Binswanger

Zynische Opportunisten als letzte Hoffnung

Wie geht der Machtkampf in der Republikanischen Partei aus? Davon hängt nicht nur die Amtsenthebung von Trump ab. Sondern die Zukunft der Demokratie in den USA und der Welt.

Von Daniel Binswanger, 16.01.2021

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Nach dem Schock die Verwirrung: Auch gut eine Woche nach dem Angriff auf den amerikanischen Kongress beherrschen das Entsetzen und eine lähmende Ungewissheit die Geister und den Diskurs. Jeden Tag stellen sich neue verstörende Fragen zum Grad der Organisiertheit der Vandalen, zur aktiven Komplizenschaft republikanischer Abgeordneter, zu Terrorakten, die in den nächsten Tagen und Wochen in Washington und auf dem gesamten amerikanischen Staatsgebiet zu erwarten sind.

Die seriösesten Schätzungen gehen davon aus, dass es in den USA heute rund 580 rechts­extremistische Gruppierungen gibt, davon rund 180 bis an die Zähne bewaffnete paramilitärische Organisationen. Bis anhin war ein entscheidendes Unterscheidungs­merkmal zwischen dem historischen Faschismus und der Trump-Herrschaft, dass der historische Faschismus seine Macht nicht nur auf staatliche Repression, sondern auf systematische Strassen­gewalt und Terror abstützte. Die nächsten Wochen werden zeigen, in welchem Mass sich dieser Unterschied zu relativieren beginnt.

Inzwischen schlafen Hundertschaften Nationalgardisten neben ihren Sturmgewehren in den Gängen des Kongress­gebäudes auf dem Boden, weil anders die Sicherheit der Volks­vertreter nicht mehr zu gewährleisten ist. Das Parlament ist zum Heerlager geworden. Wenn das nicht Bilder sind aus einem Land im Bürgerkrieg, was dann?

Wir sollten uns keiner Illusion hingeben: Diese Demokratie­krise ist keine rein amerikanische Angelegenheit. Natürlich ist die amerikanische Politik seit langem viel polarisierter als die europäische, natürlich ist die Ungleichheit noch viel extremer als in allen anderen westlichen Industrie­ländern, natürlich ist das Medien­system noch toxischer für den demokratischen Diskurs, als dies bei uns der Fall ist. Donald Trump war nie die Ursache, sondern das Symptom des Niedergangs der amerikanischen Demokratie. Doch sein Aufruf zum Sturm auf den Kongress ist nicht ein Fehltritt seiner pathologischen Persönlichkeit, sondern der konsequente Kulminations­punkt seiner vierjährigen Präsidentschaft.

Seit dem Zweiten Weltkrieg haben alle politischen Umbrüche in den USA früher oder später auch in Europa zu Epochen­wenden geführt. Wenn sich in Washington ein Quasi-Putschversuch ereignen kann, welche Tabus werden dann in Zukunft auf dem alten Kontinent noch unantastbar bleiben?

Natürlich, es gibt machtvolle Stimmen der politischen Vernunft, zum Beispiel der britische «Economist». Er deklariert ohne Federlesen: «Treten wir etwas zurück, um die Ungeheuerlichkeit seines Handelns in den Blick zu bekommen. (…) In einer Demokratie ist kein Verbrechen schwer­wiegender und keine Missetat verräterischer.» Trump, so der «Economist», müsse diskussionslos impeached werden. Es müsse ohne Wenn und Aber demonstriert werden, dass «Amerika einen Staats­führer, der seine Verfassung mit Füssen tritt, mit aller Vehemenz zurückweist».

Die Grundlagen der demokratischen Rechts­ordnung sind nicht verhandelbar. Deshalb ist es so absurd und heuchlerisch, wenn im Namen der überparteilichen Aussöhnung nun gefordert wird, der Möchtegern-Putschist und seine Komplizinnen dürften auf gar keinen Fall zur Rechenschaft gezogen werden. Es gibt keine demokratische Aussöhnung mit den Feinden der Demokratie. Und es gibt schon gar keine Aussöhnung mit einer Republikanischen Partei, deren Abgeordnete in der Mehrheit bis heute nicht von ihren Propaganda­lügen zurückweichen und weiterhin behaupten, es sei zu massivem Wahlbetrug gekommen (selbstverständlich nur in den Swing-States, in denen Biden gewonnen hat).

Natürlich haben Trump und seine Komplizen ganz explizit und offensichtlich den Mob in Washington zu Gewalt angestachelt, natürlich waren auch während und unmittelbar nach dem Sturm aufs Kapitol Trumps Aufrufe zur Ruhe von kalkulierter Ambivalenz, natürlich kam die Verurteilung der Gewalt­taten viel zu spät und blieb ohne jede Glaubwürdigkeit.

Es reicht nicht, wenn Trump in einem faden­scheinigen Versuch, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, nun plötzlich betont, es werde eine friedliche Amtsübergabe geben. Im Minimum müsste er zugestehen, dass Biden der legitime und korrekt gewählte Präsident ist. Doch auf diese concession werden wir lange warten können. Nicht weil es Trumps pathologischer Persönlichkeit gar nicht möglich ist, eine Niederlage zu akzeptieren. Sondern weil er offensichtlich andere politische Pläne hat.

Unterschätzen wir nicht die Macht der Versuche, Verwirrung zu stiften und mit absurden Manövern die Debatte zu manipulieren. Man nehme zum Beispiel den «Club» des Schweizer Fernsehens zum Kapitol-Sturm. Es war wieder einmal einer dieser Hinter-welchen-sieben-Monden-leben-wir-eigentlich-Momente.

Weitgehend unwidersprochen und die Runde souverän dominierend, exponierte dort Blocher-Leutnant Markus Somm, dass Trump bis am Morgen des 6. Januar ein genialer, konservativer Politiker gewesen war und dann, gewissermassen in einem umgekehrten Damaskus-Wunder, ganz plötzlich zum selbst­zerstörerischen Unhold wurde. Politisch war er ein Genie, nur leider ist er ein Charakter­lump. Will sagen: Trump hat massiv die Steuern gesenkt, mit allen Mitteln versucht, Obama-Care zu zertrümmern, den Supreme Court mit Abtreibungs­gegnerinnen bestückt. Was kümmern uns da die Kratzfüsse vor dem Ku-Klux-Klan?

Auch in der helvetischen Debatte haben sich solche Argumente schon lange bestens etabliert: Rassismus, Xenophobie und systematische Propaganda­lügen haben mit Politik natürlich rein gar nichts zu tun. Das sind bei uns nicht Charakter-, sondern «Stilfragen». Wer das big picture plutokratischer Macht­strategien im Blick hat, darf sich an schlechtem «Stil» bestimmt nicht stossen. Wenn schon, ist er ein Gütesiegel.

Aber nicht nur weil Grundwerte nicht verhandelbar sind, auch aus strategischen Gründen war es alternativlos, dass die Demokratinnen, unterstützt durch immerhin zehn republikanische Stimmen, das Impeachment lanciert haben. Die Zukunft der amerikanischen Demokratie hängt davon ab, wie der Macht­kampf innerhalb der Republikanischen Partei ausgehen wird. Die Partei, so wie sie heute existiert, muss untergehen. Nicht deshalb, weil die amerikanische Politik auf eine konservative Kraft verzichten könnte, sondern im Gegenteil: weil ein Zwei-Parteien-System, dessen eine Komponente eine antidemokratische Agenda verfolgt, die Demokratie über kurz oder lang zerstören wird.

Das Impeachment wird die Republikaner dazu zwingen, Farbe zu bekennen und ihre interne Auseinander­setzung auszutragen. Es wäre eine Katastrophe, wenn es im Senat nicht zu einer Zwei-Drittel-Mehrheit käme und Trump freigesprochen würde, aber selbst dann noch wird das Impeachment-Verfahren für diesen Klärungs­prozess eine wichtige Funktion erfüllen.

Es gibt heute im Wesentlichen drei Fraktionen innerhalb der Republikanischen Partei: Erstens das kleine Trüppchen der Anständigen, die Never-Trumpers, die Gründer des Lincoln Project und unter den aktiven Parlaments­vertretern den einsamen Solitär Mitt Romney. Dann gibt es zweitens die starke Fraktion der zynischen Opportunistinnen, die geglaubt haben, es reiche, absolut alle Schändlichkeiten von Trump unbesehen hinzunehmen, um die eigene Steuersenkungs- und Big-Business-Agenda durchzubekommen, die einen Millimeter vor dem Kapitol-Sturm jetzt aber ausgestiegen sind: Mitch McConnell, Mike Pence, Liz Cheney. Als dritten Block gibt es die Fraktion derer, die das Kalkül machen, die fortgesetzte Loyalität gegenüber Trump und ein weiteres Aufrecht­erhalten der Wahl­betrugs­lüge biete ihnen die besten politischen Perspektiven: Josh Hawley, Ted Cruz, Lindsey Graham. Sie haben de facto ins Lager der offenen Demokratie­feindlichkeit gewechselt.

Das Problem ist allerdings, dass nicht nur die Loyalistinnen, sondern auch die «blossen» Zyniker – sowohl die breakers als auch die gamers, wie es Timothy Snyder in einem brillanten «New York Times»-Artikel formuliert hat – schon lange nicht mehr auf dem Boden demokratischer Grundsätze Politik machen. Sie verfolgen eine oligarchische Agenda, die den Interessen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung zuwiderläuft und die sich nur mit der konsequenten Verzerrung der Mehrheits­verhältnisse durch das Wahlsystem und mit populistischer Ratten­fängerei durchsetzen lässt.

Die Elite der brillanten, ehrgeizigen Hoffnungs­träger unter den republikanischen Abgeordneten – nicht nur Hawley und Cruz, sondern zum Beispiel auch die sehr smarte, in Harvard ausgebildete Congresswoman Elise Stefanik – kommt offensichtlich zum Schluss, dass man weiterhin zu den Trump-Loyalisten gehören muss, wenn man in Washington eine grosse Zukunft haben will. Nichts sollte uns mehr beunruhigen als die Tatsache, dass eine ganze Generation knallhart kalkulierender Opportunistinnen die Rechnung macht, der offene Angriff auf die amerikanische Verfassung sei heute ihr bester Karriereplan.

Täuschen sie sich? Wird trotz allem die Fraktion der «blossen Zyniker» die amerikanische Demokratie noch vor dem Schlimmsten bewahren können? Und wird sich in einem zweiten Schritt aus seinen zersprengten Rest­truppen wieder eine kohärente, demokratisch vertretbare Form des amerikanischen Konservatismus konsolidieren? Es braucht verdammt viel Optimismus, um an dieses Szenario zu glauben. Wenn das Ethos eines Mitch McConnell und einer Liz Cheney die beste unmittelbare Hoffnung für ein politisches System darstellt, steht es wirklich am Abgrund. Ohne vernünftige, konservative Partner werden die Demokraten aus dieser Krise jedoch nicht herausfinden.

Auch in Europa ist das leider grundsätzlich nicht anders.

Illustration: Alex Solman

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