Die New Coronomy
Wenn die Videocall-Software Zoom gleich viel wert ist wie die zehn grössten Airlines zusammen, dann hat die Pandemie einiges auf den Kopf gestellt. Vier erstaunliche Grafiken zur neuen Corona-Börsenwelt.
Von Simon Schmid, 25.01.2021
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Um einen privaten Event live zu übertragen, habe ich letztes Jahr einen Pro-Zugang für Zoom abonniert. Kostenpunkt: 15 Dollar pro Monat.
Offensichtlich war ich nicht der Einzige, der sich während der Pandemie an Videoconferencing gewöhnen musste. Mehrere hundert Millionen Teilnehmerinnen halten sich nach Angaben von Zoom täglich in Videomeetings auf. Eine halbe Million Kleinunternehmen nutzen Zoom professionell. Und über tausend Firmenkunden bezahlen dem Dienst sogar mehr als 100’000 Dollar pro Jahr.
Das sind eindrückliche Zahlen. Und ich muss mich an der Nase nehmen: Schade, habe ich vergangenes Jahr nicht auch Aktien von Zoom gekauft.
Denn die Techfirma mit Sitz im kalifornischen San José ist eine absolute Senkrechtstarterin. In knapp zwei Jahren hat sich ihr Kurs verfünffacht.
Zoom ist damit nicht nur eines der erfolgreichsten Software-Start-ups aller Zeiten. Sondern die Firma hat auch eine Art Schallmauer durchbrochen.
Sie hat nämlich inzwischen einen Wert von über 100 Milliarden Dollar.
Zoom vs. Airlines
Doch das Verrückteste an dieser Geschichte sind nicht einmal die Zahlen.
Es ist der Vergleich.
Zoom bringt an der Börse nämlich zurzeit einen ähnlich grossen Marktwert auf die Waage wie die zehn grössten Airlines der Welt – zusammengezählt sind es 112 Milliarden Dollar gegenüber 154 Milliarden.
Ich will es genauer wissen: Was ist der Börsenwert einer Firma?
Der Börsenwert wird auch als Marktkapitalisierung bezeichnet. Es ist der Preis, den jemand theoretisch zahlen müsste, um die Firma aufzukaufen. Hat eine Firma zum Beispiel 1 Million Aktien ausgegeben, die an der Börse zu 23 Dollar gehandelt werden, so beträgt der aktuelle Börsenwert dieser Firma 23 Millionen Dollar.
Um zu verstehen, wie so etwas sein kann, muss man etwas ausholen.
Zoom wurde 2011 vom chinesischen Netzwerkingenieur Eric Yuan gegründet. Das Start-up durchlief eine Bilderbuchkarriere: 2013 wurde die Software veröffentlicht, ein Videoconferencing-Tool mit Chatfunktion. Bald hatte sie Millionen von Nutzerinnen. 2017 kam die Investmentfirma Sequoia Capital mit 100 Millionen Dollar an Bord, 2019 folgte schliesslich der Börsengang.
Schon damals wurde Zoom von Anlegern sportlich bewertet. Die Firma erzielte gerade einmal 6 Millionen Dollar Betriebsgewinn und war trotzdem 20 Milliarden Dollar wert – ein Verhältnis von 1 zu 3333. Bewertungen in dieser Grössenordnung sind nur dann gerechtfertigt, wenn man annimmt, dass ein Unternehmen seinen Gewinn in der Zukunft enorm steigern kann.
Völlig falsch waren diese Erwartungen nicht. Tatsächlich ist Zoom stark gewachsen: Der Betriebsgewinn beträgt mittlerweile gut 400 Millionen Dollar. Und so hat sich auch das Verhältnis etwas normalisiert. Der Börsenwert von Zoom ist «nur» noch rund 270-mal so hoch wie der Gewinn.
Auch diese Zahl ist jedoch extrem hoch. Besonders im Vergleich mit den Airlines: Sie werden aktuell – gemessen am Gewinn des Jahres 2019, also noch vor der Pandemie – zu einem bloss 6-mal so hohen Wert gehandelt.
Anhand von solchen Verhältniszahlen wird klar: Die Pandemie hat die Wirtschaft auf den Kopf gestellt. Die Luftfahrt ist zwar noch immer ein wichtiger Zweig: Trotz teilweisem Grounding gaben Konsumentinnen zuletzt bei den zehn grössten Airlines bei weitem mehr Geld aus als bei Zoom.
Aber eben: Die Gewinn- und Wachstumschancen werden komplett anders eingestuft. Southwest Airlines, die wertvollste Luftfahrtgesellschaft der Welt, dürfte dieses Jahr fast 4 Milliarden Dollar Verlust machen. Erst im Jahr 2022 soll Southwest Airlines nach Einschätzungen von Analysten wieder profitabel sein.
Zoom dagegen ist eine Tech-Firma. Sie erzielt mit wenig Mitarbeitenden viel Gewinn – und steigert diesen von Quartal zu Quartal. Das mögen Investoren, wie sich auch an anderen Unternehmen des Technologiebereichs zeigt.
Apple vs. Banken
Das Paradebeispiel dafür ist Apple. Und auch hier lässt sich – wie bei Zoom – ein passender Vergleich aufstellen: Die Herstellerin von Computern und Handys ist etwa gleich viel wert wie die zehn grössten Banken der Welt.
Anders als Zoom beruht der Marktwert hier aber nicht auf dem Prinzip Hoffnung. Apple ist bereits heute ein Unternehmen der Superlative:
Unter allen Firmen, die an der Börse gehandelt werden, erwirtschaftet Apple am zweitmeisten Gewinn.
Apple erzielt auch den sechsthöchsten Umsatz.
Und Apple ist schon seit geraumer Zeit die wertvollste von allen Firmen.
Seit fünfzehn Jahren legt der Aktienkurs von Apple kontinuierlich zu. Die Vergangenheit spricht also ebenso für das Unternehmen wie die Zukunft.
Dies reflektiert sich auch in der Bewertung. Das Verhältnis von Börsenwert zu Betriebsgewinn beträgt bei Apple ungefähr 1 zu 30. Das ist ein Wert, den man bei einer gesunden Firma mit guten Aussichten etwa erwarten würde.
Ganz anders als Apple sind die Aktien der grossen Banken gelaufen. Egal ob sie aus den USA, aus China oder aus Europa stammen: Ihre Kurse treten seit der Finanzkrise an Ort und Stelle. Einzig die Royal Bank of Canada oder die amerikanische J.P. Morgan Chase haben an der Börse etwas an Wert zugelegt.
Amazon vs. Pharma
Ein weiterer Riese aus der Technologiewelt ist Amazon. Die Firma, die 1994 als Online-Buchhändlerin gestartet ist und inzwischen ein ganzes Retail-Imperium betreibt, ist gemessen am Börsenwert heute die viertgrösste. Und damit ähnlich hoch gehandelt wie die zehn weltgrössten Pharmahersteller.
Die von Jeff Bezos geleitete Firma ist eine Mischform. Einerseits ist sie ein Internetunternehmen: Sie betreibt Serverfarmen und eine Marktplattform, über die Drittanbieter ihre Produkte verkaufen können. Diese Bereiche sind sehr profitabel und tragen rund ein Drittel zum Firmenumsatz bei.
Dieses Profil trägt dazu bei, dass Amazon auf eine gewisse Weise wie ein Tech-Start-up bewertet wird: Das Verhältnis zwischen Betriebsgewinn und Börsenwert liegt bei rund 1 zu 70, was für gewöhnliche Firmen undenkbar ist.
Andererseits ist Amazon ein klassischer, aber sehr grosser Detailhändler. Über eine Million Menschen arbeiten für Amazon, sei es als Programmiererin, sei es als Lagerist in den gigantischen Verteilzentren. Unter allen börsengehandelten Firmen beschäftigt nur Walmart noch mehr Personal.
Das verleiht Amazon ein reales Gewicht. Seit sechs Jahren erzielt die Firma Milliardengewinne. Und auch beim Umsatz ist Amazon ein Riese: Sie wiegt die zehn grössten Pharmafirmen der Welt fast im Alleingang auf.
Zwar sind die Pharmafirmen auch nicht gerade Zwerge. Die grösste, Johnson & Johnson, steht in der weltweiten Rangliste nach Marktkapitalisierung an vierzehnter Stelle. Firmen wie Roche oder Novartis dominieren den Swiss-Market-Index: Wer in die zwanzig grössten Firmen der Schweiz investiert, dessen Geld geht zu einem Drittel an die beiden Pharmaunternehmen.
Doch kein Bereich hat in der Pandemie so zugelegt wie die Technologie.
Tesla vs. Autofirmen
Besonders krass zeigt sich dies am Beispiel von Tesla. Für ihre Fans war die E-Auto-Fabrikantin schon immer ein Börsentipp. Letztes Jahr erhielten sie endlich recht: Unter Anlegerinnen brach eine regelrechte Tesla-Euphorie aus.
Seit dem 1. Januar 2020 hat sich der Aktienkurs verzehnfacht. Und damit ist Tesla beinahe so wertvoll wie die zehn anderen weltgrössten Autohersteller.
783 Milliarden Dollar: Ob das Unternehmen wirklich so viel wert ist, darüber wurde bereits letztes Jahr diskutiert, als Tesla erstmals an Toyota vorbeizog.
Dafür spricht unter anderem:
Der Boom bei der Elektromobilität: Über kurz oder lang werden auf unseren Strassen nur noch E-Autos fahren. Und in dieser Technologie ist Tesla führend. Auch BYD und NIO, zwei chinesische E-Auto-Hersteller, werden an der Börse inzwischen zu sehr hohen Kursen gehandelt.
Die Batterietechnologie: Tesla produziert Batterien mit hoher Kapazität, die sehr langlebig sind. Ein entscheidender Vorteil im Kampf um künftige Marktanteile, argumentiert ein Experte in der Zeitschrift «Forbes».
Tesla sei mehr als ein Autohersteller: Die Firma könnte künftig ein Netzwerk von selbstfahrenden Taxis betreiben und ihre Software, die dies ermöglicht, an andere Firmen lizenzieren. Ähnlich wie Apple über das iPhone einen ganzen App-Store betreibt, könnte auch Tesla über den eigenen Bordcomputer ein Geschäft mit Apps lancieren.
Die Firma wurde vergangenes Jahr in den wichtigen S&P-500-Aktienindex aufgenommen. Das garantiert eine gewisse Nachfrage nach ihren Aktien.
Dagegen wird ins Feld geführt:
Tesla beschränkt sich bisher auf wenige Modelle: hochpreisige Limousinen. Um weiter zu wachsen, wird sie die Produktpalette vergrössern und in neue Segmente vorstossen müssen – Kleinwagen, Jeeps, Nutzfahrzeuge und so weiter. Das wird kostspielig und schwierig.
Der Börsenwert von Tesla übersteigt den Betriebsgewinn um Welten – das Verhältnis liegt aktuell bei 1 zu 480. Das ist exorbitant: Tesla wird ein Wahnsinnswachstum hinlegen müssen, um die Erwartungen der Aktionärinnen zu erfüllen, die in dieser Zahl zum Ausdruck kommen.
Gut möglich, dass die Tesla-Aktie der klassische Fall einer Blase ist. Anleger würden das Papier nur noch deshalb kaufen, weil sie davon überzeugt seien, dass später jemand anders noch mehr dafür bezahlt.
Frappant ist, dass Tesla bis vor kurzem noch kaum Gewinn erzielt hat. 2020 wird das erste Jahr sein, in dem sich das ändert: Vermutlich werden unter dem Strich rund 2 Milliarden Dollar stehen.
Das ist immer noch ein Bruchteil dessen, was die zehn wertvollsten Vertreter der Autoindustrie insgesamt, von Toyota über BMW bis Hyundai, verdienen.
Tesla-Chef Elon Musk selbst sagte im Mai, der Aktienkurs sei «zu hoch». Und er warnte im Dezember seine Angestellten, falls Zweifel an der Profitabilität aufkämen, könnte der Kurs «zertrümmert werden wie ein Soufflé unter einem Vorschlaghammer». Dem Aktienboom tat dies aber keinen Abbruch.
Wie es mit den Börsenwerten von Tesla und Co. weitergeht, ist schwer zu sagen. Denn wenn die «New Economy» bereits in den Nuller- und Zehnerjahren für Furore gesorgt hat, so ist die digitale Wirtschaft im Corona-Zeitalter – die «New Coronomy», wenn man so will – noch mal eine ganz neue Nummer.
Also nichts wie los und Zoom-Aktien kaufen?
Vielleicht nur so viel: Ich habe meinen Pro-Account heute gelöscht. Fortan nutze ich Zoom wieder gratis – bis zum Zeitlimit von 45 Minuten. Von noch längeren Videokonferenzen habe ich inzwischen sowieso die Schnauze voll.
Die Inspiration zu diesem Beitrag entstammt einer Grafik, die im vergangenen Oktober durchs Netz ging. Die Angaben zum Börsenwert wurden am 19. Januar 2021 beim Portal companiesmarketcap.com eingesehen. Dort werden separate Ranglisten zu den börsenstärksten Unternehmen je nach Branchen geführt. Fürs Verhältnis zwischen Börsenwert und Betriebsgewinn wurde (sofern nicht anders angegeben) auf dem Ebit-Gewinn der vergangenen vier Quartale abgestützt.