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Die Schutzinsel

05.11.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Jeden Tag müssen Menschen ins Spital, weil sie Covid-19 haben. Die Intensivbetten füllen sich. Und was ist unser Plan? Die Schweizer Covid-Strategie lautet: Einerseits sollen die Fallzahlen wieder zum Sinken gebracht werden, andererseits soll ein landesweiter Lockdown so lange wie irgend möglich vermieden werden. Kann das funktionieren? Es kann.

Wie? Daniel Binswanger hat sich im Ausland nach Vorbildern umgesehen:

Zwei Länder gibt es, welche die Epidemie im Griff haben, nie in den Lockdown gingen, einen geringen Wirtschaftseinbruch verzeichnen. Länder, in denen das Leben nur wenig beeinträchtigt weitergeht und die trotzdem geringe Todes- und Fallzahlen ausweisen. Es handelt sich um Südkorea und Taiwan. Wie schaffen sie das? Schauen wir nach Taiwan.

Der Inselstaat im Südchinesischen Meer hat seit Ausbruch der Krise bis heute insgesamt 569 nachgewiesene Fälle und 7 Tote zu verzeichnen. 7 Tote auf knapp 24 Millionen Einwohner, obwohl Taiwan in nächster Nähe zu China liegt, dem Ursprungsland der Pandemie. Der Unterschied dazu, wie die meisten westlichen Staaten sich schlagen, könnte kaum grösser sein.

Wie ist das erklärbar?

Einen Startvorteil können wir hier nicht reproduzieren: die Insellage. Taiwan liegt 180 Kilometer vor dem chinesischen Festland und hat eine Kontrolle über Ein- und Ausreisen, die ein Binnenland wie die Schweiz niemals ausüben könnte. Allerdings sollte man diesen Unterschied nicht überschätzen: Der Personenverkehr zwischen dem Festland und dem taiwanesischen Staatsgebiet ist intensiv. Am 25. Januar dieses Jahres, zwei Tage nachdem Wuhan in den Lockdown ging, kehrten rund 500’000 taiwanesische Staatsbürger von den Feiern zum chinesischen Neujahrsfest vom Festland nach Hause zurück. Dennoch stiegen die Covid-Infektionen bis zum 17. Februar nur auf 166 bestätigte Fälle und stabilisierten sich dann. Seit dem 12. April ist es innerhalb von Taiwan nicht mehr zu lokalen Ansteckungen gekommen – zu keiner einzigen. Zwar werden vereinzelt neue Fälle diagnostiziert, aber diese sind allesamt aus dem Ausland eingeschleppt – und werden sofort in Quarantäne gesetzt. Dem Land gelingt es nun seit Monaten, sämtliche Infektionsketten auf seinem Staatsgebiet zu unterbrechen. Wie ist das möglich?

Es gibt dazu eine Reihe von Mitteln:

  • Taiwan hat eine Regierungsagentur geschaffen, die im Ernstfall effizient agiert. Die Tatsache, dass das Land 2003 von der Sars-Epidemie stark betroffen war, kam ihm jetzt zugute. Im Anschluss an Sars wurde das CECC geschaffen, das Central Epidemic Command Center, das die Führung und Koordination zwischen den verschiedenen Behörden und Ministerien übernimmt und blitzschnell handeln kann. Geschwindigkeit ist matchentscheidend.

  • Bereits am 31. Dezember 2019 wurden in Taiwan Flugpassagiere aus Wuhan bei der Einreise einem Screening unterzogen – eine Woche bevor die chinesischen Behörden offiziell vermeldeten, dass in Wuhan auffällige Lungenentzündungen gehäuft auftraten. Das CECC war auf Online-Diskussionen unter Ärzten in Wuhan aufmerksam geworden – und handelte. Am 28. Januar mussten alle aus China ankommenden Reisenden in Quarantäne.

  • Bereits im Januar regulierte die Regierung die Maskenverteilung, zunächst durch rationierte Abgabe an die Bevölkerung. Im Februar wurden unter anderem Militärtruppen zur staatlichen Maskenproduktion eingesetzt. Masken sind in Taiwan sehr schnell zu einem Grundpfeiler der Hygieneregeln für alle geworden – Monate vor Europa.

  • Das Rückverfolgen der Kontakte ist lückenlos und schnell. Innerhalb von 24 Stunden werden alle Kontakte eines gemeldeten Infizierten ermittelt und kontaktiert. Im Schnitt vergehen in Taiwan zwischen dem Kontakt mit einer potenziellen Infektionsquelle und der In-Quarantäne-Setzung der exponierten Person 3 Tage. 88 Prozent der Personen, die sich lokal angesteckt haben, sind über das Contact-Tracing identifiziert worden, also in einer sehr frühen Phase ihrer Infektion. Die Strategie wird auch mit digitalen Hilfsmitteln vollzogen, insbesondere werden Bürger in Quarantäne mit Telefon-Tracking überwacht. Trotz sehr niedriger Fallzahlen kann Taiwan 400 bis 600 ausgebildete Tracer einsetzen und verfügt über eine digitale Tracing-IT-Plattform, die es erlaubt, verschiedenste Informationen automatisch abzugleichen. Bestimmte Datenschutzgarantien können im Epidemiefall ausser Kraft gesetzt werden.

Das Virus ist überall auf der Welt gleich ansteckend, gleich schwierig einzudämmen, gleich gefährlich. Taiwan wird dieses Jahr einen der mildesten Wirtschaftseinbrüche weltweit erleben. Die Regierung geht sogar von einem leichten Wachstum aus. Taiwan kann Corona – und es führt die Gründe vor Augen, weshalb viele andere Länder an der Kontrolle ohne Lockdown scheitern.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Angepasste Kriterien dafür, wie entschieden wird, wer ein Intensivbett bekommt. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat ihre Richtlinien zur sogenannten Patienten-Triage angepasst. Neu ist das Alter von Kranken keine feste Grösse mehr – auch Personen über 85 Jahre sollen eine realistische Chance auf eine Behandlung haben. Stattdessen ist die Grundlage für die Abwägung, ob eine Person ihren Alltag eigenständig bewältigen kann. «Wenn jemand noch völlig selbstständig ist und alleine lebt, dann spielt das Alter neu keine Rolle», sagte der SAMW-Vizepräsident gestern in der «Rundschau». Im Moment sind diese Richtlinien noch nicht im Einsatz.

Dritte Verschärfungen im Wallis – und etwas Hoffnung. Das Wallis hat schweizweit als erster Kanton begonnen, das öffentliche Leben massiv zurückzufahren. Jetzt werden ab Freitagabend (und bis Ende Monat) auch alle Betriebe für die Öffentlichkeit geschlossen, die Verpflegung und Getränke zum Vor-Ort-Konsumieren anbieten. Also nicht nur Restaurants und Bars, sondern auch die Sitzbereiche in Bäckereien, am Bahnhof oder bei Tankstellenshops. Take-away bleibt erlaubt. Immerhin, schreibt die Kantonsregierung in ihrer Mitteilung, bleiben die Zahlen der Neuansteckungen offenbar nun stabil. (Die Spitalaufenthalte steigen aber weiter, weil es einen Moment dauert, bis Infizierte schwer krank werden.)

Pflegende sollen direkt am Tisch sitzen, wenn der Bund entscheidet. Ein neu gegründeter Verein fordert den Bundesrat auf, Pflegefachleute in die obersten Führungs- und Beratungsgremien einzubeziehen. Der Verein wurde von ehemaligen Parlamentarierinnen der SP und der SVP gegründet. Im Mai haben wir in der Republik aufgezeigt, wer im sogenannten Ad-hoc-Krisenstab sitzt und warum dort Pflegerinnen höchstens indirekt gehört werden. Das Pflegepersonal erbringe rund 80 Prozent des Arbeitsaufwands für die Betreuung von Corona-Patienten und den Schutz der hochgefährdeten Personen, argumentiert der Verein «Für eine Stärkung der Pflege».

Und zum Schluss: Warum man im Moment (wie eigentlich immer) besonders vorsichtig sein sollte bei der Interpretation von Corona-Statistiken

Diverse Kantone, Testzentren und Spitäler haben nun den Zugang zu Coronavirus-Tests wieder eingeschränkt. So dürfen sich etwa im Kanton Waadt nur noch Personen mit eindeutigen Symptomen testen lassen. Der Grund: Die Kapazitäten (zumindest mit den genauen PCR-Tests) sind ausgereizt. Aus logistischen Überlegungen ergibt die Einschränkung also durchaus Sinn – sie schafft aber ein neues Problem. Die Basler Epidemiologin Emma Hodcroft warnt nun auf Twitter eindringlich vor den möglichen Auswirkungen auf die Datengrundlage. Weil in der Schweiz so wieder weniger Fälle erfasst würden, sei es schwierig zu beurteilen, ob die vom Bund und den Kantonen erfassten Massnahmen auch wirklich wirken. Oder anders gesagt: Stagniert die Zahl der Positiven, weil die Ansteckungen sinken oder weil weniger getestet wird? «Die Schweiz hat den Rand des Lichtkegels erreicht», schreibt Hodcroft. «Machen wir also keine Freudensprünge. Im Halbdunkeln sieht man schlecht.»

Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Daniel Binswanger, Elia Blülle und Oliver Fuchs

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

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PPPS: Da dieser Newsletter ja davon handelt, dass es Taiwan mit der Pandemie viel besser geht, hatten wir kurz den Titel «Ihr Glückskekse!» erwogen. Dann haben wir uns zum Glück noch rechtzeitig besonnen. Dafür haben wir gelernt: Glückskekse sind gar nicht so chinesisch (geschweige denn taiwanesisch) wie gedacht.

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