Binswanger

Die Rüpel von Bern

Das Klimacamp auf dem Bundesplatz sorgt für heftige Auseinandersetzungen. Doch wer beschädigt hier eigentlich die Demokratie?

Von Daniel Binswanger, 26.09.2020

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Es war eine gute Woche für die Schweiz. Konstruktiv und rational handelnde Akteurinnen, die über eine strategische Vision, Disziplin und taktisches Geschick verfügen, geben der Schweizer Politik gerade neue Impulse, die sie besser, reifer und vor allem demokratischer machen werden. Natürlich gibt es auch Rüpel und zu sinnvoller Auseinander­setzung unfähige Provokateure, welche die garantierten Grund­rechte aggressiv heraus­fordern und sich diesen Impulsen widersetzen. Ja, Sie haben es erraten, ich spreche von der Besetzung des Berner Bundes­platzes vor dem Bundes­haus. Und ja, auch die Pointe, die so offensichtlich ist, dass sie gar nicht richtig funktioniert, haben Sie wohl erraten. Die umsichtigen Akteurinnen sind auf dem Platz: die Demonstranten. Die Rüpel und Antidemokratinnen sind im Bundeshaus: unsere Parlamentarier – oder mindestens ein guter Teil davon.

Natürlich ist die politische Einordnung von Aktions­formen des zivilen Ungehorsams eine delikate Angelegenheit. Nicht jedes vermeintlich edle Anliegen autorisiert Demonstrantinnen dazu, sich über die Rechts­ordnung hinweg­zusetzen. Delikat ist auch die Frage, ob Protest­aktionen, die bewusst mit illegalen Mitteln operieren, überhaupt geeignet sind, die Sympathien für ein Anliegen zu verstärken, oder ob sie beim Normal­bürger nicht eher die Angst vor Chaoten­tum herauf­beschwören. Es ist ein vernünftiges Gesetz, dass während der Session politische Demonstrationen vor dem Schweizer Parlament verboten sind. Warum soll es nicht für die Klima­jugend gelten?

Diese Fragen müssen in der Tat debattiert werden, aber selbst im beschaulichen Bundes­bern sollte man nicht so tun, als hätte man die letzten 60 Jahre hinter dem Mond verbracht. «An unjust law is no law at all», sagte bekanntlich Martin Luther King. Es hätte nie eine Bürger­rechts­bewegung, eine Friedens­bewegung oder eine ökologische Bewegung gegeben, wenn in bestimmten Situationen nicht ein moralisches Recht existieren würde, sich gegen geltendes Recht zu stellen.

Nicht umsonst nannte Jürgen Habermas den zivilen Ungehorsam einen «Test­fall für den demokratischen Rechts­staat» und erblickte in ihm «ein Element einer reifen politischen Kultur». In einer reifen Demokratie werden Gesetze von den Bürgerinnen nicht deshalb befolgt, weil es Zwangs­mittel zu ihrer Durch­setzung gibt, sondern weil sie als legitim anerkannt werden. Das bedeutet im Gegenzug auch, dass es Formen des legitimen Widerstands geben muss gegen als falsch betrachtete legale Zwangsmittel.

Was nun ist ein zulässiger Akt des zivilen Widerstands? Nach einer berühmten Definition des liberalen Philosophen John Rawls muss er öffentlich, gewaltlos und gewissens­bestimmt sein, das heisst, er muss im Namen eines fundamentalen ethischen Anliegens erfolgen. Die Berner Besetzer haben gemäss dieser Definition alles richtig gemacht. Die Klimastreik­bewegung ist keine konspirative Truppe, sondern sucht den öffentlichen Protest, engagiert sich für eine klar definierte Agenda und ist basis­demokratisch organisiert. Wer wie FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann argumentiert, die internationale Vernetzung der Bewegung beweise, dass finstere ausländische Mächte im Hinter­grund die Fäden zögen, und man müsse den Schweizer Nachrichten­dienst auf sie ansetzen, legt eine bemerkens­werte geistige Verwirrung an den Tag.

Das Camp war zudem gut organisiert, und sowohl die Besetzung als auch die Räumung des Bundes­platzes verliefen gewaltlos. Für den zwischendrin stattfindenden «Märit» wurde so gut als möglich Platz gemacht, zum Schluss gabs einen Aufruf, sich an den Aufräum­arbeiten zu beteiligen. Um das hinzubekommen, braucht es Organisation und Disziplin. Derweil strauchelte periodisch ein Parlamentarier ins Fernseh­bild und bellte ein paar Kraft­ausdrücke. Das Klima­camp wurde von Aktivistinnen organisiert, die die Schule offensichtlich nicht geschwänzt, sondern aufgepasst haben im Unterricht. Der Eindruck, dass sich das auch von unseren Volks­vertretern durchgehend behaupten lässt, wollte sich die letzten Tage nicht einstellen.

Natürlich haben die Demonstrantinnen passiven Widerstand geleistet und mussten bei der Räumung weggetragen werden von der Polizei. Ohne Ungehorsam gibt es keinen zivilen Ungehorsam. Zu Gewalt­tätigkeiten kam es jedoch nicht – auch dieses Kriterium wurde erfüllt. Ebenfalls gehört dazu, dass die Demonstranten sich bewusst verhaften liessen und die juristischen Konsequenzen auf sich nehmen. Ziviler Wider­stand bricht gezielt das Gesetz. Aber er ist nicht anarchistisch und affirmiert die Rechts­staatlichkeit, indem er sich der Sanktionierung stellt.

Alles richtig gemacht haben schliesslich auch die Stadt Bern und ihr Stadt­präsident Alec von Graffenried. Er vollzog, wozu es keine Alternative gab, nämlich die Räumung. Aber er liess sich Zeit, suchte den Dialog, liess die Polizei­kräfte so vorgehen, dass der Vorgang gewaltlos bleiben konnte. Rechts­bürgerliche Politikerinnen fordern derweil – nach heutigem Informationsstand ist das ernst gemeint –, dass Bern nicht mehr länger Bundes­stadt sein könne und aus Sicherheits­gründen schon die nächste Session an einem anderen Ort durchgeführt werden solle. Es scheint nur schwer zu ertragen, dass der grüne Stadt­vater so souverän agiert hat.

Die zentrale Frage ist natürlich, ob der Widerstand gegen die Klima­erwärmung tatsächlich ein «gewissens­bestimmtes» Anliegen ist, das zum Kampf­mittel des illegalen Ungehorsams berechtigt. Gemäss Rawls ist das dann der Fall, wenn die Möglichkeiten zur Partizipation verzerrt sind, das heisst, wenn ein Teil der Betroffenen ausgeschlossen wird von seinen politischen Grund­rechten und deshalb nicht zu erwarten ist, dass der legale demokratische Prozess zu einem fairen Resultat führt. Diese Verzerrung ist im Feld der Klima­politik offensichtlich: Wir entscheiden auf irreversible Weise für die kommenden Generationen. Es ist kein Zufall, dass sich junge Menschen für die Klima­ziele engagieren – und es ist eine Tatsache, dass die älteren Generationen die konsequente Umsetzung dieser Ziele an der Urne verhindern können.

Ist es als politisches Grundrecht künftiger Generationen zu betrachten, sich dereinst unter auch klimatisch bewältigbaren Bedingungen an der Demokratie zu beteiligen? Wer diese Frage bejaht, muss die Legitimität des Klima­camps anerkennen. Die Wissenschaft lässt keinen Zweifel daran, dass wir uns jetzt dafür entscheiden müssen – und dass die meisten der (künftig) Betroffenen von dieser Entscheidung ausgeschlossen sind.

Es ist kein Zufall, dass die Klima­jugend vermehrt zum Mittel des zivilen Ungehorsams greift. Nicht nur die Besetzung des Bundes­platzes, auch die Gerichtsfälle von Lausanne und Genf belegen diese Entwicklung. Bis jetzt legen die Aktivistinnen grosse politische Intelligenz an den Tag. Sie bleiben auf Distanz zu gewalt­tätigem Extremismus, entziehen sich nicht ihrer rechts­staatlichen Verantwortung, suchen die transparente öffentliche Auseinander­setzung. Und sie machen einen klugen Unter­schied zwischen demokratischem Dialog und propagandistischer Schaumschlägerei.

Ist es nicht ein simples Gebot des gesunden Menschen­verstands, sich für einen Fernseh­schaukampf mit dem «Klima­experten» Roger Köppel ganz einfach nicht herzugeben? Ist es nicht wohltuend, dass neue Formen des Aktivismus entstehen, welche zwar die Öffentlichkeit suchen, sich aber im Gegensatz zu anderen Campaigning-Organisationen von der Tyrannei der Aufmerksamkeits­ökonomie nicht vor sich hertreiben lassen? Die demokratische Auseinander­setzung ist an minimale Redlichkeits- und Rationalitäts­standards gebunden. Dass dieser Grundsatz wieder affirmiert wird, kann der Schweizer Öffentlichkeit nur guttun.

Schon lange steht die Hoffnung im Raum, dass die Klima­jugend nicht nur die Sache des Umwelt­schutzes voran­bringt, sondern dass ihr politisches Ethos zur notwendigen Revitalisierung der Demokratie beiträgt. Im Moment sieht es nicht schlecht aus.

Illustration: Alex Solman

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