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La Grande Puff

11.01.2021

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Liebe Leserinnen und Leser

Die hohen Todes- und Infektionszahlen in der Schweiz zeigten nicht nur ein Scheitern der Politik – die ganze Gesellschaft müsse sich hinterfragen. Das schreibt Republik-Kollege Daniel Graf in seiner Analyse «Das grosse Versagen».

Im Grunde fiel der Schleier, als sich im Schweizer ÖV die Gesichter verhüllten. Am Beispiel Maske zeigte sich ein grundlegendes Dilemma: Blieb es noch bei der Freiwilligkeit und der Empfehlung, waren Maskenträgerinnen in der Regel noch ziemlich allein. Kaum wurde der Mund-Nasen-Schutz verpflichtend eingeführt, wurde er mehrheitlich ohne Murren und ohne Drama getragen. Das kann man als Happy End sehen. Oder als desillusionierenden Realitycheck für die viel beschworene Eigenverantwortung, deren Lied schon damals wochenlang gesungen worden war.

Wenn die Marktgläubigen unter den Lobbyverbänden und Parlamentarierinnen Eigenverantwortung als Standardreflex gegen unterschiedliche Formen der Regulierung in die Debatte werfen, meinen sie nicht selten bloss ein «Leave me alone», schreibt Graf.

Eigentlich bezieht sich der Begriff auf eine komplexe Beziehung zwischen der Freiheit des Ich und jener der anderen. Wenn er aber nur noch das eigene Interesse meint, verkommt er entweder zum moralisch verbrämten Synonym für das Recht auf Egoismus. Oder er hat seine Relevanz als ethischer Orientierungsmarker verloren.

Doch nicht nur «die Politik» hat in der Schweiz im vergangenen Jahr versagt, schreibt Graf. Sondern die Polis. Nicht allein die Politikerkaste, sondern das politische Gemeinwesen im Ganzen – die Gemeinschaft der Citoyennes.

Die Maskenpflicht wurde nötig, weil offenbar kaum jemand eine Selbstverpflichtung sah. Das entspricht durchaus der Haltung, mit der der Begriff Eigenverantwortung in der politischen Debatte instrumentalisiert und inhaltlich entkernt wird.

Ein Teil des Problems ist auch die Schweizer Haushaltsdisziplin als Fetisch. «Spare in der Zeit, so hast du in der Not» war einmal der Slogan des gesunden Menschenverstandes. Mittlerweile scheint zu gelten: Die Not soll bloss nicht der Sparsamkeit im Weg stehen. So wird Wohlstand als Selbstzweck begriffen – anstatt als riesige Ressource, in einem der reichsten Länder der Welt eine Jahrhundertkrise zu meistern. (Hier lesen Sie den Beitrag in voller Länge.)

Und nun:

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Der Berner Epidemiologe Christian Althaus hat die wissenschaftliche Taskforce verlassen. Am Wochenende teilte er dies auf Twitter mit und kritisierte dabei die Politik. Diese müsse der Wissenschaft endlich auf Augenhöhe begegnen, schrieb er. Die unabhängige Taskforce verlangte in den vergangenen Wochen immer wieder erfolglos strengere Massnahmen, um die Ausbreitung des Coronavirus in der Schweiz zu stoppen.

Die Lauberhornrennen in Wengen sind endgültig abgesagt. Zuvor hatte die Gemeinde Lauterbrunnen, zu der auch Wengen gehört, das Rennen durchführen, aber die Schulen schliessen wollen. Wengen ist in den vergangenen zwei Wochen nach der Hotelübernachtung eines infizierten Gastes zum Hotspot geworden. Über Nacht hat sich nun die Lage nochmals verschlechtert. Ausserdem sollen auch Helfer des Rennens positiv getestet worden sein.

Papst Franziskus lässt sich nächste Woche impfen. Der Vatikan hat rund 10’000 Dosen des Biontech/Pfizer-Impfstoffs bestellt. Für Impfgegner zeigte das Oberhaupt der katholischen Kirche kein Verständnis und nannte das eine «selbstzerstörerische Verweigerungshaltung». Wenn die Ärzte das Präparat für unbedenklich erachteten, spreche für ihn nichts dagegen. Der Argentinier verwies auf seine Kindheitserfahrungen während der Polio-Krise, in der sich der Impfstoff als «segensreich» erwiesen hatte.

Der Inselstaat Mikronesien hat seinen ersten Covid-19-Fall. Die Inselgruppe hatte bisher keine Infektionen zu verzeichnen, als einer der bislang wenigen Orte der Welt. Der erste Fall sei ein Matrose auf einem Schiff der Behörden, das berufsbedingt in die Philippinen geschippert war. Mikronesien hat rund 111’000 Einwohnerinnen und bereits etwa 10’000 Dosen des Moderna-Impfstoffs erhalten. Die Impfkampagne begann Ende Dezember. Der infizierte Matrose wurde isoliert.

Und zum Schluss: Zu wenig Teller

Der Reproduktionswert R liegt in der Schweiz wieder bei rund 1 – in manchen Kantonen gar deutlich drüber. Und das heisst: exponentielles Wachstum. Und die neu hinzugekommene Virusvariante B117, die vermutlich bedeutend übertragbarer ist, vermehrt sich ziemlich schnell. Das Wachstum wird also eher noch schneller als langsamer, wenn wir nichts Weiteres dagegen tun.

Aber beginnen wir von vorn.

Exponentielles Wachstum – ein Ausdruck, den wir alle schon zu oft gehört haben im vergangenen Jahr. Doch es ist nach wie vor nicht immer leicht zu begreifen, weil: nicht so einfach vorstellbar. Oder auf Englisch: I can’t quite wrap my head around it. (Den Kopf um etwas wickeln zu müssen ist doch ein schönes Bild, finden Sie nicht?)

Deshalb machen wir eine kurze Auffrischung:

Von exponentiellem Wachstum sprechen wir, wenn sich etwas in jeweils gleichen Zeitabschnitten (zum Beispiel 24 Stunden) immer um denselben Faktor vervielfacht (zum Beispiel verdreifacht).

Ein Beispiel:

Tag 1:
Sie greifen zum Mobiltelefon und schicken eine Einladung für ein kleines Abendessen in trauter Runde an Armin, Antonia, Ahmed. Und schreiben dazu: Es hat noch Platz für ein paar eurer Freundinnen.

Tag 2:
Armin schickt eine Nachricht an Boris, Berta und Brigitte.
Antonia schickt eine Nachricht an Curdin, Christina und Coco.
Ahmed schickt eine Nachricht an Daniele, Doris und Domenico.

Tag 3:
Boris schickt eine Nachricht an Emil, Emina und Esther.
Berta schickt eine Nachricht an Francesca, Fatima und Fitim.
Brigitte schickt eine Nachricht an Gustav, Gigi und Gerta.

Curdin schickt eine Nachricht an Helena, Hadi und Herbert.
Christina schickt eine Nachricht an Ida, Ismael und Isabella.
Coco schickt eine Nachricht an Jakob, Jasmine und Jo.

Daniele schickt eine Nachricht an Köbi, Kushtrim und Katharina.
Doris schickt eine Nachricht an Leandra, Lisbeth und Luca.
Domenico schickt eine Nachricht an Metin, Maurus und Magdalena.

Fazit: Sie decken Ihren Tisch, die schönen Gläser, vielleicht ein paar Blumen, schauen nach dem Braten. Da klingelt es, Sie öffnen freudig die Tür und blicken ungläubig: Sie hatten an eine traute Runde mit vielleicht ein, zwei Überraschungsgästen gedacht. Drei Tage später sitzt das halbe Alphabet bei Ihnen am Tisch.

Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Daniel Graf und Marguerite Meyer

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

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PPPS: Die Co-Autorin dieses Newsletters weiss, dass es ein vergleichsweise kleines Problem ist. Aber trotzdem: An ihr nagt das Fernweh derzeit wie ein kleiner, fieser Marder. Geht es Ihnen manchmal auch so? Dann laden wir Sie ein auf einen Stadtspaziergang: Darf es das mediterrane Athen sein? Stehen Sie mehr so auf kühles Vancouver? Oder mögen Sie lieber die Strassen von Hanoi erkunden? Sie können aussuchen, ob Sie lieber nachts oder tagsüber unterwegs sind. Tipp: Mit eingeschalteten City-Sounds ist es doppelt aufregend. Yalla, let’s go!

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