndungsliste wirksam 30/10 @ 00:01. Mit Widerstand, massiven Unruhen, Flucht weiterer Personen aus USA ist zu rechnen. Ausführung der Operation durch US M’s [Marines], NG [Nationalgarde] in Alarmbereitschaft. Zur Überprüfung: Fragt einen NG-Angehörigen, ob diese sich für 30/10 in den meisten Grossstädten zum Dienst zu melden haben.

Und dann dieses:

Mockingbird HRC festgehalten, (noch) nicht verhaftet. Wo ist Huma? Folgt Huma. Das hat (noch) nichts m/ Russland zu tun. Warum umgibt POTUS sich m/ Generälen? Was ist militärische Aufklärung? Warum umgeht man die 3-Buchstaben-Behörden? Welcher Fall des Obersten Gerichtshofs erlaubt Einsatz von mil. Aufklärung gegen vom Kongress bestallte und abgenickte Behörden? Wer hat im Kriegsfall bis zu 90 Tage ohne Billigung höchste Befehls­gewalt über Teil­streitkräfte? Was ist der Militärcode? Wo ist AW [Anthony Weiner*] inhaftiert? Warum? Keine Ansprache von POTUS an die Nation im tv. POTUS muss sich abkapseln, um negatives Bild zu vermeiden. POTUS erkannte Entfernung krimineller abtrünniger Elemente als wesentlichen ersten Schritt, um freie Hand für Gesetze zu haben. Wer hat Zugang zu allen Verschluss­sachen? Glaubt ihr, HRC, Soros, Obama etc. haben mehr Macht als Trump? Phantastereien. Wer immer das Präsidentenamt kontrolliert, kontrolliert dieses grosse Land. Sie haben nicht einen Augenblick gedacht, sie (Demokraten und Republikaner) würden die Kontrolle verlieren. Das ist keine Schlacht zwischen R vs D. Warum spendete Soros jüngst all sein Geld? Warum sollte er all sein Geld in eine WFO stecken? Mockingbird. 30.10.17 Gott segne alle Patrioten.

* Anthony Weiner war für die Demokraten im Kongress, er wurde im September 2017 wegen Sexting mit einer Minderjährigen von einem Bundes­gericht zu 21 Monaten Freiheits­strafe verurteilt.

Clinton wurde am 30. Oktober keineswegs verhaftet, was Q jedoch nicht abschreckte. Er postete weiterhin ominöse Vorhersagen und kryptische Rätsel – mit Hinweisen wie «Sucht das Spielbild im Schloss» –, viele davon in Form von aufreizend fragmentarischen und rhetorischen Fragen. Q machte klar, dass die Leute ihn für einen Geheim­dienstler oder Militär mit hoher Unbedenklichkeits­stufe («Q») halten sollten. Einer, der Zugang zu allen Verschluss­sachen einschliesslich des Atomwaffen­programms und anderen hochsensiblen Materials hat. (Ich sage hier er, weil das auch viele von Qs Anhängern so halten, obwohl Q anonym bleibt – deshalb «QAnon».) Qs Ton ist in einem ans Klischee reichenden Masse konspirativ: «Ich habe zu viel gesagt» und «Folgt dem Geld» oder «Einiges muss bis zum Ende Verschlusssache bleiben».

Was durchaus weiter als vereinzelte Tirade auf einem einzigen Board hätte dahin­dümpeln können, erlebte stattdessen eine stürmische Verbreitung. Mittlerweile, fast drei Jahre nach dem Auftauchen von Qs ursprünglichem Post, gibt es Tausende von Q drops, wie seine Anhänger seine Imageboard-Messages nennen. Vergleicht man das Internet mit einem riesigen Kaninchen­bau, so hat es QAnon – geringere Verschwörungs­erzählungen schluckend – inzwischen bis in den letzten Winkel geschafft.

In seinen Grundzügen sieht QAnons Glaubens­system folgender­massen aus:

  • Q ist ein Insider – Geheimdienst oder Militär – mit Beweisen dafür, dass korrupte Welten­lenker rund um den Globus insgeheim Kinder foltern;

  • diese Schurken sind in den «tiefen Staat» eingebettet;

  • Donald Trump arbeitet unermüdlich daran, ihr Tun zu unterlaufen. («Diese Leute gehören ALLE ELIMINIERT», wie Q in einem Post schreibt.)

Die Zerschlagung dieser globalen Kabale stehe unmittelbar bevor, prophezeit Q, ist aber nur mit Unterstützung von Patrioten zu bewerkstelligen, die Qs Hinweise auf Bedeutung durchleuchten. Q zu glauben, setzt die Ablehnung von Mainstream-Institutionen, die Nicht­beachtung von Staats­vertreterinnen, den Kampf gegen Abtrünnige und eine tiefe Verachtung gegenüber der Presse voraus. Einer von Qs Schlacht­rufen lautet: «Ihr seid jetzt die News.» Ein anderer lautet «Geniesst die Show» – seinen Jüngern zufolge eine Anspielung auf die kommende Apokalypse: Wenn die Welt, wie wir sie kennen, ein Ende findet, werden alle zum Publikum.

Menschen, die Q in ihr Herz geschlossen haben, behaupten gern, seine Posts von Anfang an verfolgt zu haben – so wie jemand prahlen könnte, schon vor dem legendären Album The Bends Radiohead-Fan gewesen zu sein. Die Verheissung des Vorauswissens gehört dabei zu Qs Appeal, ebenso das Gefühl, einem Geheimbund anzugehören – Letzteres verstärkt durch den Einsatz von Akronymen und rituellen Slogans wie «Nichts kann aufhalten, was da kommt» oder «Vertraut auf den Plan».

Als besonderer Prüfstein gilt der QAnon-Gemeinde die Wendung «die Ruhe vor dem Sturm». Q benutzte sie zum ersten Mal wenige Tage nach seinem ersten Post, und sie hatte einen speziellen Hintergrund. Am Abend des 5. Oktober 2017, kurz bevor Q sich erstmals auf 4chan bemerkbar machte, posierte Präsident Trump mit der First Lady in der Mitte eines losen Halbkreises von etwa zwanzig hochrangigen Militärs und deren Gattinnen im Bankettsaal des Weissen Hauses. Die geladenen Reporter sollten ruhig sehen, wie Trumps Abend­gesellschaft sich lächelnd in Pose warf. Der Präsident selbst schien nicht damit aufhören zu wollen. «Sie wissen, wofür das hier steht, ja?», fragte er zwischendurch und zog mit dem Zeigefinger seiner Rechten einen nicht ganz geschlossenen Kreis. «Sagen Sie es uns doch, Sir», bat ihn einer der Umstehenden. In genüsslicher Selbst­zufriedenheit zerdehnte der Präsident die Antwort: «Vielleicht die Ruhe vor dem Sturm.»

«Vor welchem Sturm?», wollte einer der Journalisten wissen.

«Es könnte die Ruhe sein – die Ruhe vor dem Sturm», sagte Trump noch einmal, anscheinend um der dramatischen Wirkung willen. Das Surren der Kamera­verschlüsse schwoll an.

Die Reporterinnen insistierten: «Welcher Sturm, Mr. President?»

Trumps knappe Antwort: «Sie werden schon sehen.»

Diese siebenunddreissig Sekunden präsidialer Mehrdeutigkeit machten Schlagzeilen, schon der Spannungen mit dem Iran während der Tage zuvor wegen. Aber sie sollten auch Eingang in den Gründungs­mythos von Qs künftiger Gefolgschaft finden. Der von Trump in die Luft geschriebene Kreis ist von besonderem Interesse für sie. Ihr denkt vielleicht, so erklären sie einem, er hätte damit auf den Halbkreis um sich herum deuten wollen – aber was er da in Wirklichkeit in die Luft schrieb, war der Buchstabe Q. Spielte Trump die Rolle von Johannes dem Täufer als Prophet dessen, was da kommen sollte? War er womöglich selbst der Gesalbte?

Es ist unmöglich, die zahlenmässige Grösse der QAnon-Anhängerschaft auch nur annähernd genau zu beziffern. Laut einer Zählung des Nonprofit-Portals MediaMatters for America bekennen sich mindestens 35 gegenwärtige oder frühere Kongress­kandidaten zu Q. (Ein Kongress­kandidat der Republikaner, Matthew Lusk aus Florida, führt QAnon sogar in der «Themen»-Liste seiner Wahlkampagne auf und stellt dort die Frage: «Wer ist Q?»)

QAnon hat es mittlerweile in alle grossen sozialen und kommerziellen Plattformen geschafft, ganz zu schweigen von all den Sites am politischen Rand. Tracy Diaz, eine online als TracyBeanz bekannte QAnon-Evangelistin, hat auf Twitter 185’000 Follower und über 100’000 Youtube-Abonnentinnen. Sie trug entscheidend dazu bei, QAnon aus der Obskurität zu holen, stand Patin beim Übergang in die sozialen Netzwerke des Mainstreams. (Unter dem Hinweis darauf, Diaz sei ein «ausgesprochen privater» Mensch, lehnte ihre Presse­agentur ein Interview mit mir ab.)

Auf Tiktok wurden Videos mit #QAnon millionenfach angeklickt. Es gibt zu viele QAnon-Facebook-Gruppen, um sie korrekt zählen zu können, viele von ihnen «Geister­städte», aber auf den aktivsten von ihnen erscheinen Tag für Tag Tausende von Posts. (Reddit verbannte 2018 QAnon-Gruppen von der Plattform – wegen Aufwiegelung zu Gewalt.)

QAnon-Anhängerinnen sind ständig auf der Suche nach Zeichen von oben, oder sie forschen nach Omen, fehlt einmal Qs führende Hand. Das Coronavirus, zum Beispiel, was hat es zu bedeuten? In einigen der grossen Facebook-Gruppen überschlug man sich schier vor Spekulationen; einer Theorie zufolge war Trumps Entschluss, bei einem Corona-Briefing im Weissen Haus eine gelbe Krawatte zu tragen, sein Hinweis darauf, dass die Epidemie reine Erfindung sei: «Er will uns damit sagen, dass es keine Viren­bedrohung gibt, weil sie nämlich genau die gleiche Farbe hat wie die maritime Signal­flagge, die dafür steht, dass ein Schiff keine Infizierten an Bord hat», schrieb jemand in einem Post, der in den sozialen Netzwerken weithin geteilt wurde.

Drei Tage bevor die Weltgesundheits­organisation WHO den Corona-Ausbruch offiziell zur Pandemie erklärte, retweetete Trump ein Meme zum Thema QAnon: «Wer weiss, was es bedeutet, aber hört sich gut an!», schrieb der Präsident am 8. März und postete eine Fotomontage von sich selbst als Violinist, dazu hiess es: «Nichts kann aufhalten, was da kommt.»

Am 9. März dann postete Q selbst eine ominöse Nachricht, die das Rätsel zu entscheiden schien: Das Corona­virus sei echt, aber willkommen, und seine Follower sollten keine Angst haben. Der erste Post zeigte Trumps Tweet vom Vortag und wiederholte: «Nichts Kann Aufhalten, Was Da Kommt.» Der zweite lautete: «Das grosse Erwecken ist weltweit.» Der dritte besagte einfach: «GOTT SIEGT.»

Einen Monat später, am 8. April, folgte geradezu eine Schwemme von Q-Posts, neun an der Zahl innerhalb von sechs Stunden, bei denen er direkt auf mehrere seiner Lieblings­themen einging: Gott, Pizzagate und die Nieder­tracht der Eliten. «Die werden vor nichts haltmachen, um wieder an die Macht zu kommen», schrieb er in einem vernichtenden Post, der einen koordinierten Propaganda­feldzug von Demokraten, Hollywood und den Medien unterstellte.

In einem anderen warf er den Demokraten vor, bezüglich Corona eine «Massenhysterie» anzuheizen, um politisch davon zu profitieren: «Was ist der wesentliche Nutzen davon, die Öffentlichkeit re:Covid-19 in einer Massenhysterie zu halten? Denken Sie mal an die Wahlen. Sind Sie jetzt aufgewacht? Q.» Und dann zitierte er aus Paulus’ Brief an die Epheser: «Seid stark in dem Herrn und in der Macht seiner Stärke. Zieht an die Waffen­rüstung Gottes, damit ihr bestehen könnt gegen die listigen Anschläge des Teufels.»

Anthony Fauci, der altgediente Direktor des Nationalen Instituts für Allergie und Infektions­krankheiten, ist zur Zielscheibe des Spotts geworden unter QAnon-Anhängern, denen weder seine negativen Meldungen schmecken noch die Art und Weise, wie er Trump widersprach. In einer Pressekonferenz im März bezeichnete Trump das Aussen­ministerium («State Department») als «Deep State Department», und man konnte sehen, wie Fauci hinter ihm – sich ein Lachen verkneifend – eine Hand vors Gesicht hielt. Zu diesem Zeit­punkt hatte QAnon Fauci bereits für hoffnungslos kompromittiert erklärt, nachdem Wikileaks zwei E-Mails von 2012 respektive 2013 an Hillary Clinton veröffentlicht hatte. Die Haltung unter der QAnon-Gefolgschaft gegenüber Fauci in den sozialen Netzwerken rangiert von «Fauci ist eine Marionette des Tiefen Staats» bis hin zu «Fauci ist ein BLACKHAT!!!» – mit diesem Begriff bezeichnet QAnon Leute, die das Böse unterstützen und vor Q warnen.

Eine Person twitterte unter den Hashtags #DeepStateCabal und #Qanon: «Achtet auf Faucis Handsignale und Körper­sprache bei Presse­konferenzen. Was kommuniziert er?» Eine andere teilte ein Foto, auf dem Fauci und Barack Obama zusammen in einem Labor zu sehen sind; dazu schrieb sie «Obama und ‹Dr.› Fauci schaffen im Labor den coronovirus [sic]. #DeepstateDoctor.»

Wegen der steigenden Zahl von Drohungen gegen ihn gestand das Justiz­ministerium Fauci jüngst einen verstärkten Personenschutz zu.

Ende März ging es im Kongress um die Verabschiedung eines 2-Billionen-Dollar-Hilfspakets für die Wirtschaft. In den Tagen davor bestanden die Demokraten auf Bestimmungen, die den Wählerinnen die Briefwahl erleichtern sollten, worauf sich Q prompt entsetzt zu Wort meldete: «Die Leute sind doch krank! Nichts kann aufhalten, was da kommt. Nichts.»

Illustration: Arsh Raziuddin. Animation: Vishakha Darbha

III. Gläubige

An einem hundekalten Donnerstag Anfang Januar dieses Jahres begann sich im Zentrum von Toledo, Ohio, eine riesige Menschen­menge einzufinden. Zur Mittagszeit, sieben Stunden vor Beginn von Trumps erster Wahlkampf­veranstaltung 2020, zog sich die Schlange vor dem Huntington Center bereits über zwei Blocks. Die Luft knisterte geradezu vor Hoffnung. Weiter die Strasse hinab hatte jemand ein riesiges Spruchband vom Dach eines ausgebrannten Backstein­gebäudes gehängt: «PRÄSIDENT TRUMP, WILLKOMMEN IN TOLEDO, OHIO: WER IST Q … MILITÄRISCHER NACHRICHTENDIENST? Q+?» («Q+» ist QAnons Kürzel für Trump.)

Fliegende Händler verkauften Q-Buttons und -T-Shirts. QAnon-Merchandise gibt es in Massen. Online bekommen Sie Great-Awakening-Kaffee ($ 14,99) und Q-Armbänder mit kleinen silbernen Pizza-Anhängern ($ 20,17).

Ich arbeitete mich dem Ende der Schlange entgegen, unterhielt mich dabei hier und da, fragte nach QAnon. Eine Frau bekam leuchtende Augen, öffnete in einer flüssigen Bewegung den Reiss­verschluss ihrer Jacke, zog sie aus und wandte mir dann den Rücken zu. Sie hatte sich ein Q aus Panzer­band auf ihr rotes T-Shirt geklebt.

Sie heisse Lorrie Shock, sagte sie, und als Erstes schärfte sie mir Folgendes ein: «Wir sind keine Inlands­terrorgruppe.»

Shock ist in Ohio geboren und ist nie weggezogen – eine «Lebenslängliche», wie sie meint. Sie hat fast ihr ganzes Erwachsenen­leben lang bei Bridgestone gearbeitet, einem Zulieferer für die Autoindustrie. «Richtige Drecksarbeit, Bullenhitze, aber gutes Geld», sagte sie mir. «Ich habe so drei Kinder durch die Schule gebracht.» Heute, in ihrem Vorruhestands­job, wie sie es nennt, betreut sie Erwachsene mit Behinderung, spielt mit ihnen, hilft ihnen am Swimming­pool. Shock ist mit einem Freund zu Trumps Veranstaltung gekommen, Pat Harger. Seine Frau betreibt ein Catering­geschäft, deshalb konnte sie an dem Tag nicht mitkommen. Harger und Shock sind seit langem befreundet. «Seit der vierten Klasse», sagte mir Harger, «und wir sind jetzt 57.»

Seit Shocks Mädchen erwachsen sind und sie nicht mehr in der Fabrik arbeitet, hat sie mehr Zeit für sich selbst. Früher hiess das, dass sie abends Bücher las – einen Fernseher hat sie nicht. Jetzt recherchiert sie über Q, der ihr das erste Mal 2017 unterkam, als ein Bekannter ihn auf Facebook erwähnte: «Was mein Interesse geweckt hat, war das ‹Recherchieren›. Recherchiert selber. Glaubt nicht einfach alles. Ist mir egal, wer was sagt, und wenn es Präsident Trump ist. Recherchieren Sie selbst, bilden Sie sich eine eigene Meinung.»

Das QAnon-Universum ist so weitläufig wie tief; Schicht um Schicht häufen sich Kontext, Akronyme, Buchstaben, Zahlen und Kürzel, die alle zu lernen sind. Das «Schloss» – das castle – ist das Weisse Haus. «Krümel» – crumbs – sind Hinweise. CBTS steht für calm before the storm – die «Ruhe vor dem Sturm». Und WWG1WGA steht für Where we go one, we go all (Wo einer von uns hingeht, gehen wir alle hin) – was unter Q-Anhängern zu einer Art Solidaritäts­bekundung geworden ist. (Die Slogans kommen merkwürdiger­weise im Trailer des Ridley-Scott-Films «White Squall» von 1996 vor – auf Youtube sind die Kommentare zu diesem Film grösstenteils von Q-Sympathisanten.) Ausserdem gibt es eine Q clock, was sich auf einen Kalender bezieht, anhand dessen die eine oder andere Splitter­gruppe von Q-Anhängern Hinweise auf der Basis der Zeitstempel von Q-Drops und Trump-Tweets zu dechiffrieren versucht.

Auf dem Höhepunkt ihrer Hingabe verbrachte Shock vier bis sechs Stunden täglich mit der Lektüre von Q-Drops, durchsuchte Online-Dokumente, machte sich Notizen dazu. Jetzt, so sagt sie, verwendet sie darauf eher eine oder zwei Stunden am Tag. «Als ich damit anfing, hielten mich alle für verrückt», sagte sie. Das galt auch für ihre beiden Töchter, die «sehr liberale Hillary-und-Bernie-Anhänger sind», sagte Shock. «Ich liebe sie trotzdem. Sie halten mich für verrückt, aber das ist schon okay.»

Auch Harger dachte erst, sie sei übergeschnappt. «Ich wusste nicht so recht», sagte er mir, also habe er ihr gesimst.

«Er hat gedacht: ‹Was ist denn jetzt los?›», sagte Shock lachend. «Mein Kommentar dazu war einfach: ‹Recherchier doch selbst.›»

«Und das hab ich dann auch», sagte Harger. «Ich dachte mir: wow!»

Als hätte er sich das bei Trump abgeguckt, zieht Q immer wieder gegen legitime Informations­quellen als «Fake News» vom Leder. Shock und Harger verlassen sich eher auf Informationen, die sie auf Facebook finden, als auf die von Journalistinnen. Sie lesen weder das Lokalblatt, noch schalten sie die grossen Sender ein. «Man kann sich doch keine Nachrichten anschauen», sagte Shock. «Von Ihrem Nachrichten­sender erfahren Sie doch ’n Dreck.»

Harger meinte, ihm sage das One America News Network zu. Es sei noch gar nicht so lange her, da habe er CNN geguckt und konnte gar nicht genug kriegen von Wolf Blitzer, dem langjährigen Moderator. «Wir klebten richtig an der Glotze, wie eh und je», sagte er. «Bis uns der Mann da – Trump – die Augen geöffnet hat für das, was wirklich passiert. Und Q! Der sagt uns schon vorher, was alles passieren wird.» Ich bat Pat Harger und Lorrie Shock um Beispiele für Vorhersagen, die sich bewahrheitet hätten. Sie konnten mir keine bestimmten nennen und forderten mich stattdessen zur eigenen Recherche auf. Dann fragte ich sie, wie sie sich die Fälle erklärten, in denen von Q prophezeite Ereignisse doch nicht passiert seien, wie etwa Clintons Verhaftung. Sie meinten, Täuschung gehöre nun mal zu Qs Plan. «Ich denke», ergänzte Shock, «dass er mehr vorher­gesagt hat, was dann doch passiert ist.» Sie sagte das eher liebens­würdig, ohne Spur von Unwillen.

Harger bestand darauf, mir zu sagen, dass er einst Obama gewählt hat. Er sei in einer Familie von Demokraten aufgewachsen. Sein Vater war Gewerkschaftler. Aber das war alles, bevor Trump auftauchte und Harger davon überzeugte, nicht mehr den Institutionen zu trauen, von denen er gedacht hatte, er können ihnen sein Leben lang trauen. Shock pflichtete ihm nickend bei. «Ich habe das Gefühl, Trump eher trauen zu können, weil er nicht zum Establishment gehört», sagte sie.

Harger sagte mir, ich sollte mir doch ansehen, was John F. Kennedy Jr. passiert sei – der 1999 mit seiner Privat­maschine in der Nähe von Martha’s Vineyard in den Atlantik gestürzt und dabei ums Leben gekommen war. Hargers Ansicht nach hatte Hillary Clinton ihn ermorden lassen. (Alternativ dazu gibt es eine Gruppe von QAnon-Gläubigen, der zufolge JFK Jr. seinen Tod nur vorgetäuscht hätte, dass er hinter den Kulissen Trump unterstütze und womöglich selbst Q sei. Einige erhofften sich sein dramatisches Wiederauftauchen, um 2020 als Trumps Vize zu kandidieren.) Als ich Harger fragte, ob es denn irgendwelche Belege für seine Mordtheorie gebe, drehte er die Frage einfach um: «Gibt es denn Belege dafür, dass dem nicht so ist?»

Auf Shocks Facebook-Seite jagen sich die Wider­sprüche in einem endlosen Reigen von Banalität und Bösartigkeit. Ihr Profilfoto zeigt sie, übers ganze Gesicht strahlend, in einem gelben Kajak, eine Skimütze auf dem leuchtend roten Haar. Es finden sich Fotos von ihren Töchtern und eines von einer Enkelin mit Shirley-Temple-Locken. Aber Q ist nie weit entfernt. Heiligabend postete sie etwas, das direkt aus dem QAnon-Universum zu kommen schien, nahm jedoch eine ältere, klassische Verschwörung betreffend einen angeblichen UFO-Absturz 1947 in Roswell, New Mexico, hinzu: «X markiert die Stelle über Roswell NM. X17 Teilchen. Die Fünfte Kraft. X + Q Zufall?»

Am selben Tag unterstellte sie in einem separaten Post, dass Michelle Obama in Wirklichkeit ein Mann sei. Jemand reagierte skeptisch: «Ich bin noch nicht überzeugt. Sie zeigt alle Anzeichen des Bösen und handelt danach, aber ein Mann?» Shocks Antwort darauf: «Recherchier es.» Ausserdem fand sich ein Post, in dem sie behauptet, der demokratische Kongress­abgeordnete Adam Schiff hätte sich im Chateau Marmont in Los Angeles an der Leiche eines toten Jungen vergangen. Hier findet sich unter den Kommentaren Hargers ratloses «Hä??». Dann warnt sie davor, dass George Soros hinter Christlich-Evangelikalen her sei. In anderen Posts hänselt Shock eher spielerisch «Liberale» und ihre eigenen «Trump-hassenden Freunde». Und dann gibt es noch ein Video ihrer Tochter beim Singen von Weihnachts­liedern.

Noch in Toledo fragte ich Shock, ob sie irgendwelche Theorien hinsichtlich Qs Identität habe. Ohne zu zögern, sagte sie: «Ich denke, es ist Trump.» Ich fragte sie, ob Trump ihrer Ansicht nach überhaupt mit 4chan umgehen könne. Im Gegensatz zu Facebook und anderen sozialen Plattformen, die bewusst dafür sorgen, dass sich problemlos – und damit oft – posten lässt, ist 4chan bekannt dafür, Uneingeweihte durch seine Komplexität zu verwirren. «Ich denke, dass Trump weit mehr weiss, als wir denken», sagte sie.

Shock bestand allerdings darauf, mir klarzumachen, dass es bei ihrer Obsession mit Q keineswegs um Trump gehe. Darüber hatte sie sich erst nicht so recht äussern wollen. Jetzt sagte sie: «Ich spüre, dass Gott mich zu Q geführt hat. Wirklich, ich habe das Gefühl, Gott hat mich in diese Richtung geschubst. Ich spüre irgendwie, wenn das alles Lug und Trug wäre, Gott würde mir, durch meinen Geist, sagen: ‹Jetzt ist es aber genug.› Aber ich spüre das nicht. Ich bete deswegen. Ich habe ihn gefragt: ‹Vater, soll ich da Zeit drauf verschwenden?› Und ich habe einfach nicht das Gefühl, dass ich aufhören sollte

Arthur Jones ist der Regisseur des Dokumentar­films «Feels Good Man», der erzählt, wie Memes aus dem Internet während der Präsidentschafts­wahlen 2016 die Politik infiltrierten. Jones sagte mir, QAnon erinnere ihn an seine Kindheit in einer christlich-evangelikalen Familie in den Ozarks, einer Hochebene in den Bundes­staaten Missouri und Arkansas. Viele seiner Bekannten von damals, wie übrigens auch viele Leute, die er heute in den frommeren Teilen des Landes so kennen lerne, versuchten aus aufrichtigem Interesse an der Offenbarung des Johannes all deren «herzlich schwierig zu dechiffrierenden Prophezeiungen zu dekodieren». Weiter sagte Jones: «Ich denke mal, dass genau diese Art von Mensch plötzlich die Fäden von Q zu entwirren versucht und langsam, aber sicher das Gefühl hat, dass alles irgendwie Gestalt anzunehmen und Sinn zu ergeben beginnt. Aber sehen Sie sich Donald Trump doch mal aus der Sicht eines Evangelikalen an: Der Mann lügt, er betrügt, er war mehrere Male verheiratet, er ist so eindeutig ein Sünder. Diese Leute versuchen jedoch, ihn irgendwie als Teil von Gottes Plan zu sehen.»

Man kann nicht immer auf Anhieb sagen, mit welcher Sorte Q-Anhänger man es im Einzelfall zu tun hat. Jeder mit einem Q-Hashtag könnte ein wahrer Gläubiger sein – wie etwa Lorrie Shock – oder aber auch einfach jemand, der sich nur auf der Suche nach einem neuen Kick auf einer Website aufhält. Es gibt sicher Leute, die wissen, dass Q nur eine Fantasterei ist, die aber trotzdem schon deshalb mitmachen, weil QAnon etwas von einem im richtigen Leben angesiedelten Rollenspiel hat.

Shock und Harger scheinen prototypisch für Qs hydraköpfige Anhängerschaft. Qs Entdeckung hat in ihnen etwas losgetreten. Das Narrativ fügte sich nahtlos in ihr Weltbild ein.

IV. Profis

Q mag anonym sein, aber es haben sich in der Öffentlichkeit Galions­figuren heraus­gebildet, und jede für sich hat ein Riesen­publikum aufgebaut. David Hayes zum Beispiel ist besser unter seinem Online-Nick «Praying Medic» bekannt. In seinen Youtube-Videos strahlt er die gesetzte Autorität und Energie eines Sekundarschul­rektors aus. «Praying Medic» ist einer von QAnons weltweit bekanntesten Predigern. Er hat über 300’000 Twitter-Follower und eine ähnlich hohe Zahl von Abonnentinnen auf Youtube.

Hayes, ein ehemaliger Sanitäter, wohnt in einer Siedlung terrakotta­gedeckter Häuser in Gilbert, Arizona; seine Frau Denise, eine Künstlerin, lernte er 2007 auf der Datingsite Christian Mingle kennen. Beide bezeichnen sich als ehemalige Atheisten, die nach gescheiterten Ehen spät im Leben zu Gott und zueinander gefunden haben. Hayes verfolgte Q von Anfang an – oder fast. «Q Anon ist verflixt interessant», schrieb er am 12. Dezember 2017 auf seiner Facebook-Seite, das war nur sechs Wochen nach Qs erstem Post auf 4chan. Noch am selben Tag berichtete er, plötzlich eine Berufung gespürt zu haben:

Gott hat mir in meinen Träumen zu verstehen gegeben, dass ich mich weiter auf Politik und Zeitgeschehen konzentrieren soll. Nach einigen Gebeten habe ich mich entschlossen, auf Periscope eine regelmässige Nachrichten­show übers Zeitgeschehen zu machen. Ich versuche auf eine Sendung pro Tag zu kommen. (Die Videos sind auch auf meinem Youtube-Kanal zu sehen.) Das ist alles.

Hayes ist ein Superstar im Q-Universum. Sein Video «Q für Anfänger, Teil 1» wurde über eine Million Mal gesehen. «Einige von denen, die Q folgen, würden sich als Verschwörungs­theoretiker bezeichnen», sagt Hayes im Video. «Ich sehe mich nicht als Verschwörungs­theoretiker. Ich verstehe mich als Q-Rechercheur. Ich habe nichts gegen die Leute, die Verschwörungen folgen. Das ist deren Ding. Meins ist das nicht.»

Hayes hat allein schon seiner Allgegenwart im Web wegen eine Gefolgschaft um sich geschart, aber nicht zuletzt auch, weil er sich als Skeptiker gibt – ich gehöre nicht zu den Spinnern. Aber ein Hobby ist das Ganze für ihn beileibe nicht mehr; er ist ein Profi. Er bezieht ein stetes Einkommen aus seiner Beschäftigung, im Augenblick eher noch bescheiden, aber es wird von Tag zu Tag mehr. Auf Amazon verkauft er sein Buch «Calm Before the Storm», das erste einer – eigenen Angaben nach – womöglich zehnbändigen Reihe mit dem Titel «Q-Chronicles», für 15,29 Dollar. Wie Hayes im Vorwort schreibt, ist QAnon für ihn und Denise seit 2017 eine Vollzeit­beschäftigung. «Denise und ich sehen uns durch die Unterstützung derer gesegnet, die es uns ermöglicht haben, unsere übliche Arbeit beiseite­zulegen, um Qs Botschaften recherchieren zu können», schreibt er.

Er hat darüber hinaus weitere Bücher veröffentlicht, die Einblick in sein früheres Leben geben. Einige der Titel lauten «Hearing God’s Voice Made Simple», «Defeating Your Adversary in the Court of Heaven» und «American Sniper: Lessons in Spiritual Warfare». 2018 liess Hayes «Praying Medic» im Bundesstaat Washington als religiöse Non-Profit-Organisation registrieren.

Wie Hayes seine Anhänger wissen lässt, hält er Q für eine nachrichten­dienstliche Open-Source-Operation von Patrioten, die mit den Möglichkeiten des Internets einen Kampf gegen die Korruption in der Geheim­dienst­gemeinde führen. Seiner Interpretation nach legt der im Grunde seines Wesens religiöse Q seinen Schwerpunkt auf eine Grosse Erweckung. «Ich glaube, dass Die Grosse Erweckung eine zweifache Bedeutung hat», schrieb er im November 2019 in einem Blogpost:

Es steht für ein intellektuelles Erwachen – die Öffentlichkeit erkennt die Wahrheit, dass wir Sklaven eines korrupten politischen Systems sind. Aber die Aufdeckung der unvorstellbaren Verkommenheit der Eliten wird auch zu einem gesteigerten Bewusstsein unserer eigenen Verkommenheit führen. Die Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit ist ein fruchtbarer Boden für eine spirituelle Erneuerung. Ich glaube, die lang prophezeite spirituelle Erweckung liegt auf der anderen Seite des Sturms.

Darin, dass eine mit der Erlösung verbundene Grosse Erweckung bevorsteht, ist Qs Gefolgschaft sich einig. Unterschiede gibt es dagegen in ihrer persönlichen Beschäftigung mit dem Hier und Jetzt. Einige in der Welt von QAnon konzentrieren sich insbesondere auf eine gefühlte Verkommenheit der Mainstream-Medien, eine Auffassung, die sie in gleichem Masse von Q und Trump gefördert sehen.

Anderen sind die Geheimdienst­gemeinde und die Vorstellung vom tiefen Staat zur Obsession geworden. Eine aktive Unter­gruppe von Q-Anhängerinnen beschäftigt der Fall Jeffrey Epstein. Dann gibt es eine Fraktion, die von einem 16-Jahres-Plan von Hillary Clinton und Barack Obama wissen will, der auf die Vernichtung der USA mittels landesweiter Dürren, labor­geschaffener Krankheiten, Nahrungsmittel­knappheit und Atomkrieg abzielt. Während der Ermittlungen zur russischen Einmischung in die Präsidentschafts­wahl von 2016 vertraten einige Q-Anhänger die Idee, Trump stecke insgeheim mit Robert Mueller unter einer Decke und dass der Bericht des Sonder­beauftragten sowohl Trump entlasten wie auch zu Massen­verhaftungen von Mitgliedern der korrupten Kabale führen würde. (Muellers Bericht 2019 entlastete weder Trump, noch führte er zu Verhaftungen.)

All diese unterschiedlichen Ableger haben nicht nur massgeblich dafür gesorgt, dass QAnon nichts von seiner Stosskraft verloren hat – es handelt sich hier um ein Glaubens­system mit einer enormen Toleranz für Wider­sprüche –, sie ermöglichen es auch einem Praktiker wie Hayes, die Rolle zu spielen, die er spielt. QAnon ist so komplex wie verwirrend. Menschen aus allen Winkeln des Internets lechzen nach der Führung von jemandem, der so vernünftig zu sein scheint wie er. (So hat David Hayes etwa umgehend auf meine E-Mails geantwortet, auch wenn er meine Bitten um ein Interview abgelehnt hat. Er beklagte sich mir gegenüber, dass Journalistinnen sich weigerten, QAnon als das zu sehen, was es wirklich ist, weshalb ihnen nicht zu trauen sei.)

Die Präsenz von QAnons prominentesten Vertretern reicht weit hinaus selbst über die grössten Social-Media-Plattformen und Imageboards. Das Q-Universum umfasst zahlreiche Blogs, proprietäre Websites und Arten von Chat-Software. Darüber hinaus alternative Plattformen wie Gab, eine für ihren Antisemitismus und weissen Nationalismus bekannte Site, auf der sich so einige tummeln, die sich von Twitter verbannt sahen.

Andere Vlogger und Blogger promoten ihre Patreon-Accounts, wo die User monatlich eine bestimmte Summe bezahlen. Und auch mit Werbung auf Youtube ist Geld zu verdienen. Was denn auch das Haupt­augenmerk von Hayes zu sein scheint, dessen Videos über 33 Millionen Mal geschaut wurden. Zu seinem Video «Q for Beginners» zeigt man Anzeigen von Sites wie Vrbo, auf der Leute Häuser oder Wohnungen an Urlauber vermieten, und der «Epoch Times», einem internationalen Trump-freundlichen Blatt.

Q-Evangelisten arbeiten nach dem Grundsatz, «überall zu veröffentlichen», was zum einen auf Publikums­wirksamkeit hinausläuft, zum anderen auf Redundanz. Wenn eine Plattform gegen QAnon vorgeht, wie das etwa Reddit getan hat, dann braucht die Bewegung nicht noch mal irgendwo anders bei null anzufangen. Und nachdem man bereits mitten in der Schlacht zwischen Gut und Böse steckt, hat QAnon sich noch in eine andere Schlacht eingemischt, nämlich der zwischen der Vorstellung von einem offenen Web und einem geschlossenen Internet, das von einigen wenigen Mächtigen kontrolliert wird.

V. Wer ist Q?

Im Dezember 2018 wurde auf dem Rollfeld eines Flughafens Matt Patten zusammen mit Vizepräsident Mike Pence fotografiert. Patten ist ein ehemaliger Sergeant des dem Sheriff unterstellten SWAT-Teams in Broward County, Florida.

Patten trug auf seiner taktischen Weste den Buchstaben «Q». Das Büro des Vizepräsidenten twitterte das Foto, das daraufhin wie ein Lauffeuer durch die QAnon-Community ging. Der Tweet wurde unmittelbar darauf wieder zurück­gezogen. Patten sah sich degradiert. Als ich an einem wolken­verhangenen Tag im August bei ihm zu Hause an die Tür klopfte, antwortete niemand. Als ich mich zum Gehen wandte, bemerkte ich zwei grosse Aufkleber auf dem weissen Briefkasten vor dem Haus. Auf dem einen stand «trump», auf dem anderen «#qanon: patriots fight».

Illustration: Arsh Raziuddin. Animation: Vishakha Darbha

Im Sommer 2019 verlor Q seine angestammte Plattform. Er war (aus Angst, man habe die Site «infiltriert») von 4chan auf das Imageboard 8chan umgezogen, dann war 8chan plötzlich verschwunden. Drei Tage bevor ich bei Patten anklopfte, hatte jemand in einem Walmart im texanischen El Paso 22 Menschen erschossen, und die Polizei hatte kurz vor dem Attentat auf 8chan ein Manifest des mutmasslichen Mörders entdeckt.

Der Zwischenfall wies unheimliche Ähnlichkeiten zu zwei anderen Attentaten auf. Vier Monate zuvor, im April 2019, hatte der mutmassliche Täter vor seinem Amoklauf in einer Synagoge im kalifornischen Poway auf 8chan einen antisemitischen Post abgesetzt. Und einige Wochen vor ihm hatte der Mann, der in Neuseeland in zwei Moscheen 51 Gläubige erschoss, auf 8chan ein White-Supremacy-Manifest gepostet.

Nach dem Attentat in El Paso wurde Jim Watkins, der Betreiber von 8chan, vor den Ausschuss des Repräsentanten­hauses für innere Sicherheit zitiert. Watkins hatte die Site vier Jahre zuvor von ihrem Gründer, dem heute 26-jährigen Frederick Brennan, erworben, der schliesslich alle Verbindungen zu 8chan kappte. «Bedauerlicherweise ist das dieses Jahr mindestens der dritte Fall von extremistischer Gewalt mit White-Supremacy-Hintergrund und Verbindungen zu Ihrer Website», schrieben die Abgeordneten Bennie Thompson, ein Demokrat aus Missouri, und Mike Rogers, ein Republikaner aus Alabama, in Watkins’ Vorladung. «Der amerikanische Bürger hat ein Recht darauf, zu wissen, was Sie als Besitzer und Betreiber unternehmen, um sich der Verbreitung extremistischer Inhalte auf 8chan zu stellen.»

8chan hatte bereits einige wesentliche Dienst­leister verloren, was die Schliessung der Site erzwungen hatte. Der CEO von Cloudflare, einem Sicherheits­dienstleister, der die Site vor Cyber­attacken schützte, erklärte seine Entscheidung, 8chan fallen zu lassen, nach dem Attentat in El Paso in einem offenen Brief: «Die Erklärung dafür ist einfach: Sie haben sich als gesetzlos erwiesen, und diese Gesetz­losigkeit hat zu zahlreichen tragischen Todes­fällen geführt.»

Watkins versprach, die Site bis zu seiner Aussage vor dem Kongress vom Netz zu nehmen. Watkins war einst Helikopter­mechaniker bei der US-Armee und stieg noch während seiner Dienstzeit ins Website-Geschäft ein. Unter anderem startete er 1997 eine erfolgreiche Pornosite namens Asian Bikini Bar. Auf seinem Youtube-Kanal, wo er unter dem Namen «Watkins Xerxes» postet, singt er gern Kirchen­lieder, liest aus der Bibel, lobt Trump und spricht grundlegende QAnon-Themen an, warnt vor dem deep state und erinnert seine Abonnenten daran, sie seien jetzt «der Berichts­mechanismus für News». Darüber hinaus zeigt er gern seine Sammlung von Füllfeder­haltern und macht Yoga.

Als er im September 2019 zu seiner Aussage auf dem Capitol Hill eintraf, hatte Watkins ein dickes silbernes Q an seinen Kragen gepinnt. Seine Aussage machte er unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Im November erfolgte die zeitweise Wieder­auferstehung von 8chan unter dem Namen 8kun. Das Board war nur sporadisch nutzbar, da es sich gegen eine Reihe von Cyber­attacken zu wehren hatte. Hilfestellung erfuhr es von einem russischen Hoster, der für die Verbreitung von Malware bekannt ist. Als Q schliesslich auf 8kun wieder auftauchte, benutzte er denselben Tripcode, mit dem er auch auf 8chan gepostet hatte. Um sich zu identifizieren, postete er weitere Hinweise, darunter ein Foto eines Notebooks und eines Füllfeder­halters, die auch schon in früheren Posts zu sehen gewesen waren.

8chan-Gründer Frederick Brennan vertritt die Theorie, dass Jim und sein Sohn Ron, der als Administrator der Site fungiert, sehr wohl wussten, dass 8kun Q brauchte, um User anzuziehen. «Ich bin definitiv, definitiv der Ansicht, hundert­prozentig, dass Q entweder Jim oder Ron Watkins kennt oder von Jim oder Ron Watkins angeheuert wurde», sagte mir Brennan.

Jim und Ron bestreiten beide, Qs Identität zu kennen. «Ich weiss nicht, wer Q ist», sagte mir Ron in einer Twitter-Nachricht. Und Jim sagte einem Interviewer des One America News Network im September 2019: «Ich weiss nicht, wer QAnon ist. Wirklich, wir betreiben eine anonyme Website.»

Beide beteuern, ihnen liege nur daran, 8kun zu unterhalten, weil es eine Plattform für die uneingeschränkte Meinungs­freiheit ist. «8kun ist wie ein Blatt Papier, was darauf geschrieben wird, entscheidet der User», sagte mir Ron. «Es gibt viele unterschiedliche Themen.» Ihr Interesse an Q ist jedoch bestens dokumentiert. Im Februar rief Jim einen Super-PAC namens «Entwaffnet den Tiefen Staat» ins Leben, der Qs Botschaften nachbetet und Werbung auf 8kun finanziert.

Brennan liegt seit langem schon mit Jim und Ron Watkins heftig im Clinch. Jim hat Brennan auf den Philippinen gegen Verleumdung verklagt, wo die beiden bis vor kurzem gelebt haben, und Brennan setzt sich vehement gegen Jims dortige Einbürgerung ein. «Sie haben Q am Leben erhalten», sagte mir Brennan. «Wir würden hier nicht miteinander reden, wäre Q nicht auf das neue 8kun gekommen. Wir reden überhaupt nur miteinander darüber, weil die beiden direkt mit Q in Verbindung stehen. Und wissen Sie was, ich mache mir dauernd Sorgen, dass es, womöglich schon im November 2020, wenn Trump nicht gewinnt, zu irgendeinem Attentat oder was mit Bezug zu Q kommt. Oder dass Eltern ihre Kinder umbringen, um sie vor der Höllenwelt zu schützen, die uns bevorsteht, weil der deep state gewonnen hat. Das sind reelle Möglichkeiten. Ich finde einfach, dass es total unverantwortlich von denen war, Q das Weitermachen zu ermöglichen.»

Qs Geschichte baut auf seiner anhaltenden Anonymität. Deshalb hatte er sich ja 4chan ausgesucht, einen der letzten Winkel im sozialen Web, der Anonymität garantierte. «Ich habe des Öfteren schon auf die Nähe von Q zu Figuren wie John Titor und Satoshi Nakamoto hingewiesen», sagte Brennan in Anspielung auf zwei Legenden der Internet-Anonymität. Satoshi Nakamoto ist das Pseudonym des nach wie vor unbekannten Schöpfers der Bitcoin-Währung; John Titor ist der Name, unter dem sich 2000 und 2001 jemand auf mehreren Messageboards als zeitreisender Soldat aus dem Jahr 2036 ausgab.

QAnon-Anhänger sehen Qs Anonymität als Beweis für seine Glaubwürdigkeit – und das trotz ihres tiefen Misstrauens gegenüber ungenannten Quellen in den Medien. Jede Fraktion von QAnon hat ihre eigenen Eingebungen, Bündnisse und Zwistigkeiten bezüglich Qs Identität. Ihre Theorien fallen im weitesten Sinne in drei Kategorien.

Die erste Gruppe umfasst all die, die in Q eine Einzelperson sehen, die von Anfang an allein gepostet hat. Darunter fallen auch die, deren Ansicht nach Trump selbst oder gar «Praying Medic» Q ist. (In diese Kategorie gehört auch die ausserhalb von QAnon aufgekommene Möglichkeit, dass es sich bei Q um einen einzelnen Trump-Anhänger handelt, der seine Posts als eine Art Fanfiction begann, ohne dass ihm klar gewesen war, was er damit auslösen würde; wie auch die Idee, dass Q zunächst postete, um Trump und seine Anhänger zu parodieren, ohne zu ahnen, dass man ihn ernst nehmen würde.)

Der zweiten Gruppe zufolge postete der ursprüngliche Q eine Zeit lang allein, was sich dann irgendwann änderte. In diese Gruppe gehört Brennans Vermutung, gemäss der Ron und Jim Watkins heute entweder Q selbst oder jemand anderen dafür bezahlen, Qs Rolle zu spielen, wenn sie nicht gar selbst als Q tätig sind.

Der dritten Theorie zufolge handelt es sich bei Q um ein Kollektiv, eine kleine Zahl von Leuten, die sich Qs Account teilt. In diese Gruppe fällt auch die Auffassung, es handle sich bei Q um eine Art von militärischem Open-Source-Geheimdienst.

Viele QAnon-Anhänger wollen eine Bedeutung darin sehen, dass in Trumps Tweets immer wieder Wörter mit «Q» beginnen. Sie sehen sich darin durch jüngste Ereignisse von Weltbedeutung bestärkt. «Ich bin ein grosser Freund und Bewunderer der Queen & des Vereinigten Königreichs», begann Trump einen Tweet am 29. März dieses Jahres. Tags zuvor hatte er getwittert: «Ich erwäge eine QUARANTÄNE.» Die Leute griffen beide Tweets sofort auf und argumentierten, wenn man den grössten Teil der Buchstaben in den Tweets ignoriere, dann bleibe Trumps Geständnis: «Ich bin … Q.»

VI. Vernunft vs. Glaube

Voriges Jahr traf ich mich in einem Café in Miami mit einem Mann, dessen Forschung in Sachen Verschwörungs­erzählungen in den letzten Jahren einigen Staub aufgewirbelt hat: Joseph Uscinski, Professor für Politik­wissenschaften an der Universität Miami. Ich kenne Uscinski seit Jahren; seine Ansichten sind nuanciert, fundiert und fernab jeder impulsiven Voreingenommenheit.

Viele Leute, so sagt er mir, nehmen an, die Neigung zu konspirativem Denken sei nach ideologischen Linien zu kalkulieren. Womit sie jedoch völlig falsch lägen, wie er erklärte. Weit sinnvoller sei es, konspiratives Denken als unabhängig von Partei­politik zu sehen. Es handle sich dabei vielmehr um eine besondere Art von mentaler Verschaltung, die sich generell durch die Akzeptanz folgender Thesen charakterisiert: Unser Leben unterliegt der Kontrolle durch an geheimen Orten ausgeheckte Pläne. Auch wenn wir angeblich in einer Demokratie leben, zieht in Wirklichkeit eine kleine, uns unbekannte Gruppe von Leuten die Fäden. Wann immer es zu «grossen» Ereignissen wie Pandemien, Rezessionen, Kriegen oder Terror kommt, geschieht dies, weil diese Gruppe im Verborgenen gegen den Rest von uns intrigiert.

Es handle sich bei QAnon, so fuhr Uscinski fort, keineswegs um eine Verschwörung am rechten Flügel, wie das immer wieder zu hören sei, und so offensichtlich Trump-freundlich das Narrativ auch sei. Was daran liege, dass Trump nicht der typische Politiker vom rechten Flügel sei. Q finde Anklang bei Menschen mit der grössten Affinität für Verschwörungs­mythen, egal welcher Art, und dieser Appeal greife über ideologische Grenzen hinweg.

Viele aus dem für Verschwörungs­erzählungen besonders anfälligen Personenkreis sehen sich als Opfer und Krieger in Personalunion im Kampf gegen ebenso mächtige wie korrupte Kräfte. Mainstream-Eliten sind ihnen verhasst. Das trägt auch zur Erklärung bei, warum Zyklen von Populismus und konspirativem Denken im Tandem aufzukommen und wieder zu fallen scheinen. Konspiratives Denken ist zugleich Ursache und Folge von etwas, was der Historiker Richard Hofstadter 1964 in einem berühmten Essay als den «paranoiden Stil» der amerikanischen Politik bezeichnete.

Es wäre jedoch jetzt falsch zu denken, Verschwörungs­erzählungen seien nur Randerscheinungen der amerikanischen Geschichte. Kein grösseres nachrichten­würdiges Ereignis, das sie nicht durchzögen: die Ermordung John F. Kennedys, die Mondlandung, 9/11. Sie halfen, folgenschwere Entgleisungen in Gang zu halten wie etwa den McCarthyismus der 1950er-Jahre und den Antisemitismus zu jedem Zeitpunkt, der einem einfällt.

Doch QAnon ist anders. Die Bewegung mag von Paranoia und Populismus getrieben sein, es treibt sie darüber hinaus aber auch ein Glaube religiöser Art. Die Sprache des evangelikalen Christentums ist zum definierenden Element der Q-Bewegung geworden. QAnon vermählt einen Appetit nach dem Konspirativen mit dem an sich positiven Glauben an eine radikal andere und bessere vorher­bestimmte Zukunft.

Das war denn auch der Grund, weshalb sich Uscinskis 62-jährige Mutter Shelly von QAnon angezogen fühlt. Shelly, die in New Hampshire lebt, klickte vor einigen Jahren auf Youtube herum, auf der Suche nach irgendwelchen Anleitungen – sie weiss nicht mehr genau, was; möglicherweise sollten die Fenster an ihrem Auto strahlen –, und der Algorithmus präsentierte ihr QAnon. Sie erinnert sich daran, sich irgendwie magnetisch angezogen zu fühlen: «Und ich so: ‹Wow, was ist das denn?›», erinnerte sie sich bei einem Gespräch per Telefon mit mir. «Für mich tat sich da so einiges auf, worauf ich ja vielleicht gehofft hatte, dass es dazu kommen würde.» Sie hatte das Gefühl, dass Q ihre Ängste kenne – als hätte da jemand ihre Gedanken aufgenommen und «in Worte gefasst».

Shellys Frustration ist breit gefächert und richtet sich in der Hauptsache gegen Einrichtungen, die nach ihrer Meinung kaputt­gegangen sind. So hat sie etwa vom Bildungs- und vom Finanz­system ebenso die Nase voll wie von den Medien. «Sogar mit unseren Kirchen stimmt etwas nicht mehr», sagte sie. Etwas, was sie an Q besonders ansprach, war seine Entrüstung über all «die Fake News». Sie bezieht ihre Informationen in der Hauptsache von Fox News, Twitter und der Tageszeitung «New Hampshire Union Leader». «Zu meinen Lebzeiten, denke ich mal, ist alles nach und nach schlechter geworden», sagte Shelly. Und kurz darauf schob sie nach: «Q gibt uns Hoffnung. Und Hoffnung ist etwas Gutes.»

Shelly gefällt, dass Q gelegentlich aus der Heiligen Schrift zitiert, und auch dass er die Menschen zum Beten anhält. Letztlich, so sagte sie, geht es bei QAnon um etwas viel Grösseres als Trump oder sonst jemanden. «Es gibt da draussen Anhänger von QAnon», sagte Shelly, «die darauf hinweisen, dass das, was wir durchmachen in diesem verrückten politischen Klima, das, was wir jetzt haben, mit all den Dingen, die da weltweit passieren, ausgesprochen biblisch – und dass das jetzt Armageddon ist.»

Ich fragte sie, ob uns ihrer Ansicht nach das Ende der Welt bevorstehe. «Das würde mich nicht überraschen», sagte sie.

Joseph Uscinski macht der Glaube seiner Mutter an QAnon Sorgen, er möchte sich aber nicht weiter dazu äusseren. Und Shelly hat nicht viel Sinn für die Ironie ihrer familiären Situation, schon weil QAnon für sie erst gar kein Verschwörungs­mythos ist. Als ich während unserer Unterhaltung auf QAnon bezogen einmal von konspirativem Denken sprach, fiel sie mir sofort ins Wort: «Es ist keine Theorie. Das sind Vorhersagen von etwas, was passieren wird.» Sie lachte aus vollem Hals, als ich sie fragte, ob sie je versucht habe, ihren Sohn Joseph zu QAnon zu bekehren. Die Antwort war ein unmissverständliches Nein: «Ich bin seine Mom, also liebe ich ihn.»

VII. Apokalypse

Für Beobachterinnen, die nach der Endzeit Ausschau halten, lassen sich spielend Anzeichen für den bevor­stehenden Untergang finden – in Form von Kometen und Erdbeben, Kriegen und Pandemien. So ist das immer gewesen.

1831 ging ein Baptistenprediger namens William Miller im ländlichen New York mit seinen Vorhersagen hinsichtlich einer unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Christi an die Öffentlichkeit. Mit dem 22. Oktober 1844 nannte er schliesslich sogar den exakten Tag. Als am 23. Oktober die Sonne aufging, waren seine Anhänger – die Milleriten – erschüttert. Der Vorfall ging als «die Grosse Enttäuschung» in die Geschichte ein.

Nicht dass die Milleriten deswegen aufgegeben hätten. Aus ihnen wurden die Adventisten und aus diesen wiederum die Siebenter-Tag-Adventisten, die heute weltweit mehr als zwanzig Millionen Mitglieder zählen. «Diese Leute in der QAnon-Community – also, ich finde, dass die sich genauso verrannt haben wie damals die Milleriten», sagte mir Travis View, einer der Moderatoren eines Podcasts mit Namen «QAnon Anonymous», der QAnon auf spöttische Art analysiert. «Das macht mich ziemlich zuversichtlich, dass diese ganze Geschichte mit dem Ende von Trumps Präsidentschaft zu Ende geht.»

QAnon setzt eine mehrere tausend Jahre alte Tradition apokalyptischen Denkens fort. Sie bietet eine Polemik, die Menschen Hoffnung gibt, die sich wurzellos fühlen. In seinem Buch «The Pursuit of the Millennium: Revolutionary Millenarians and Mystical Anarchists of the Middle Ages» («Das Ringen um das Tausendjährige Reich») von 1957 beschäftigt sich der Historiker Norman Cohn mit Aufkommen und Entwicklung des apokalyptischen Denkens über viele Jahrhunderte hinweg. Er stellte dabei eine Gemeinsamkeit fest: Diese Art von Denken tauchte immer in Regionen auf, in denen es zu schnellen sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen kam – und das zu Zeiten, in denen einige einen Wohlstand zur Schau stellten, der für den Grossteil der Zeitgenossen schlicht nicht erreichbar war. Das galt für Europa während der Kreuzzüge im 11. Jahrhundert, während der Pest in Europa im 14. und 16. Jahrhundert, und in William Millers New York im 19. Jahrhundert. Es gilt auch für das Amerika des 21. Jahrhunderts.

Die Siebenter-Tag-Adventisten und die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage sind florierende religiöse Bewegungen, die beide in Amerika heimisch sind. Seien Sie nicht allzu überrascht, wenn QAnon zu einer weiteren wird. QAnon hat heute schon mehr Anhänger, als jede der andern beiden in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens gehabt hat. Die Menschen drücken ihren Glauben durch das hingebungs­volle Studium von Q-Drops als in Fortsetzungen entstehendem Gründertext aus, durch den Aufbau von Kultusgruppen und durch ausladende Dankbarkeits­erklärungen für das, was Q ihrem Dasein gebracht hat.

Spielt es eine Rolle, dass wir nicht wissen, wer Q ist? Das Göttliche war seit jeher ein Mysterium. Spielt es eine Rolle, dass die grundlegenden Aspekte von Qs Lehren nicht zu bestätigen sind? Auch die grundlegenden Glaubens­sätze des Christentums lassen sich nicht bestätigen. In der QAnon-Gemeinde bleibt der Glaube absolut. Wahre Gläubige sprechen von einem Gefühl der Wiedergeburt, einem irreversiblen Erwachen existenziellen Wissens. Sie sind sich sicher, dass eine Grosse Erweckung bevorsteht. Und sie werden auf die Erlösung so lange warten, wie es nötig ist.

Vertraut auf den Plan.

Geniesst die Show.

Nichts kann aufhalten, was da kommt.

Hinweis: In einer ersten Version war von einem «2-Milliarden-Dollar-Hilfspaket» für die amerikanische Wirtschaft die Rede, über das Ende März beraten wurde. Es handelt sich dabei jedoch um Billionen (im Originaltext trillion). Wir bitten um Entschuldigung.

Zur Autorin

Adrienne LaFrance ist Executive Editor des Magazins «The Atlantic», wo sie zuvor leitende Redaktorin war; ausserdem war sie Herausgeberin von TheAtlantic.com. Der vorliegende Beitrag ist Teil des «Shadowland»-Projekts über konspiratives Denken in den USA.

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