Der Corona-Krisenstab in Bern? Die Männerquote passt auf jeden Fall. Szene aus dem Kubrick-Film «Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb» (1964). The Granger Collection, New York/Keystone

Wer managt in Bern die Corona-Krise?

Es ist kompliziert. Und zeigt die Machtverhältnisse im Land.

Eine Recherche von Andrea Arežina, 15.05.2020

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Das Telefonat läuft bereits seit 45 Minuten. Und Vizekanzler André Simonazzi hat es noch nicht geschafft, die Frage aus dem Weg zu räumen, die überzeugende Antwort zu liefern, die kurven­reiche Erklärung zu glätten, um endlich, endlich zufrieden den Hörer aufzulegen.

Kurz vor Schluss des Telefonats greift Simonazzi zu Worten, die für einen Vizekanzler und Bundesrats­sprecher nicht üblich sind. Er sagt zuerst, dass er, der seit elf Jahren im Bundeshaus ein- und ausgehe, so eine Krise noch nie erlebt habe. Dass alle überfordert sind, sagt er nicht. Was er hingegen sagt: «Das ist ausser­ordentlich, noch nie hat man in einer Krise die Grenzen, die Läden und unsere politischen Rechte so eingegrenzt.» Lockdown.

Doch auch das erklärt nicht, wieso das Rückgrat der Macht, der sogenannte Ad-hoc-Krisenstab, zuständig für

  • a) die Lageverfolgung, Lagebeurteilung und Orientierung zuhanden des Bundesrates;

  • b) die Vorbereitung von Handlungs­optionen und Entscheid­grundlagen für den Bundesrat;

  • c) die Koordination mit anderen im Einsatz stehenden Krisenstäben;

  • d) die Steuerung und Koordination des Krisen­managements durch den Bundesrat;

  • e) die Sicherstellung der Koordination mit der Krisen­kommunikations­zelle BK;

ein Gremium ist, in dem genau drei Gruppen sitzen:

  • die Wissenschaft,

  • die Wirtschaft und

  • die sogenannte Zivilgesellschaft.

Wieso es genau diese drei sind – und wieso beispiels­weise niemand für die Pflege –, dafür fehlt die stringente, klare Antwort.

Aber der Reihe nach.

Wer genau sitzt im Krisenstab?

In den vergangenen Wochen las man in den Schweizer Medien immer wieder vom «Krisenstab». Diesen einen Krisenstab gibt es jedoch gar nicht, es gibt mehrere Krisen­stäbe, doch um das zu erfahren, brauchte es viele Telefonate, Mailwechsel und eine Zeichnung. Schliesslich schickte die Bundes­verwaltung ihr Organigramm.

Die Covid-19-Organisation des Bundes

Bundesrat

Kantone (z.B. GDK,

RK MZF …)

EDI

Krisenstab des Bundesrats Corona (KSBC)

GS-EDI

BAG

VBS

EDA

WBF

UVEK

EJPD

EFD

BK

KdK

Bundesstab

Bevölkerungsschutz (BSTB)

Taskforce BAG

Leitung Kontaktstellen

FF BAG

KSBC

FF BAG

Wirtschaft

SANKO

Forschung

sKV Covid-19

Sanitätsdienstliche

Kapazitäts- und

Versorgungsplanung

Zivilgesellschaft

weitere AG

bei Bedarf

Quelle: Bundeskanzlei

Die Covid-19-Organisation des Bundes

Bundesrat

Kantone

(z. B. GDK,

RK MZF …)

EDI

Krisenstab des Bundesrats Corona (KSBC)

GS-EDI

BAG

VBS

EDA

WBF

UVEK

EJPD

EFD

BK

KdK

Bundesstab Bevölkerungsschutz (BSTB)

FF BAG

SANKO

sKV Covid-19

Sanitätsdienstliche

Kapazitäts- und

Versorgungsplanung

weitere AG

bei Bedarf

Taskforce BAG

FF BAG

Leitung Kontaktstellen

KSBC

Wirtschaft

Forschung

Zivilgesellschaft

Quelle: Bundeskanzlei

Ganz oben auf diesem Organigramm steht der Bundesrat, der die Entscheidungen fällt, auch in der Pandemie. Eine Ebene tiefer steht das Eidgenössische Departement des Innern, das die Feder­führung in dieser Krise hat. Noch eine Stufe weiter unten sitzt der Krisenstab, in dem die strategischen Diskussionen geführt werden, aufgrund deren unter anderem die politischen Grund­lagen ausgearbeitet werden. Sie dienen dem Bundesrat bei der Entscheidungs­findung. Je nach strategischer Diskussion und Frage­stellung im Krisenstab arbeitet ein anderes Departement die Vorlage aus, die von einem oder einer der entsprechenden Bundesräte oder Bundesrätinnen an der Bundesrats­sitzung eingebracht wird.

Der Krisenstab – genau genommen der Ad-hoc-Krisenstab (Punkt 4) – besteht aus mindestens einem Mitglied jedes Departements. Häufig ist das der Direktor oder auch die stellvertretende Direktorin. Mitglieder können auch persönliche Mitarbeiter aus den Stäben der Bundesräte sein. Ebenfalls im Krisenstab vertreten ist die Bundes­kanzlei mit zwei Mitgliedern. Für die Kantone nimmt der General­sekretär der Konferenz der Kantone teil.

Der Krisenstab besteht aus 12 Männern und 2 Frauen. Dafür können die entsprechenden Herren nicht allzu viel, es liegt daran, dass die meisten Direktionen der Bundes­behörden von Männern geleitet werden. So wie das auch in der Wirtschaft der Fall ist. Beispiels­weise beim Wirtschaftsdach­verband Economie­suisse, bei Gastrosuisse, Hotellerie­suisse, Swiss Tourismus, dem Haus­eigentümer­verband, bei den grössten Banken, den Airlines Swiss und Edelweiss – überall sind es Männer, die an der Spitze stehen. Und auch das ist ja nicht weiter ungewöhnlich, aber es wird eben besonders schön sichtbar, wenn Krise ist.

Das Rückgrat der Macht in diesem Land, es besteht vor allem aus Männern.

Wer gibt hier die Inputs?

Zum Ad-hoc-Krisenstab gehört auch ein sogenanntes Sounding­board, das im Organigramm als «Leitung Kontakt­stellen KSBC» bezeichnet wird. Das Sounding­board besteht aus drei Gruppen. Der Gruppe Wirtschaft, die durch Economie­suisse-Chef Heinz Karrer vertreten ist. Der Gruppe Zivil­gesellschaft, die durch das Start-up staatslabor von Alenka Bonnard und Danny Bürkli vertreten wird und in dem auch Köpfe des Thinktanks foraus hirnen. Und aus der dritten Gruppe, der Forschung, die durch den Epidemio­logen Matthias Egger vertreten ist, der zugleich Chef der Taskforce Science ist.

Was dieses Sounding­board genau macht? Vizekanzler André Simonazzi erklärt es so: «Sie liefern Inputs und Impulse. Sie bringen ihre Meinung ein, damit wir nebst der aus dem Bundesamt für Gesundheit und dem Innen­departement auch Stimmen aus der Zivil­gesellschaft, der Wissenschaft und der Wirtschaft haben.» Diese Vertreter der Zivil­gesellschaft, der Wissenschaft und der Wirtschaft würden aber nicht Partikular­interessen einbringen. Vielmehr wolle der Krisenstab von ihnen wissen, was die Massnahmen «an der Front» bewirken beziehungs­weise wie sie sich auswirken könnten.

Das Sounding­board solle mithelfen, dass der Bundesrat keine wesentlichen Elemente vergesse.

Ach so.

Frage: Wieso sitzen die Arbeitgeber – die Wirtschaft – drin, nicht aber die Arbeit­nehmerinnen – die Gewerkschaften? Vizekanzler Simonazzi sagt: «Für die Sozial­partner, Gewerkschaften und Arbeitgeber gibt es den runden Tisch – sie werden in diesem Rahmen zu Gesprächen eingeladen. Der Krisenstab hat keine Schlichtungs­funktion zwischen Arbeit­gebern und Arbeit­nehmern. Er hat eine andere Aufgabe, er bestimmt die Stossrichtungen bei der Bewältigung der Krise.»

Für den Schweizerischen Gewerkschafts­bund scheint der Ad-hoc-Krisen­stab nicht besonders relevant zu sein. Jedenfalls will sich niemand dazu äussern. Wieso auch, schliesslich kennt Daniel Lampart, der Chef­ökonom des Gewerkschafts­bunds, das Berner Machtnetz­werk. Lampart verfügt nicht nur über langjährige Kontakte ins Innere des Bundes­hauses, er weiss sie auch für die Interessen der Arbeit­nehmenden zu nutzen. So hat es Lampart zum Beispiel geschafft, dass das Thema Kurzarbeit schnell angegangen wurde. Doch stand offenbar auch bei ihm das Anliegen der Pflege­fachfrauen nicht zuvorderst. Oder gingen die Gewerkschaften davon aus, dass sich andere für sie einsetzen würden?

Und was ist mit den anderen?

Weder der Pflegeverband noch der Kita-Verband sitzen im Krisenstab. Klar, man kann nun argumentieren, dass sie über das Innen­departement indirekt vertreten sind. Aber wieso reicht es dann umgekehrt nicht auch, die Wirtschaft über das Wirtschafts­departement einzubinden?

Vizekanzler Simonazzi betont, dass es wichtig sei, dass die Wirtschaft im Krisenstab vertreten sei. Und der Chef des Krisen­stabes, Lukas Bruhin, unterstreicht das mit einem konkreten Beispiel: «Wenn die Masken auf dem Weltmarkt nicht mehr oder nur schwierig erhältlich sind, müssen wir schauen, ob unsere Wirtschaft Masken produzieren kann.»

So sitzt nun halt einfach niemand im Krisenstab, dem strategischen Organ, der hätte rückmelden können,

  • wie sich die Lockerungen der Ruhezeiten beim Pflege­personal auswirken,

  • wie viele Kinder überhaupt noch in die Kitas kommen, nachdem der Bundesrat allen, die Homeoffice machen können, empfohlen hatte, die Kinder selbst zu betreuen,

  • und was das wiederum für die Kitas finanziell bedeutet.

  • Oder wie sich Homeoffice und Homeschooling vereinbaren lassen, ohne dabei komplett durchzudrehen.

Zu den Kitas sagt der Chef des Krisen­stabs: «Der Kibesuisse-Verband war mit dem Bundesamt für Sozial­versicherungen und dem Innen­departement in Kontakt. Die Anliegen der Kitas flossen über diese Stellen in den Bundesrat ein.»

Bei der Frage, wie sich Homeoffice und Homeschooling vereinbaren lassen, gibt der Chef des Krisen­stabes eine persönliche Antwort: «Das ist in der Tat eine Belastung. Ich bin selber Vater eines Kindes, das sonst in der Kita ist.» Und kommt nochmals auf die Pflege-Gruppe zurück: «Ihre Themen fliessen über das Bundes­amt für Gesundheit und die Kantone in die Krisen­organisation ein. Und auch über die Kontakt­stelle Zivil­gesellschaft sind Kontakte sehr gut möglich. Wenn sie sich bei uns gemeldet hätten mit dem Wunsch, auch Einsitz zu nehmen im Krisen­stab, hätten wir uns dem Gespräch nicht verweigert.»

Das scheiterte allerdings nicht zuletzt daran, dass der Schweizer Berufs­verband der Pflege­fachfrauen und Pflege­fachmänner (SBK) nichts davon wusste, dass es einen Krisenstab und ein Sounding­board gibt, wie es beim Verband heisst.

Die Leiterin der Abteilung Pflege­entwicklung beim Pflegefachverband, Roswitha Koch, hat eine klare Meinung zum Krisenstab: «Nicht eine einzige medizinische Fachperson, Ärztin oder Pflege­fachperson ist darin eingebunden.» Überhaupt sei der SBK in keinem Gremium formal eingebunden. «In der ganzen Bundes­verwaltung gibt es keine Stelle, die explizit da ist, um die Pflege­fachleute und ihre Teams zu vertreten, damit man ihre Sicht auch kennt.» Und Roswitha Koch macht einen Vorschlag, den andere Länder bereits kennen: «An vielen Orten gibt es die Government Chief Nurse, die explizit die Sicht und die Expertise der Pflege­fachleute im Gesundheits­ministerium einbringt.»

Was wäre, wenn?

Krisenstäbe, Expertengruppen, Sounding­boards. Prallvoll mit Wirtschafts­vertretern, Wissenschaft­lerinnen, Direktoren. Es ist nicht besonders abwegig anzunehmen, dass sie alle in einer ähnlichen Umgebung gross geworden sind und sozialisiert wurden – und darum ähnliche Frage­stellungen besprechen wollen. Andere werden vergessen gehen.

Ob mehr Frauen im Krisenstab oder eine Government Chief Nurse im Sounding­board dazu geführt hätten, dass sich der Bundesrat in der Krise da und dort anders entschieden hätte? Aufgrund der politischen Mehrheits­verhältnisse im Bundesrat ist nicht davon auszugehen. Aber womöglich wären in dieser Krise das Pflege­personal, die Verkäuferinnen, die Kinder­betreuerinnen nicht nur sichtbarer geworden – sie wären auch Thema gewesen im Krisenstab, und ihre Heraus­forderungen wären mindestens ein Stück weit mehr ins Rampenlicht gerückt.

Dass die Zusammensetzung des Krisen­stabes nicht so bleiben muss, findet auch der Chef des Krisen­stabes. Zum Schluss des Gesprächs sagt er: «Ich bin nicht dagegen, dass wir bei der nächsten Krise weitere Kreise einbeziehen könnten.»

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