Auf lange Sicht

Opa Bauer, Mama Monteurin, Sohn Gamedesigner

Im 19. Jahr­hundert gab es in der Schweiz drei gleich grosse Wirtschafts­sektoren – heute dominiert ein Bereich komplett: eine grafische Geschichte des ökonomischen Strukturwandels.

Von Simon Schmid, 04.01.2021

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Allan G. B. Fisher: Ausser einigen Wirtschafts­historikerinnen kennt niemand diesen Namen. Schade – denn der in Neu­seeland geborene Ökonom hat 1935 eine Einteilung erfunden, die wir heute mit Selbst­verständlichkeit benutzen: die drei Wirtschafts­sektoren. Also Land­wirtschaft, Industrie und Dienstleistungen.

Und das kam so: Als Neu­seeland während der Grossen Depression in eine Krise fiel, überlegte sich Fisher, was dagegen zu tun sei. Sollte die Regierung die Währung abwerten, um den Verkauf von Agrar­produkten anzukurbeln, Neu­seelands wichtigstem Exportgut? Oder sollte sie lieber eine Zentral­bank gründen und Kredite an andere – zukunfts­trächtigere – Branchen vergeben?

Fisher, der während des Ersten Welt­kriegs in einem Armeespital in Ägypten gedient hatte und später Wirtschafts­professor an Neu­seelands ältester Universität in Otago wurde, entschied sich für Letzteres – und vertrat seine Position vehement in Fach­artikeln. Daraus entstand 1935 ein Buch mit einem einpräg­samen Titel: «Der Clash zwischen Fortschritt und Sicherheit».

Wie entsteht ökonomischer Wert? Und wie hat der Struktur­wandel damit zu tun? Fishers Buch war eine der ersten Abhandlungen zu diesen Fragen, die die wirtschafts­politische Diskussion bis in die Gegenwart beschäftigen.

Die drei­geteilte Wirtschaft

Wir können Fishers Gedanken nach­vollziehen, indem wir uns die Schweizer Wirtschaft vor der Wende zum 20. Jahrhundert vor Augen führen – im Jahr 1890. Diese stand da an einem ähnlichen Punkt wie die neuseeländische Wirtschaft in den 1930er-Jahren: Je ungefähr ein Drittel der gesamten Wert­schöpfung wurde in der Land­wirtschaft, in der Industrie und mit Dienst­leistungen erzielt. Also in den Wirtschafts­sektoren, die man seit Fisher mit 1, 2 und 3 durchnummeriert.

Die folgende Grafik macht diese Drei­teilung sichtbar. Sie zeigt den Anteil der Land- und Forst­wirtschaft (in Grün), jenen diverser Industrie­branchen (wie zum Beispiel der Textil- und Kleider­herstellung, in Blau­tönen) und jenen von Dienstleistungs­branchen (wie dem Detail­handel oder Verkehr, in Rottönen).

Drei gleich­berechtigte Sektoren

Wert­schöpfung in der Schweizer Wirtschaft, 1890

Landwirtschaft
Industriebranchen
Dienstleistungsbranchen
0 25 50 75 100 %

Quelle: HSSO

Was Allan G. B. Fisher während der Grossen Depression umtrieb, war Ende des 19. Jahr­hunderts auch in der Schweiz zu beobachten: Die Land­wirtschaft verlor an Bedeutung. Die Produktion von Wolle, Fleisch und Milch­produkten (in Neuseeland) respektive Weizen, Kartoffeln und Käse (in der Schweiz) trug verhältnis­mässig wenig zum Wachstum der Wirtschaft bei. Viel schneller wuchs der Verdienst in anderen Bereichen: mit Textilien, in der Metall- und Maschinen­industrie, in der Bau­wirtschaft, im Detail- und Grosshandel.

Industrie und Dienst­leistungen expandieren

Beiträge zum Wachstum, 1890 bis 1900

Landwirtschaft
Nahrungsmittel
Textilien
Chemie
Maschinen
Uhren
Bauwirtschaft
restl. Industrie
Handel
Finanzbranche
Gastronomie
Verkehr
Gesundheit
Verwaltung
restl. Dienstl.
1. Sektor+0 +10 % 2. Sektor+0 +10 % 3. Sektor+0 +10 %

Quelle: HSSO

Bereits im Jahrzehnt von 1890 bis 1900 wurde das Gros der Wert­schöpfung also im zweiten und im dritten Wirtschafts­sektor erzielt – oder wie Fisher gesagt hätte: in dem Teil der Wirtschaft, der sich mit «neuer oder relativ neuer Konsumenten­nachfrage» befasst und durch «Verbesserungen der technischen Effizienz» ermöglicht wird. Die Verschiebung weg vom ersten Sektor sollte sich über die kommenden Jahrzehnte weiter verstärken.

Doch wie definieren sich diese drei Sektoren genau? Der Ökonom aus Neu­seeland formulierte es in der Zwischen­kriegs­zeit auf fast schon poetische Weise: Während der erste Sektor zur Gewinnung von Rohstoffen und der zweite zu deren Verarbeitung da sei, befasse sich der dritte Sektor mit Dingen, «von denen die wirkliche Zivilisation abhängt»: Bilder, Musik, Wissen­schaft, Philosophie, Literatur, Bildung, Reisen, Unterhaltung.

Für solche immateriellen Güter und persönlichen Dienst­leistungen, so glaubte Fisher, würden Konsumentinnen in Zukunft mehr Geld ausgeben wollen. Ressourcen in die Expansion des dritten Sektors zu lenken, wäre deshalb «in diesem Stadium unserer Geschichte wünschbar».

Zwei Sektoren nehmen überhand

Wirtschafts­wissenschaftler, die an Fishers Werk anknüpften, brachten einige Jahre später etwas prosaischere Definitionen hervor. Charakteristisch für den ersten Sektor seien abnehmende Erträge, schrieb der Brite Colin Clark um 1940 (er hatte zuvor ebenfalls Zeit in Australien und Neu­seeland verbracht): Land­wirtschaftlicher Boden sei eine limitierte Ressource, man könne beim besten Willen nicht unendlich viel aus ihm herausholen.

Typisch für den zweiten Sektor sei dagegen die Kapital­intensität: Zunächst werde in eine Fabrik, in Fahrzeuge, in Geräte investiert – und danach würden mithilfe dieser Kapital­güter die verschiedensten End­produkte hergestellt. Heute wären das etwa: Pullover, Auto­mobile, Staub­sauger, Playstations. Die Möglichkeiten, neuere und bessere Produkte auf den Markt zu bringen, sind laut Clark fast unerschöpflich – ebenso wie das Potenzial, ökonomischen Wert zu schaffen, sprich: Güter herzustellen, für die jemand bezahlen will.

Der dritte Sektor wurde von Clark, einer wichtigen Figur in der Entwicklung makroökonomischer Messmethoden, eher stief­mütterlich behandelt. Er sah ihn zunächst als blosses Überbleibsel an – als Sammel­surium von meist arbeits­intensiven Tätigkeiten, die nicht recht ins Schema passen. Erst spät ging er dazu über, diesen vermeintlichen Restposten als service industries zu bezeichnen, also als Dienstleistungswirtschaft.

Bereits zu dieser Zeit, Mitte des 20. Jahr­hunderts, war allerdings sehr wohl bekannt, dass neben der Industrie genau diese Rest­kategorie dazu tendiert, einen immer grösseren Stellen­wert einzunehmen. Veranschaulichen lässt sich dies anhand der Schweizer Wirtschaft von 1960. Die Land­wirtschaft ist hier bereits von 30 auf 10 Prozent geschrumpft. Ein umso umfang­reicherer Teil der Wert­schöpfung findet dafür in der Industrie statt (heraus stechen die Textilien-, die Kleider- und die Schuh­produktion sowie Metalle und Maschinen) – und in den Dienst­leistungen (prominent sind der Handel und der Verkehr).

Industrie und Dienst­leistungen dominieren

Wert­schöpfung in der Schweizer Wirtschaft, 1960

Landwirtschaft
Industriebranchen
Dienstleistungsbranchen
0 25 50 75 100 %

Quelle: HSSO

Die 1960er-Jahre haben sich im Nachhinein als jener Moment entpuppt, in dem die Industrie­gesellschaft im Zenit stand. Nie zuvor – und nie wieder – sollte der zweite Sektor ein verhältnis­mässig grösseres Gewicht haben.

Dass damals die Ansichten eines weiteren Ökonomen vermehrt Beachtung fanden, ist insofern kein Zufall. Sein Name war Jean Fourastié, er war ein Wirtschafts­berater des EU-Gründer­vaters Jean Monnet in der französischen Administration. Fourastié stellte den Konsens der Nachkriegszeit infrage: Der Industrie­boom könne nicht ewig anhalten, schrieb er: Mit der Zeit würde ein Wandel einsetzen hin zu einer «tertiären Zivilisation».

Der Absolvent der Pariser Ingenieur­schule École Centrale und Doktor der Rechts­wissenschaft nahm an, dass zwei Gründe dafür verantwortlich seien:

  • Die Nachfrage: Irgendwann sind die materiellen Bedürfnisse gesättigt, man verlangt nach höher­wertigen Gütern und Dienst­leistungen.

  • Das Angebot: Solche Güter und Dienst­leistungen sind arbeits­intensiv, ihre Herstellung lässt sich schlecht in Fabriken rationalisieren.

Die Dienstleistungs­ökonomie

Die sogenannte 3-Sektoren-Hypothese nach Fourastié wurde bald zum Standard­stoff, der Schülerinnen bereits auf Gymnasial­stufe vermittelt wurde. Denn je weiter das 20. Jahrhundert fortschritt, desto mehr verlagerten sich die wirtschaftlichen Aktivitäten tatsächlich in den dritten Sektor. Und je näher man der Gegenwart kommt, desto extremer wird diese Tendenz.

Auch in der Schweiz. Schaut man sich das vergangene Jahrzehnt an, so findet man noch genau eine klassische Industrie­branche mit nennens­wertem Wachstum: die pharmazeutische Industrie (die in den Grafiken weiter oben noch als «Chemie» angeschrieben ist). Fast das gesamte restliche Wachstum, das von 2009 bis 2019 verzeichnet wurde, entfällt auf die Dienstleistungen.

Pharma als Ausnahmebranche

Beiträge zum Wachstum, 2009 bis 2019

Landwirtschaft
Nahrungsmittel
Textilien
Pharma
Maschinen
Uhren
Bauwirtschaft
restl. Industrie
Handel
Finanzbranche
Gastronomie
Verkehr
Gesundheit
Verwaltung
restl. Dienstl.
1. Sektor+0 +10 % 2. Sektor+0 +10 % 3. Sektor+0 +10 %

Das Wachstum der beiden Kategorien «Textilien» und «restliche Industrie» liegt leicht unter null. Zur besseren Darstellung wurde es hier auf null gerundet. «Pharma» inklusive Chemieindustrie. Quelle: BFS

Darunter fallen diverse Branchen, die es teils schon 1890 und 1960 gab (etwa den Handel und die Gesundheit). Andere sind neu: Tele­kommunikation, IT, Consulting. Teils fallen auch Tätigkeiten darunter, die es im Prinzip schon lange gibt, deren Stellen­wert aber zugenommen hat: Reisen, Werbung, Unternehmens- und Immobilien­dienstleistungen, Unterhaltung, Sport.

Es ist nicht ganz einfach, die historischen Wirtschaftsstatistiken, die es zur Schweiz gibt, mit den aktuellen Zahlen des Bundesamts für Statistik in Einklang zu bringen – die Branchen sind teils anders kategorisiert. Möglich, dass der Struktur­wandel dadurch etwas überzeichnet wird. Doch die Tendenz ist klar, und sie deckt sich mit Zahlen aus anderen Ländern: Rund drei Viertel der Wert­schöpfung werden inzwischen im dritten Sektor erzielt.

Ein Sektor überstrahlt alles

Wert­schöpfung in der Schweizer Wirtschaft, 2019

Landwirtschaft
Industriebranchen
Dienstleistungsbranchen
0 25 50 75 100 %

Quelle: BFS

Damit wird deutlich, welch enorme Veränderungen die Wirtschaft über die vergangenen Jahrzehnte hinweg durchgemacht hat. Veränderungen, die Denker wie Allan G. B. Fisher, Colin Clark und Jean Fourastié kommen sahen – und die sie, als Zivilisations­optimisten, mehrheitlich begrüssten.

Und doch stellen sich auch heute wieder ähnliche Fragen, wie sie in Neu­seeland während der Grossen Depression aufgeworfen wurden. Wie rasch sollen gewisse Branchen untergehen? Wie schnell sollen andere wachsen? Wie gehen wir mit dem «Clash zwischen Fortschritt und Sicherheit», mit den Interessen der Aufsteiger- und der Absteiger­branchen um?

Ähnlich wie damals stellen sich auch statistische Probleme. Können wir Facebook und den Coiffeur­salon um die Ecke wirklich in denselben Topf werfen – Dienstleistungen? Und was verbindet einen Paket­kurier mit einer Immobilien­maklerin, einen Sportclub mit einem Video­streamingdienst?

Wie schon Allan G. B. Fisher beim Aufstellen seiner Gliederung herausfand, ist das Selbst­verständliche in den Wissen­schaften oft auch das Schwierigste.

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