Das grosse Versagen

Die hohen Todes- und Infektionszahlen in der Schweiz zeigen nicht nur ein Scheitern der Politik. Die ganze Gesellschaft muss sich hinterfragen.

Von Daniel Graf (Text) und Nicolas Haeni (Bild), 09.01.2021

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Im Grunde fiel der Schleier, als sich im Schweizer ÖV die Gesichter verhüllten.

Seit Wochen schon gab es in den Nachbar­ländern eine Masken­pflicht in Geschäften und im Nahverkehr. In der Schweiz setzte man auf Masken­empfehlung, und wer im Frühjahr in öffentlichen Verkehrs­mitteln eine Maske aufhatte, war damit in der Regel ziemlich allein. Das galt in leeren wie in vollen Bussen, das galt im Mai und im Juni. Es galt auch am 1. Juli, als die Einführung der Masken­pflicht zum 6. Juli beschlossen wurde. Und es galt noch am Abend, bevor sie in Kraft trat.

Und am Morgen des 6. Juli? Trugen alle ihre Maske: pünktlich, ohne Murren, ohne Drama.

Das kann man als Happy End sehen. Oder als desillusionierenden Reality­check für die viel beschworene Eigen­verantwortung, deren Lied schon damals wochenlang gesungen worden war.

Nein, die Menschen waren offenkundig keine wutbürgerlichen Masken­verweigerer, man trug die Massnahmen in stiller Zustimmung mit. Aber danach handeln: erst wenn’s Vorschrift ist (oder es alle anderen auch tun).

Was erlaubt ist, wird auch gemacht; was verboten ist, wird unterlassen. Das ist bis heute eine Faustregel dieser Pandemie geblieben: volle Einkaufs­strassen im Weihnachts­geschäft. Volle Gondeln beim Ski­tourismus, mit reichlich internationalen Gästen. Trotz dramatischer Über­sterblichkeit, Alarm schlagenden Klinik­personals und der Nachrichten vom mutierten, mutmasslich noch ansteckenderen Virus.

Es ist einfach, in diesen Tagen auf «die Politik» zu schimpfen – und leider gut begründet. Trotzdem: Den Kampf gegen die Pandemie gewinnen oder verlieren in einer Demokratie nicht einzelne Teile der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft als ganze. Und wo sich die Bewältigung der ersten Welle in der Schweiz als Erfolgs­geschichte der Solidarität erzählen lässt, steht nun die verstörende Bilanz bei der zweiten Welle.

Politikversagen? Auch. Doch es trifft den Sachverhalt womöglich genauer, zu sagen:

Nicht «die Politik» hat versagt, sondern die Polis. Nicht allein die Politiker­kaste, sondern das politische Gemeinwesen im Ganzen, die Gemeinschaft der Citoyennes.

Damit ist gerade kein Pauschal­urteil gemeint. Wer würde bestreiten, dass unzählige Menschen seit Monaten ausgesprochen verantwortungs­bewusst und selbstlos handeln und im Bereich der Pflege aufopferungs­voll für das Wohl der Allgemeinheit gekämpft wird? Will man aber ernsthaft aus dieser Krise lernen und nicht wieder in vereinfachende Sündenbock-Narrative verfallen – die Jungen, die Clubs, die Romands … –, darf auch die Kritik an «der Politik» nicht zum blick­verengenden blame game werden.

Es gibt ein gesellschaftliches Scheitern, das über die Regierungen hinausgeht. Und das sich allenfalls erfassen lässt, wenn auch die Wechsel­wirkungen zwischen politischen Repräsentantinnen und Zivil­gesellschaft in den Blick kommen. Mitsamt den Leitbildern und Dogmen, die dabei eine Rolle spielen.

Mythos Eigenverantwortung

Die Maskenpflicht wurde nötig, weil offenbar kaum jemand eine Selbst­verpflichtung sah.

Das entspricht durchaus der Haltung, mit der der Begriff «Eigen­verantwortung» in der politischen Debatte instrumentalisiert und inhaltlich entkernt wird. Wenn die Markt­gläubigen unter den Lobby­verbänden und Parlamentariern das Wort als Standard­reflex gegen die unter­schiedlichsten Formen von Regulierung in die Debatte werfen, meint das häufig nicht mehr als ein kategorisches «Leave me alone». Eigen­verantwortung als Euphemismus für Staatsfeindlichkeit.

Wenn aber «Eigen­verantwortung» bloss vorne betont wird; wenn ein Begriff, der eigentlich auf eine komplexe Beziehung zwischen der Freiheit des Ich und jener der anderen zielt, nur noch das eigene Interesse meint, verkommt er entweder zum moralisch verbrämten Synonym für das Recht auf Egoismus. Oder er hat seine Relevanz als ethischer Orientierungs­marker schlichtweg verloren.

Der 6. Juli und der Umgang mit der Maske enthalten noch eine zweite Botschaft.

Einer Maskenpflicht, die bei den Bürgerinnen und Bürgern schon am ersten Tag auf überwältigende Akzeptanz stösst, ist offenbar längst die umfassende Überzeugung voraus­gegangen, dass das Masken­tragen unter den gegebenen Umständen sinnvoll ist. Warum also wurden die Masken nicht schon vorher aufgesetzt?

Offensichtlich gibt es so etwas wie einen Gap zwischen Einsicht und Handeln. Das kann man als staats­bürgerliche Unmündigkeit interpretieren – oder als Beweis des Vertrauens in Regierung und staatliche Institutionen, die sich während der ersten Pandemie­welle bewährt haben. Vermutlich ist beides richtig.

Dass der aufklärerische Austritt aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit nach wie vor work in progress mit viel Luft nach oben ist, davon bietet die Corona-Krise in all ihren Phasen reichlich Anschauungs­material. Und doch war es zum Ende der ersten Welle auch eine nachvollziehbare Erwartung, dass die Politik aus den Versäumnissen der Vergangenheit gelernt hat, voraus­schauend vorangeht und aus dem epidemiologisch Gebotenen verbindliche Regeln formt. Zumal in einer nie da gewesenen Extrem­situation die Belastung der Einzelnen ohnehin schon enorm ist – nicht der beste Moment für allzu idealistische Erwartungen an die staats­bürgerliche Eigeninitiative.

Die Episode um die Masken­pflicht zeigte vielmehr: Es brauchte ein klares politisches Signal, damit die Kooperations­bereitschaft der Bevölkerung sich auch im alltäglichen Verhalten manifestierte.

Anders gesagt: Wir setzen in einer deliberativen Demokratie die Wechsel­wirkung zwischen Politik und Zivil­gesellschaft immer schon voraus. Wer im Alltag mit ganz anderen Heraus­forderungen beschäftigt ist als mit den grossen Fragen der Politik, will zwar nicht, dass über den eigenen Kopf hinweg entschieden wird. Aber das heisst nicht notwendiger­weise, dass sie oder er schon bereit ist, der Regierung die grund­sätzlichen Entscheidungs­lasten abzunehmen.

Wechselwirkung, Stimmungswechsel

Wer einen Plan hat, kann auf veränderte Stimmungs­lagen reagieren; wer keinen hat, wird von der Stimmung getrieben. Genau das ist seit Frühsommer der Grundmodus.

Die Idee während des ersten Lockdowns war: Zeit gewinnen, das Wissen über das Virus vermehren und sukzessive lockern, wenn die Voraus­setzungen dafür geschaffen sind – immer so weit, dass das Contact-Tracing gewährleistet ist und gegebenen­falls Gegensteuer möglich bleibt. Tatsächlich aber hat sich der Bundesrat von massiver Lobby­arbeit und dem Druck der politischen Rechten in eine regelrechte Lockerungs­euphorie treiben lassen. Und als er die Zuständigkeit weitgehend an die Kantone delegierte, versank die Idee der notwendigen Vorkehrungen in den Untiefen von Kantönli­geist und Verantwortungsscheu.

Statt wechselseitiger Bestärkung zwischen politischer Repräsentanz, Institutionen und Zivil­gesellschaft wie während der ersten Welle fand einen Sommer lang das Gegenteil statt: Politiker, Medien und Zivil­bevölkerung steckten einander gegenseitig mit Sorglosigkeit an. All den wiederholten Warnungen vor der zweiten Welle zum Trotz.

Wer da mitgemacht hat?

Die allermeisten von uns, in irgendeiner Form. Im Vertrauen darauf, Politik und Behörden seien vorbereitet.

Und als die zweite Welle dann anstieg und die Expertinnen wochenlang Alarm schlugen, verhakten sich die Regierungen von Kantonen und Bund irgendwo zwischen Apathie, Budget­zwängen, Regional-Egoismus und der Selbst­gefälligkeit eines «Schweizer Wegs», der sich als Pfad zu traurigen Höchst­ständen entpuppte.

Falsche Leitplanken

So wie «Eigenverantwortung» das Mantra der Schweizer Corona-Krise ist, ist Sparsamkeit ihr Dogma.

Seit Monaten lautet die Losung, die Schweiz könne sich harte Massnahmen wie einen zweiten Lockdown «nicht leisten». Dabei weisen Ökonominnen schon länger darauf hin, dass da ein falscher Zielkonflikt zwischen Wirtschaft und Gesundheit konstruiert wird. Und wie abwegig die Vorstellung ist, es gehe in der aktuellen Krise vor allem darum, keine zusätzlichen Schulden zu machen, hat der Wirtschafts­journalist Mark Dittli vor kurzem in einer eindrücklichen Analyse dargelegt.

Ganz grundsätzlich gefragt: Was will man sich denn «leisten» können, wenn nicht das Leben, Gesundheit, das Aller­elementarste? Was ist Mittel, was ist Zweck?

Wenn derselbe Finanz­minister, den nach eigenem Bekunden jeder Franken reut, die Gesundheitsbilanz der zweiten Welle «durchaus okay» findet, zeigt das symptomatisch, wie sehr sich im Spätkapitalismus die Massstäbe verschoben haben. «Spare in der Zeit, so hast du in der Not» war einmal der Slogan des gesunden Menschen­verstandes. Mittlerweile scheint zu gelten: Die Not soll bloss nicht der Sparsamkeit im Weg stehen. Haushalts­disziplin als Fetisch. Auf Bundes- wie auf Kantonsebene.

So wird Wohlstand als Selbstzweck begriffen – anstatt als riesige Ressource, in einem der reichsten Länder der Welt eine Jahrhundert­krise zu meistern.

Mit den Nothilfen während der ersten Welle war dies, bei allen Verteilungs­problemen im Detail, noch ein leitender Gedanke, der erheblich zur solidarischen Grund­stimmung beitrug. Wenn die Regierung nun aber Hoffnungen auf staatliche Kompensations­gelder eine Absage erteilt (oder angekündigte Unterstützung endlos hinausschiebt), verwundert es nicht, dass einzelne Branchen ihre Partikular­interessen vor den Solidaritäts­gedanken stellen. Wer entscheidet staats­bürgerlich nach Gemeinwohl, wenn ihn persönliche Existenz­ängste treiben?

Es braucht jedenfalls nicht allzu viel Fantasie, um sich vorzustellen: Der Widerstand aus der Skitourismus­branche gegen eine Schliessung der Pisten wäre vermutlich geringer, würde man mit Augen­mass und im Interesse aller ihre Ausfälle kompensieren.

Stattdessen: «Schweizer Weg», das nächste Mantra. Ein suggestiver Begriff, der erklären soll, warum man sich bei der Pandemie­bekämpfung weder allzu sehr an den europäischen Nachbarn noch an den Erfolgen asiatischer Länder orientieren will.

Sicher, für einen Automatismus der Nachahmung gibt es keinen Grund.

Aber die Eigenschaften des Virus sind ebenso wenig länder­spezifisch wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu.

Und wenn der Schweizer Weg international nur Kopfschütteln auslöst; wenn die Welt­gesundheits­organisation ihn scharf kritisiert; wenn sich im eigenen Land vehementer Protest von Expertinnen aus verschiedenen Disziplinen regt; nicht zuletzt: wenn die Todes- und Infektions­zahlen im internationalen Vergleich trotz bester Ausgangs­lage nach der ersten Welle eine unrühmliche Bilanz zeigen – bedeutet das halb stolze, halb störrische Festhalten am «Schweizer Weg» dann noch Souveränität? Oder schon Hybris und Ignoranz?

Glanz und Elend der Inkonsequenz

Wäre die Lage nicht bitterer Ernst, man könnte über die Tragödie von den menschlichen Schwächen, die die Corona-Krise täglich aufführt, auch lachen.

Seit Monaten ist die Gattung Mensch wieder einmal bei den simplen Wider­sprüchen ihres Alltags zu beobachten. Die Maske, die unterhalb der Nase irgendwo auf halb acht hängt, ist dafür vielleicht das sinn­fälligste Symbol. Und wahrscheinlich haben die meisten in den letzten Monaten einmal in einem geschlossenen Raum mit einer grösseren Gruppe getagt, in der zum gegenseitigen Schutz alle eifrig Maske trugen – ausser man war dran mit Reden. Das ist ein bisschen so, als würden Liebende beschliessen: Lass uns ganztags Kondom tragen, nur zum Sex nehmen wir es ab.

Aber der Mensch ist eben ein haarsträubend inkonsequentes Wesen (und wo er das nie ist, ist er besonders zu fürchten). Und am stärksten wird der Hang zur Inkonsequenz, wenn die Interaktion mit anderen ihre Eigen­dynamiken entfaltet. «Gruppen­zwang» heisst das in der negativen Variante. «Herden­tier» klingt freundlicher.

Vermutlich hat jede von uns in den vergangenen Monaten Situationen erlebt, in die sie «irgendwie» hinein­geriet – und wo sie dann jeweils erst mittendrin oder im Nachhinein merkte, dass die Szene, in der man da mitspielte, nicht so ganz zu den eigenen Grund­sätzen passte; und zu der Art und Weise, wie man sich doch sonst die ganze Zeit verhält. Eigentlich hatte man nur im Vorbei­gehen grüssen wollen. Und dann war die kleine Unterhaltung an der Kaffee­maschine doch ein bisschen zu lang, ein bisschen zu nah, ein bisschen zu sehr ohne Maske.

Solche Vorfälle bergen für das individuelle Verhalten auch ein Potenzial. Denn wie sonst als durch die Erkenntnis der eigenen Fehlbarkeit könnte man versuchen, es besser zu machen? Und mit dem Bewusstsein für eigene Schwächen lassen sich auch moralische Fragen leichter ohne grosse Empörungs­gesten verhandeln – besonders im alltäglichen zwischen­menschlichen Umgang. Jede Ethik, ebenso wie jede politische Strategie, tut gut daran, die menschliche Imperfektion nicht ganz aus der Kalkulation zu streichen. Und wie moralische Klarheit, auch wenn sie alle Argumente auf ihrer Seite hat, in kontra­produktiven Rigorismus kippen kann, wäre ein grosses Thema für sich (hier ein Lesetipp für philosophisch Anspruchsvolle).

Das Problem aber ist: Wenn in der zwischen­menschlichen Alltags­moral Grosszügigkeit eine gute Idee sein kann, gilt das noch lange nicht für eine politische Strategie und den Umgang mit einem tödlichen Virus. Schon gar nicht, wenn dieses sich exponentiell verbreitet. Dann sind Zaudern und halbherzige Massnahmen fatal.

Das musste man zuletzt auch in Deutschland erfahren, wo die strategische Inkonsequenz den Namen «Lockdown light» erhielt. Die Folgen: hohe Todes- und Infektions­zahlen, Verschärfung der Massnahmen, Verlängerung des Lockdowns mit deutlich drastischeren Grundrechts­einschränkungen.

Vielleicht hätte man früher auf Forscherinnen wie Viola Priesemann hören sollen. Die Physikerin vom Max-Planck-Institut in Göttingen hat sich mit ihrer Forschungs­gruppe minutiös mit verschiedensten Szenarien des Infektions­geschehens befasst und nach den angemessenen politischen Gegen­strategien gefragt.

Die Botschaft der Forscher ist unmissverständlich (und sie wird mit der neu entdeckten Virus­mutation nur umso dringlicher): Nichts ist wichtiger als die frühzeitige und konsequente Eindämmung der Infektionszahlen – nicht allein um den Verlust von Menschen­leben, schwere Krankheits­verläufe und die Überlastung des Gesundheits­systems zu vermeiden (was weiss Gott Motivation genug sein müsste). Sondern auch für die Wirtschaft und um epidemiologisch notwendige Grundrechts­einschränkungen zeitlich so stark wie möglich zu begrenzen.

Für die Frage, wann und wie ein Lockdown verhängt werden sollte, heisst das: möglichst früh, möglichst konsequent, dafür deutlich kürzer als in einer Lockdown-light-Variante, die endloses Nachjustieren nach sich zieht und dennoch ineffizient bleibt.

Im Dezember haben auf Priesemanns Initiative hin 300 Wissenschaftler aus ganz Europa ein entsprechendes Positionspapier unterzeichnet – quer durch die Disziplinen von der Virologie bis zur Ökonomie.

Was darin auch steht: keine erfolgreiche Pandemie­bekämpfung ohne klare Kommunikation der Ziele und Gründe. Das führt zum letzten Punkt.

Inkonsequenz II

Da ist in absoluter Rekordzeit der seit Monaten ersehnte Impfstoff gefunden – und der Bundesrat betont vor allem, dass niemand müsse, der nicht wolle. Da ist vom vielversprechendsten Game­changer für diese Krise die Rede – und der Gesundheits­minister ist in erster Linie um Ball­flachhalten bemüht: Der Impfstoff, betont er im SRF-Fernsehinterview mehrfach, sei ein Teil der Lösung, «aber kein Wundermittel».

Kein Wundermittel? Tatsächlich nicht. Aber eine Innovation von historischer Bedeutung und einer der grössten wissenschaftlichen Erfolge der Geschichte.

Deswegen braucht man vor Freude nicht gleich durchzudrehen. Aber warum die Sache ohne Not kleinreden? Aus voraus­eilender Scheu vor Impfgegnern?

Um nicht falsch verstanden zu werden: Natürlich soll die Freiwilligkeit der Impfung kommuniziert werden. Es ist zudem eminent wichtig, zwischen verunsicherten Bürgerinnen mit konkreten Fragen und ideologischen Impf­gegnern zu unterscheiden – und Skeptikerinnen nicht mit Arroganz zu begegnen, sondern sich, im Gegenteil, darum zu bemühen, ihnen mit guten Argumenten die Vorbehalte zu nehmen. Aber muss man von Beginn an die Kommunikation an der skeptischen Minderheit ausrichten? Anstatt von der überwältigenden Kooperations­bereitschaft der Bevölkerung auszugehen, die, wie überall weltweit, grösste Hoffnungen mit dem Impfstoff verbindet.

Als im Sommer die Corona-App startete, war sie ebenfalls das bis dato wichtigste neue Mittel zur Pandemie­bekämpfung, entstanden ebenfalls in höchstem Tempo. Zwei zentrale Probleme haben eine ungleich grössere Wirksamkeit von Anfang an verhindert: technische Voraus­setzungen, die einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung von vornherein ausschlossen (selbst ein iPhone 6 war anfangs «zu alt» für die Nutzung der App). Vor allem aber auch eine Kommunikations­strategie, die darauf angelegt schien, bloss nicht zu offensiv um Nutzerinnen zu werben.

Aus diesen Erfahrungen kann man nun lernen, um zwei mögliche Fehler zu vermeiden:

  1. Das immense Versprechen, das in der Impfung steckt, zu relativieren, nur weil aktuell weniger Impfstoff im Land ist als bei anderem Investment möglich gewesen wäre – so wie zu Beginn der Krise, als das BAG den Nutzen von Masken herunter­spielte, einfach weil keine da waren.

  2. Aus lauter Angst vor kritischen Stimmen erneut Potenzial zu verspielen.

Wenn für die nachhaltige Bekämpfung des Virus die Mitwirkung einer grossen Mehrheit der Bevölkerung notwendig ist und das Produkt nach bestem Wissen und Gewissen empfohlen werden kann – warum dann nicht offensiv über die Vorteile aufklären? Warum nicht etwas mehr Emphase für den Umstand, dass schon nach wenigen Monaten gleich mehrere Erfolg versprechende Impfstoffe gegen ein Virus parat sind, das vor gut einem Jahr noch so gut wie unbekannt war? Und dafür, dass mit deren Hilfe nun der entscheidende Wende­punkt der Krise gekommen sein könnte?

Noch zu keinem Zeitpunkt in dieser Krise hatte die Hoffnung auf ein Ende so gute Gründe wie jetzt.

Aber davor kommen harte Monate. Und ohne die aktive Mitwirkung der überwältigenden Mehrheit wird der Kampf gegen das Virus nicht zu gewinnen sein.

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