Wenigstens ein bisschen Licht im Club Exil in Zürich. Alle Bilder zu diesem Beitrag stammen aus der Serie «Idle Idylls» von Lucas Ziegler.

Ich will tanzen. Ist das schlimm?

Seit Beginn der Pandemie arbeiten sich die Politik und viele Medien an den Clubs ab. Warum eigentlich? Das Nachtleben als Sündenbock hat eine lange Tradition.

Von Ronja Beck, 06.11.2020

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Als sich abzeichnete, dass der Schweizer Bundesrat bald die Clubs schliessen würde, wollte ich mir selber nochmals anschauen, was vom Nacht­leben übrig geblieben war. Das war vor ein paar Wochen, bevor die Regierung am 29. Oktober den Stecker zog.

Es war eine grauslige Zeit, in der ich häufig und sehr unfreiwillig an «Blade» dachte.

Sie erinnern sich vielleicht: dieser halbgute Vampir­film aus den Neunzigern. Mit einem in einen schwarzen Leder­mantel geschlagenen Wesley Snipes, der als Blade – zur Hälfte Mensch, zur Hälfte Vampir, zur Gänze arschcool – die Blutsauger zwei Stunden lang ihrer gottverdammten Bestimmung zuführte.

Es waren genauer gesagt die ersten Minuten dieses Action-Desasters, die mich durch die Tage und Nächte verfolgten. Wir sind in einem Auto, eine überschminkte Frau greift dem Typen beherzt in den Schritt. Sie rasen, bremsen, steigen aus, taumeln durch ein Kühlhaus (hingen da Menschen­leichen?) und landen mitten in einer wild tanzenden Menge. Einige junge Leute stehen paralysiert (waren das Drogen?) zwischen den Tanzenden. Ein Typ lässt sich von einer Frau oral befriedigen. Die Musik wird schneller, schneller, schneller. Bis beim Höhepunkt die Sprinkler losgehen und – Blut von der Decke spritzt.

Verdammt, dachte ich mir: So würde es doch sein. Ich würde diese Nacht in Zürich mit Vampiren verbringen und das irgendwie überleben müssen.

Sollte ich mir einen Ledermantel zutun?

War ich verrückt geworden?

Gut möglich. Wahrscheinlicher war jedoch, dass ich einfach Angst hatte. Davor, in einen Club zu gehen. Bis ich einen Schritt zurücktrat und merkte: kein Wunder.

Die perfekte Sünde

Einen Club zu besuchen, kommt in einer Pandemie ziemlich nah ran an die Ursünde. Die Clubszene lebt von körperlicher Nähe, von der Dunkelheit, von Anonymität. Und steht damit gegen alles, was uns monatelang vorgebetet wurde: zu Hause bleiben, Abstand halten, Innen­räume meiden, Kontakte begrenzen, am besten immer wissen, wo man wann mit wem wie lange war. Das Einzige an Hedonismus, was uns der Bundesrat während Monaten gönnte, war ein Spazier­gang im Wald. Und die keuchenden Jogger machten uns sogar diesen streitig.

Ende Juli vermeldete das Bundesamt für Gesundheit, die meisten Ansteckungen mit dem Corona­virus erfolgten in Clubs; es warnte vor Massen­infektionen im Nacht­leben. Zwei Tage später die Korrektur: Der wichtigste Ansteckungs­ort sei vielmehr die Familie, Clubs machten nur 1,9 Prozent der Ansteckungen aus, fast 40 Prozent liessen sich nicht genau bestimmen. Die Zahlen: im Grundsatz unbrauchbar.

Jede Journalistin weiss: Eine Korrektur wird immer schlechter gelesen als die Falsch­meldung. Der Image­schaden war angerichtet.

Keine Frage: In Clubs kann man sich während einer Pandemie anstecken. Vor allem können Anlässe in Clubs, weil viele Menschen aus unter­schiedlichen Umfeldern zusammen­kommen, zu sogenannten Superspreader-Events werden – ein belasteter Begriff, aber dazu später mehr –, wenn eine einzige Person auf einen Schlag viele andere ansteckt.

Wo sich nur noch die Sitzmöbel nahe sind: Im Zürcher Club Zukunft.

Das gilt aber ebenso für Hochzeiten, Schwing­feste oder Konferenzen, für Einkaufs­zentren oder Restaurants. Trotzdem schwingt bei der Beurteilung von Clubs in der öffentlichen Debatte ein moralischer Unterton mit, der im Umgang mit vergleich­baren Risiken ausbleibt.

Und dieser Unterton ist nichts Neues.

Clubbing: Die sicherste Tür der Stadt

Mein Abstecher in die Zürcher Unterwelt Mitte Oktober fängt an mit einer ganzen Menge – Absagen.

DJanes aus Deutschland können wegen der neuesten Quarantäne-Vorschriften nicht mehr einreisen, Partys werden gecancelt, erste Clubs schliessen. Offiziell werden zu diesem Zeitpunkt noch 100 Gäste toleriert. Als ich mit meiner Begleitung vor dem Club Kauz stehe, hat es allerdings so wenige Menschen – nämlich keine –, dass ich an jedem normalen Samstag abgezischt wäre.

Aber normal war nun eben nichts mehr.

Der Türsteher will, dass wir uns via QR-Code registrieren, danach soll ich ihm meinen Ausweis zeigen. Den meiner Freundin will er auch sehen, ich stupse sie an, «Na, der hält dich noch für jung, hehe», sie guckt verwirrt, ich gucke verwirrt, bis ich realisiere, dass die vier Leute hinter uns, die inzwischen doch noch aufgetaucht sind, auch ihre Ausweise für die Security zücken. Damit das auch sicher stimmt, was wir eingetragen haben. Ich sage nichts mehr, bezahle die 25 Stutz in bar und steige stumm die Treppe hinab in eine Wand aus Nebel.

Ab dem 6. Juni hatte der Bundesrat – bis er am 29. Oktober wieder zurückruderte – landesweit Partys erlaubt. Zunächst und unter schwächeren Auflagen, als es die Club-Lobby gefordert hatte. Drei Wochen später meldete der Kanton Zürich seinen ersten Super­spreader-Event – in einem Club.

Weil ein Covid-Positiver das «Flamingo» an der Limmat­strasse besucht hatte, sollen zwischen 5 und 25 Menschen in Zürich und im Aargau krank geworden sein. Gleichzeitig versagte das Contact-Tracing, weil einige Clubbesucher Spassnamen in die Liste vor der Tür eintrugen. Eine doppelte Katastrophe.

In den Folgewochen rissen die Push­meldungen nicht ab. Tausende Menschen mussten sich in ihren Wohnungen verschanzen, weil sie mit einem Erkrankten in einer Bar getrunken oder in einem Club getanzt hatten.

Und vergessen wir bitte nie Ischgl. Waren es nicht die Après-Ski-Feiernden in Österreich, die das Virus im Frühjahr über halb Europa verbreitet hatten?

Wie viele sich jeweils tatsächlich angesteckt hatten, war in vielen Fällen nicht klar oder wurde nicht kommuniziert. Zeitungen schrieben trotzdem gerne von «Superspreadern». Den ultimativen Hammer­schlag setzte das Bundesamt für Gesundheit am 31. Juli mit seiner Falsch­meldung zu den Haupt­ansteckungs­orten.

Die Meldung bestätigte endlich, was viele längst dachten: Das Nacht­leben war nicht nur gefährlich, es war das epidemiologische Epizentrum.

Der Kanton Genf ignorierte die spätere Korrektur des BAG, meldete, dass sich 40 Prozent der Covid-Erkrankungen auf das Nacht­leben zurück­führen liessen, und schloss die Clubs bis Mitte November. Der gewünschte Effekt trat nicht ein. Am 2. November ging Genf erneut in den Shutdown. Genf ist, gemessen an der Bevölkerungs­zahl, seit Monaten der am heftigsten betroffene Kanton der Schweiz.

Die Pushmeldungen aus den Boulevard­häusern, die wütenden Politiker-Tweets zu den Clubs und Bars, sie blühten in der Schweiz schon im Frühjahr, als die Bars in der Basler Steinenvorstadt verbotenerweise proppenvoll waren. Und sie fanden zu ihrer vollen Blüte, als die Verbote längst passé waren.

Auch Journalistinnen sparten nicht mit dem Dünger. Sie verbreiteten zum Beispiel Aufnahmen von wild herum­springenden Menschen in Liverpool, am Abend bevor die Pubs wieder geschlossen wurden.

War das Information? Ging das noch als epidemiologische Warnung durch? Oder war das einfach nur öffentliches Beschämen?

Hassmails an die Clubbesitzer

Die junge Ida in Deutschland wurde, wohl unfreiwillig, zur Märtyrerin der Clubszene. Vor einer Kamera des deutschen ZDF erläutert sie, wie es für sie sei, ohne drei Partys pro Woche zu leben. «Ich bin darauf angewiesen. Darauf zu verzichten, geht mir schon recht ab», sagt sie.

Der Ausschnitt ging in den sozialen Netzwerken viral. Über die junge Frau, die einfach artikulierte, wie es ihr ging, ergoss sich eine Flut aus Hass. Ein viel kommentierter Tweet mit dem Video ist inzwischen gelöscht. Die Message des Mobs war eindeutig: Wieso verdammt noch mal kannst du nicht auf deinen Spass verzichten, während Menschen ihre Jobs verlieren oder sterben?

Passend dazu erzählen mir Mitglieder der eidgenössischen Bar- und Club-Kommission am Telefon von den anonymen Hassmails, die sie seit Monaten erhalten. Alexander Bücheli von der Zürcher Kommission las zuletzt in seinem Posteingang, dass man die Club­betreiber doch «an die Wand stellen» und ihnen «auf den Kopf scheissen» sollte.

In meinen Gedärmen rumorte eine Erkenntnis, die da seit Monaten still heran­gewachsen war: dass wir in dieser Krise zwar Solidarität gefordert, gefunden und laut besungen haben. Dass sich bei dem ganzen Lärm aber unser Empathie­vermögen klamm­heimlich davon­gestohlen hat.

Das Problem dahinter sitze tief, sagt mir der Medizin­historiker Flurin Condrau. Wir haben es nämlich mit einem System­fehler zu tun.

Clubbing: Nasser Arsch und tote Hose

Im Kauz steig ich durch den Nebel und finde dahinter – Nebel. Er lässt die Leere nicht so leer aussehen, die kleine Maschine in der Ecke leistet Wunder. Irgendwo in einer dunklen Ecke wippt ein Typ hin und her, an der Bar steht ein Pärchen und spricht durch die Maske. Der Bass wummert durch die Schwaden. Das hier ist nicht «Blade». Das ist eine Arte-Doku über die mongolische Steppe (die übrigens sehr sehenswert ist). Auch die weltbeste Nebel­maschine kann nicht verbergen: So wird das nicht mehr lange gehen.

Drinks bestellen und ab ins Raucher­kämmerlein. Als sich meine Freundin bei schummrigem Kerzen­licht auf ein Sofa plumpsen lässt, vergisst sie, dass sie nur Sekunden zuvor ihren Drink auf ebenjenes Sofa gestellt hat, und so läuft das klebrige Zeug übers Leder und unter meinen Hintern. Es ist unsere Aufregung des Abends.

Die Getränke im Exil-Club warten auf Gäste …
… die nicht kommen.

Wir gehen auf die Tanzfläche und wackeln mit einer Handvoll Menschen ein wenig hin und her zum Techno­sound. Wir tragen Maske, setzen sie kurz ab, wenn wir einen Schluck unseres Getränks nehmen, und danach gleich wieder auf, wie alle anderen hier. Wir halten Abstand, weil es einem hier drinnen verdammt einfach gemacht wird, Abstand zu halten. Und über die laute Musik hinweg schreit mein Hirn: Um die Disziplin bei der Einhaltung der Schutz­massnahmen steht es in jedem 17-Uhr-Zug von Zürich nach Basel schlimmer als hier.

Du Superspreader!

Zurück zum Systemfehler. Flurin Condrau, der Medizin­historiker, verortet eine Ursache für die Schuld­zuweisungen in dieser Pandemie, für das blame game, wie er es nennt, im Kern­gehäuse unseres Staates. Nämlich im Gesundheitssystem.

«In der Schweiz ist Gesundheit stark individualisiert», sagt Condrau. Als perfektes historisches Beispiel dafür nennt er die Tuberkulose, die auf zwei Arten betrachtet werden kann: Sie lässt sich als Folge der sozialen Verhältnisse verstehen – oder als persönliches Infektions­risiko. «Versteht man sie als Folge der sozialen Strukturen, muss man diese verändern.» Die Schweiz führte diese Diskussion, wählte aber die zweite Perspektive. «Man entschied sich nicht, die Strukturen radikal anzugehen. Sondern baute Sanatorien für die Kranken.»

Derselbe Grundgedanke spiegelt sich im System der Kranken­versicherung: Grundsätzlich ist Krankheit hier Sache des Einzelnen, der Staat tritt nur subsidiär auf. Das strahlt zurück in die Politik: «Bei einem staatlichen Gesundheits­system, wie beispiels­weise Kanada eines hat, hätte man einen grossen Anreiz, in public health zu investieren.» In der Schweiz hingegen herrsche der Anreiz, das Gesundheits­wesen möglichst marktnah und auf die Einzelne fokussiert zu halten.

Eine Begleiterscheinung davon, findet Condrau, sei nun eben das blame game, und damit auch die Idee des Superspreaders: «Die Logik dahinter war schon immer die einer Schuldzuweisung.»

Er führt als prominentes Beispiel Mary Mallon auf, in die Geschichte eingegangen als «Typhoid Mary». Als Köchin soll sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in New York über 50 Leute mit Typhus angesteckt haben. Sie wurde fast 30 Jahre lang in Isolation gesteckt und lebte einsam bis zu ihrem Tod.

Dann gab es in den 1980ern Gaëtan Dugas, einen HIV-erkrankten, schwulen Flugbegleiter aus Kanada, der als sogenannter patient zero die HIV-Krise in Nordamerika initiiert haben soll und entsprechend geächtet wurde. Dumm nur, dass er nicht patient zero war, wie Forscher später aufklärten. Schwule und bisexuelle Menschen werden im Zusammen­hang mit HIV und Aids bis heute besonders stigmatisiert.

«Heute beobachte ich ähnliche Dynamiken, wie es sie damals gab», sagt Condrau. Tatsächlich wurden in den letzten Monaten mehrere Menschen hauptsächlich in den sozialen Netzwerken als «Superspreader» geoutet und öffentlich beschämt. Etwa ein Anwalt und Familien­vater in New York, den Bürgermeister Bill de Blasio persönlich auf Twitter als Infektions­quelle benannte – und der seither mitsamt Familie sozial geächtet wird.

Eine ähnliche Dynamik findet sich auch in der Schweiz. Befeuert wird sie vom Bundesrat selber und seinem ständig beschworenen Prinzip der «Eigen­verantwortung». Condrau nennt das auch: «Selbst­verantwortungs­druck».

Kein Konzept wurde in den vergangenen Monaten härter vertreten und gleichzeitig härter beschossen als das der Eigen­verantwortung. Vieles zu dürfen, aber selber entscheiden zu müssen, was nun angemessen genug, vorsichtig genug, also richtig genug ist. Eine Idee, die in einer Pandemie scheitern muss, findet der Medizin­historiker.

Das Konzept der Eigen­verantwortung ist wichtig, wenn wir über die Wut sprechen, die dem Schweizer Nacht­leben entgegenschlägt. Weil es den nötigen Raum dafür schafft.

Weil man den Menschen in der Schweiz sagt: Ihr dürft wieder – aber ihr solltet nicht. Für die Unternehmer und ihre Angestellten wird das schnell zu einer finanziellen Zerreiss­probe, für die Besucher zu einer moralischen.

Weil es heisst: Ihr dürft schon in diese Clubs und Bars gehen – aber wundert euch nicht, wenn das Blut der Corona­toten auf euch tropft.

Es gibt kaum eine effizientere Methode der moralischen Beschämung.

Clubbing: Wo bist du, Wesley?

Was würde Wesley Snipes wohl tun, wenn er jetzt vor uns stünde?

Würde er seine shotgun zücken und uns allen in die Brust ballern, so wie im Film? Oder würde er schnaubend seinen Leder­mantel zuschlagen und abzischen, weil wir keine räudige Menge gott­vergessener Nacht­kreaturen sind? Sondern nur ein paar einsame, hinter kratzigem Stoff versteckte Nasen?

Wir, das sind an diesem Abend die jungen Frauen, die ihre Körper vor dem DJ-Pult im Takt wiegen; die beiden Mittvierziger im Hemd, die verloren wirken; der Typ, der die Frauen immer ein bisschen zu lange und ein bisschen zu offensichtlich angafft; das junge Trio, das reingeschmuggelte Bierdosen in ihre leeren Gläser umfüllt. Im Prinzip ist alles und gleichzeitig nichts wie immer.

Eigentlich hatte ich die Menschen hier fragen wollen, wie sie mit dieser Situation umgehen. Wie es für sie ist, zu feiern, aber nicht zu feiern. Etwas zu tun, das explizit erlaubt ist, aber behandelt wird, als wäre es das nicht. Unvorsichtig zu sein in einer Pandemie. Doch jetzt, im Halbdunkel des Clubs, kam mir dieser Plan plötzlich sehr unpassend vor. War dieser Raum nicht gerade dazu gedacht, der Realität so weit zu entfliehen, wie man gerade noch konnte und – in diesem Moment – durfte?

Vielleicht aber war ich über die Monate einfach nur sozial verkrüppelt.

Gefährliche Fantasien

An einem Morgen im Bistro des Kunst­museums Basel – ums Eck sitzt gut hörbar eine Gruppe von Silber­haarigen, die schwatzen und lachen und keinen Abstand zueinander halten – erzählt mir Michel Massmünster vom über lange Zeit gewachsenen Image­problem der Nacht.

Der Kultur­anthropologe hat die Stunden jenseits der Sonne zu einem seiner Forschungs­schwer­punkte gemacht. «Die Nacht steht fürs Abnormale. Dazu wurde und dazu wird sie noch heute gemacht, von der Popkultur, von Filmen und Literatur», sagt Massmünster. «Sie ist eine Projektions­fläche für Fantasien, die anziehen und gleichzeitig abschrecken.»

Früher riegelten sich die vorindustriellen Städte mit Mauern vor den Gefahren von aussen ab. Nächtens wurden die Tore geschlossen. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurden die Mauern eingerissen, rund um die Fabriken und die Märkte öffneten Kneipen, Kaschemmen und Cabarets. Wer es sich leisten konnte, zog weg. «Die Lokale wurden aus bürgerlicher Sicht als Verführer bezeichnet, die die Arbeiter ins Elend lockten», sagt Massmünster. «Die Wirtshäuser als Orte, wo sich die Radikalen trafen und ihre Revolten planten. Das Bürgertum fürchtete einen Kontrollverlust.»

Kontrollverlust – in einer Pandemie, mit der wir heute leben müssen, pfeift das Wort noch immer, und das nicht nur in den Ohren der Mächtigen. Dass das Nacht­leben gemäss Massmünster häufig auch noch mit dem Bild einer Menschen­masse verbunden wird, einem Bild, das historisch mit Krankheiten verknüpft wird: schwierig.

Wobei, so Massmünster: Wenn wir in die Gegenwart schauen, hat sich das Image von Clubs und Bars in den letzten Jahren gewandelt. Die Nacht­kultur ist als Touristen­magnet wie als Wirtschafts­treiber erkannt. Die Zürcher Technoszene gehört seit 2017 zum Unesco-Weltkulturerbe. Clubbesitzer werden in Zeitungen als erfolgreiche Jung­unternehmer porträtiert. Die Clubs haben eine seriöse Lobby. Und so forderte selbst die NZZ Anfang August, die Moral beiseite­zuschaufeln und anzuerkennen, dass wir es hier mit einem «florierenden Wirtschafts­zweig» zu tun haben, der «wichtige soziale Orte» biete.

Eine Message auf Papier für den Bundesrat? Club Zukunft, Zürich.
Türsteher der besonderen Art im Club Zukunft.

Wie essenziell diese offenbar sind, zeigt sich mitten in der Pandemie an den vollen Stränden von Florida oder an den unbewilligten vollen Gassen in Bern im Sommer. Oder, jüngst, bei den illegalen Halloween-Partys in verschiedenen Städten. Die Party, der Rave, die Nacht: Sie stillen eine Sehnsucht, die sich nicht einfach verdrängen lässt.

Wie auch das Reisen. Erinnern wir uns einen andächtigen Moment lang an all die schönen Listen in den Medien, die uns aufzeigten, wo man trotz Corona noch Ferien am Meer machen konnte. An die Fluggesellschaften, die nur mit Milliarden aus den Staats­kassen den Kopf halbwegs über Wasser halten konnten. Obwohl uns genau diese weltumspannende Mobilität die Covid-Krise in diesem Ausmass erst beschert hat. Und da ist ja noch eine andere Krise, in der Flug­gesellschaften nicht unwesentlich waren, aber lassen wir das.

Oder nein, lassen wir das nicht.

Aus der Klimakrise liessen sich nämlich spannende Parallelen zur Covid-Krise ziehen, findet Medizin­historiker Flurin Condrau. Weil bei beiden Krisen die Verantwortung gerne beim Individuum gesucht und gefunden wird. «Schämen Sie sich nicht, noch zu fliegen?», fragen Medien immer wieder gerne Menschen an den Flughäfen.

Doch sollten wir diese Energie nicht lieber dafür aufwenden, die Strukturen zu verändern? Etwas ganz grundsätzlich anders zu machen, gemeinsam?

Dafür braucht es zuallererst: Empathie.

Der Wunschtraum einer absoluten Abstinenz

«Statt die Leute anzuschreien, weil sie unvorsichtig und egoistisch seien – eine komplett nachvollziehbare Reaktion –, fragen wir uns doch zuerst mal, warum sie feiern.»

Das schreibt Julia Marcus, Epidemiologin und Professorin an der Harvard Medical School in Boston. In mehreren Texten für den «Atlantic» erklärt sie, wie Aufrufe zu absoluter Abstinenz nie in Erfüllung gehen. Nicht bei Drogen­krisen, nicht bei HIV, nicht bei Covid. Die Leute lernen lediglich, ihr Verhalten besser zu verstecken. Und das besonders dann, wenn man ihnen mit Strafen droht.

Warum also feiern die Menschen? Wahrscheinlich, weil sie es in schwierigen Zeiten dringend brauchen. Weil sie einsam sind, Angst haben oder auch einfach unbändige Energie, die rausmuss. Weil auch Verzicht seine Grenzen kennt. Vielleicht gerade auch, weil die Pandemie so schwierig auszuhalten ist: «Ich bin fast 40, habe Kinder und gehe nie tanzen», twitterte ein Schweizer kürzlich aus seiner belastenden Quarantäne. «Ich. Will. Jetzt. Tanzen!» (Er blieb zu Hause.)

Riskantes Verhalten wird nicht verschwinden, indem man es der Häme aussetzt. Sondern, schreibt Marcus, indem man Menschen risiko­ärmere Alternativen aufzeigt. Und sie seelisch auffängt. Genau das wäre, unter anderem, der Job der Regierung in einer Krise.

Wissen Sie eigentlich noch, wie «Blade» endet? Wesley Snipes bewirft in einem dramatischen Endkampf den oberbösen Vampir – seines Zeichens, kein Witz: Clubbesitzer – mit einer Handvoll Spritzen. Darin steckt ein chemischer Stoff, der den Vampir in einen grossen Blob verwandelt und ihn schliesslich explodieren lässt.

Das Grundgerüst von «Blade» ist dem unserer Krise erstaunlich ähnlich: Bis wir den passenden chemischen Stoff gefunden haben, leben wir alle in einem grossen Action-Desaster. Machen wir das Beste daraus. Und lassen wir das blame game.

Clubbing: Heiss und fettig in der Langstrasse

«Du willst Geld von mir? DU? Ich komm aus dem Kongo, man! Kongo!» Der Mann in der verdreckten Trainer­jacke hebt die Hände, flüstert: «Okay, schönen Abend», und schlurft davon. Die drei Jungs in der Sitznische schütteln ungläubig ihre Köpfe.

Es ist bereits fast 4 Uhr morgens, wir haben am McDonald’s an der Langstrasse angelegt, Hafen für alle Fettsuchenden in den dunkelsten Stunden. Meine Hüfte tut weh. Im Neonlicht stopfen wir die Fritten viel zu schnell in unsere von Schnaps und Rauch aufgerauten Rachen. Gefühlt noch kauend sitzen wir dann im Uber und lassen uns durch die leere Nacht fahren.

Es gab bessere Nächte. Allerdings gab es auch schon bessere Tage.

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