Ein Feigenblatt auf dem Kopf

Der Bundesrat schlägt eine Helmpflicht auch auf langsamen E-Bikes vor. Doch so sinnvoll die Massnahme klingt, sie könnte das genaue Gegenteil dessen bewirken, was nötig wäre.

Von Michael Rüegg (Text) und Emily Eldridge (Illustration), 16.11.2020

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Ich sah noch, wie plötzlich die Autotür aufging. Dann Schnitt auf Schwarz.

Als das Bild zurück war, Blick auf mein Velo. Es schien noch ganz zu sein. Schmerzen spürte ich keine, aber die würden sich wohl später bemerkbar machen. Im Moment war noch Schock. Der Aufprall war nicht ohne. Aber ich stand aufrecht, war weder um- noch vom Rad gefallen. Nur beduselt.

Unterwegs war ich auf meinem üblichen Weg ins Zürcher Stadtzentrum. Dieser Abschnitt der Birchstrasse ist eine lange Gerade, die von Neu-Oerlikon zur Wehntaler­strasse führt, mit leichter Steigung. Ich fuhr so 20 Stundenkilometer, mein E-Bike hatte ich wie meist auf minimale Unterstützung eingestellt. So fährt es sich fast wie ein normales Velo, bedenkt man, dass Motor und Batterie zusätzliches Gewicht draufpacken.

Rechts parkierten Autos in der blauen Zone. Ich halte jeweils eine Armlänge Abstand, und meine Arme sind lang.

Und dann peng.

Der Fahrer: ein Mann mit grauem Bart. Er war sehr besorgt – um seine Autotür. Ich wartete, dass er sich nach meinem Befinden erkundigen würde. Tat er nicht, stattdessen beschimpfte er mich, was ich hier zu suchen hätte. Ich könne ja in der Mitte der Strasse fahren, nicht dort, wo er aussteige!

Vorbeifahrende Autos hupten, weil die Tür noch immer offen stand, ich mit meinem E-Bike davor. Eine kurze Diskussion, ich nun stinkwütend: Ob meine Versicherung den Schaden an seiner Tür bezahle, wollte er wissen. Er habe nämlich keine Vollkasko. Irgendwann wurde es mir zu blöd. Statt die Polizei zu rufen, fuhr ich einfach weiter. Später fielen mir ein paar Schürfungen und noch später blaue Flecken an Armen und Oberschenkeln auf. Aber zu meinem grossen Erstaunen hatten mein Velo und ich den Kampf gegen den weissen Seat für uns entschieden.

Die Helmfrage

«Hattest du einen Helm auf?», fragte eine Freundin, als ich von meinem Zusammenstoss berichtete. Zu meiner Schande musste ich gestehen: Nein, hatte ich nicht. Hätte allerdings auch nichts gebracht in dem Setting. Mein Kopf blieb heil, es war mein Oberkörper, der mit der Autotür zusammenstiess.

Ich erinnerte mich, dass mitten in den Sommerferien folgende Schlagzeile zu lesen gewesen war: «Bundesrat will Helmpflicht für E-Biker einführen». Die Landes­regierung meint damit nicht die schnellen E-Bikes, die man bereits jetzt nur mit Helm fahren darf. Sie meint mich auf meinem langsamen E-Bike, dessen Motor bis maximal 25 Stundenkilometer Unterstützung leistet. Denn: Die Unfälle mit E-Bikes hätten sich verfünffacht, argumentiert die Regierung. 321 Tote oder Schwerverletzte sei die Bilanz im Jahr 2018.

Doch ist der Helm tatsächlich die Antwort auf die Frage, wie man Velofahrerinnen vor Unfällen schützt?

Kurz nach der Ankündigung des Bundes befasste sich die Internet-Zeitung «Infosperber» mit der Frage. Autor Felix Schindler zeigt in seinem lesenswerten Beitrag auf, dass das federführende Bundesamt für Strassen (Astra) und die Sekundär­berichterstattung anderer Medien zur Helmfrage ihre Tücken hat. Ein paar Wochen später doppelte Schindler nach. Die wohl wichtigste Erkenntnis:

Es stimmt zwar, dass die schweren Unfälle mit E-Bikes während der letzten Jahre zugenommen haben. Doch die Zahl der Unfälle wuchs linear mit den Verkaufszahlen der E-Bikes. Es gab also nicht mehr Unfälle, sondern einfach mehr E-Bikes, die prozentual gleich viele Unfälle produzieren.

Nun lässt sich argumentieren, dass so ein Helm ja keine schlechte Sache sei, ganz egal, was die Zahlen belegen. Doch so einfach ist es nicht. Ein Obligatorium ist ein Eingriff in die Freiheit der Bürgerin. Und ein Eingriff in die Freiheit muss gerechtfertigt sein. Entsprechend stellen sich nun ausgerechnet die Velo­befürworterinnen quer. Und das nicht ohne Gründe, wie diverse Statistiken und Untersuchungen nahelegen.

Mit oder ohne Motor macht keinen Unterschied

Zuallererst ein Blick ins eigene Land: Abgekürzt klingt das Schweizer Kompetenz­zentrum für Unfälle wie ein Bundesamt, doch BfU steht für «Beratungsstelle für Unfallverhütung». Diese forscht und informiert in öffentlichem Auftrag über Unfälle und deren Vermeidung. Und sie begrüsste die vom Bundesrat vorgeschlagene Helmpflicht in einer «politischen Position» auf ihrer Website ausdrücklich:

Bereits heute tragen zwei Drittel der Fahrerinnen und Fahrer auf den langsamen E-Bikes einen Schutzhelm. Dies bedeutet aber auch, dass noch immer beinahe jeder und jede Dritte ohne Helm unterwegs ist. Die BfU ist überzeugt, dass sich mit der Einführung einer Helmpflicht für langsame E-Bikes eine deutlich höhere Tragquote erreichen lässt. Dies zeigt die Tragquote von knapp 90 Prozent bei den schnellen E-Bikes.

Website Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU).

Zur Erinnerung: Schnelle E-Bikes beschleunigen bis 45 Stundenkilometer. Wer damit fährt, braucht wie bei einem Mofa eine Nummer, einen Helm und einen Rückspiegel. Langsame E-Bikes beschleunigen bis 25 Stunden­kilometer und werden wie normale Velos behandelt – bis jetzt.

Dieselbe Beratungsstelle für Unfallverhütung brachte 2017 einen Report über E-Bikes heraus. Die darin gemachte Analyse der Alleinunfälle und Kollisionen sieht keinen Unterschied zwischen langsamen E-Bikes und Velos ohne Motor:

Nur bei schnellen E-Bikes ist das Verletzungsrisiko signifikant erhöht (im Vergleich zu langsamen E-Bikes und Fahrrädern), und dies auch nur bei Alleinunfällen (nicht bei Kollisionen). Das Verletzungsrisiko bei Unfällen mit langsamen E-Bikes und Fahrrädern unterscheidet sich hingegen nicht.

BfU-Report 75: «Verkehrssicherheit von E-Bikes mit Schwerpunkt Alleinunfälle».

Also auch hier keinerlei Hinweise darauf, dass sich langsame E-Bikes in Sachen Unfälle von Velos ohne Motor unterscheiden. Schwere Unfälle, die in der Studie erwähnt werden, haben nichts mit dem Bike zu tun, sondern damit, dass E-Bike-User ein höheres Alter aufweisen.

Die BfU scheint Helme einfach generell eine gute Sache zu finden, unabhängig von der Fragestellung. Doch sind sie das tatsächlich? Oder ist, was nach Vernunft klingt, doch nicht in jedem Fall das Beste?

Global betrachtet: Mit Helm viele Tote, ohne Helm wenige

Die amerikanische Verkehrs-Newssite «Streetsblog USA» hat Unfallzahlen und Helmtragequote verschiedener europäischer Länder mit den USA verglichen. Das Ganze steht zwar etwas auf tönernen Füssen, denn die Daten stammen aus unterschiedlichen Studien und Zeiträumen und beziehen sich auf alle Fahrräder.

Dennoch ist eine gewisse Aussagekraft nicht von der Hand zu weisen. Die Autorinnen vergleichen die Anzahl helmtragender Velofahrer mit der Sterberate pro Milliarde gefahrener Kilometer. Ergebnis: In den USA tragen mit über 50 Prozent relativ viele Velofahrerinnen einen Helm. Die Sterberate pro Milliarde Velokilometer liegt bei rund 45 Personen. In den Niederlanden trägt praktisch niemand einen Helm. Die Sterberate dort liegt mit rund 10 Personen pro Milliarde Kilometer mehr als viermal tiefer. Ein ähnliches Bild zeigt sich in Dänemark. In der Schweiz sind es rund 14 Personen pro Milliarde Kilometer (ohne E-Bikes).

Angesichts dieser Unterschiede drängt sich die Erkenntnis auf: Ob Helm oder nicht, hat einen geringen Einfluss auf die velofahrenden Todesopfer im Strassenverkehr. Es muss also an anderen Faktoren liegen, ob Velofahrer verunfallen.

Mehr Helm gleich weniger Velofahrten

Gemäss Veloverbänden ist Velofahren sicherer, wenn mehr Velos unterwegs sind. Dies, weil Autofahrerinnen bei einem höheren Velo­aufkommen mehr auf diese Kategorie von Verkehrs­teilnehmern achten würden.

Doch genau dort, wo die Helmpflicht gilt, soll der Anteil Velos am Verkehr stagnieren oder zurückgehen.

Zu denken gibt eine Untersuchung aus Australien im Zeitraum von Mitte der 1980er-Jahre bis 2011. Dort verzeichnete der Veloverkehr starken Zuwachs – bis Anfang der 1990er-Jahre, als vielerorts eine Helmpflicht eingeführt wurde. Seither wächst die Zahl der Velofahrerinnen in diesen Gebieten zwar weiter, aber in geringerem Ausmass im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung.

Will heissen: Statt eines Trends zu mehr Velos führte die Helmpflicht dazu, dass die Menschen sich eher anderen Verkehrs­mitteln zuwandten. Im Northern Territory, wo es auf Velorouten keine Helmpflicht gibt, wuchs die Zahl der Velofahrer hingegen stärker an. Ähnliche Ergebnisse liegen auch aus Regionen in Kanada vor, in denen die Auswirkungen der Helmpflicht aufs Veloaufkommen untersucht wurde.

Stellt man diese Erkenntnis nun in einen Zusammenhang mit dem Grundsatz «Mehr Velos auf der Strasse gleich sicherere Fahrten», klingelt schon das erste Alarmglöcklein: Wenn die Helmpflicht wirklich zu einem Rückgang der Velofahrten führt, wird die Strasse für die einzelne Fahrerin auf dem Drahtesel eher gefährlicher.

In seinem «Infosperber»-Artikel verweist der Autor auch auf den britischen Verkehrs­psychologen Ian Walker. Dieser hat das Verhalten von Autofahrern untersucht, die Velos überholten. Sein Fazit nach 2500 aufgezeichneten Überhol­manövern: Trägt die Velofahrerin einen Helm, überholt das Auto mit geringerem Abstand. Dazu passt, was Walker 2009 gegenüber dem «NZZ Folio» ausführte: Wer als Mann sicher Velo fahren wolle, trage besser eine Damen­perücke als einen Helm. Die Autofahrer würden bei vermeintlichen Frauen mehr Abstand halten.

Lieber nicht über echte Lösungen nachdenken

Der Verdacht liegt nahe, dass das Astra mit der Einführung der Helmpflicht für langsame E-Bikes einfach einen Bogen um den Kern des Problems machen will: die Tatsache, dass Velofahrerinnen vielerorts in der Schweiz auf den Strassen als «fahrende Hindernisse» bloss geduldet sind. Sie bleiben die schwächeren Verkehrs­teilnehmer, wenn sie ihren Strassenraum mit Autos und Lastwagen teilen müssen. In einer Kollision mit einem Auto in Bewegung zieht das Velo immer den Kürzeren – da nützt meist auch ein Helm nichts. Die Kräfte, die bei einem derartigen Zusammenstoss zum Tragen kommen, sind anderer Natur.

Könnte die Schweiz nicht wie nordische Länder oder die Niederlande den Velos mehr exklusive Verkehrswege bauen? Velospuren planen, innerhalb deren sich Velos überholen können? Kreuzungen sicherer machen? Velo­schnellrouten einführen?

Sie könnte. Aber das würde Geld kosten. Und bedingen, dass Autospuren aufgegeben werden. Also setzt die Schweiz lieber auf eine Ausweitung der Helmpflicht auf langsame E-Bikes. Und später vielleicht auf alle Velos? Schaut man sich an, wozu die Massnahme andernorts geführt hat, stehen die Chancen gut, dass der Bund damit Erfolg haben wird: und die Zahl der Unfälle sinken wird. Ganz allein deswegen, weil weniger Velos auf den Schweizer Strassen unterwegs sein werden.

Es wird auch gelockert

Es wäre aber falsch, daraus zu schliessen, das Astra wolle im Rahmen der anstehenden Verkehrsrevision bloss die Schrauben anziehen. Denn Teil des Änderungs­pakets, das noch bis im Dezember in der Vernehmlassung steckt, sind auch Anpassungen am Gesetzespaket «Via sicura», das auf Raser zielt – ein Auftrag aus dem Parlament. Dort sollen unter anderem die Mindest­haftstrafen und die Mindestdauer für Führerausweis­entzüge gesenkt werden.

Gelockert werden sollen die Regeln also bei Rasern, von denen eine Gefahr ausgeht. Und im Gegenzug verschärft bei Velofahrerinnen auf langsamen E-Bikes, die kaum andere Verkehrsteilnehmer gefährden.

Zumindest in England gaben bei einer Umfrage 2008 immerhin 27 Prozent der Frauen an, sie würden aufs Velofahren verzichten, weil der Helm die Frisur zerstöre. Das sind schon mal 27 Prozent weniger, die beim Überqueren eines Tramgleises hinfallen können.

Ich werde wohl zur Sicherheit künftig den Rat des Verkehrspsychologen Ian Walker befolgen und beim Velofahren eine Damenperücke tragen.

Zur Debatte: Ist Helm Pflicht?

Weshalb tragen Sie (k)einen Helm beim Velofahren? Denken Sie, dass alle Velofahrerinnen einen Helm tragen sollten? Müssten? Oder empfinden Sie die vorgeschlagene Massnahme als unnötigen Eingriff in Ihr persönliches Fahr­verhalten? Würden Sie im Falle eines Obligatoriums absteigen und ganz aufs Velofahren verzichten? Und falls ja: Sehen Sie andere Wege, wie Velofahrerinnen effektiv geschützt werden könnten? Hier gehts zur Debatte.

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