Aus der Arena

Was ich von Ruth Bader Ginsburg lernte

Die brillante Juristin ist eines meiner grössten Vorbilder: weil sie den Mut hatte, zu ihrem Verstand ebenso zu stehen wie zu ihrem Herzen.

Von Olivia Kühni, 21.09.2020

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Als Allererstes musste ich sie sehen, fraglos, noch vor dem Abend­essen. Als ich das erste Mal in meinem Leben nach Washington reiste, war mein erstes Ziel weder das Kapitol noch das Weisse Haus, und auch nicht das Hotel. Sondern der Supreme Court, der oberste Gerichts­hof. Ich rannte hin, blinzelte gegen die Sonne und war glücklich, in ihrer Nähe zu sein.

Ruth Bader Ginsburg war und ist eine Jahrhundert-Juristin, ohne jeden Zweifel. Darüber hinaus aber ist sie mein persönlicher Leucht­turm: weil sie eisern die Freiheit verteidigte. Und weil sie genauso furchtlos lebte, wie sie dachte.

Denken …

Ruth Bader Ginsburg verstand den Feminismus, wie ich ihn auch verstehe: kein Kampf nur für Frauen. Sondern für eine Welt, in der Menschen nicht in ihren Rechten beschnitten werden dessent­wegen, was sie sind. Für einen Rechts­staat, der individuelles Leuchten nicht erstickt im Namen einer höheren Ordnung.

Ihren ersten spektakulären Anti­diskriminierungs­fall gewann Bader Ginsburg nicht für eine Frau, sondern für einen Mann: für Charles E. Moritz, der für seine alte Mutter eine Pflege­hilfe angestellt hatte und die Kosten dafür nicht von den Steuern abziehen durfte – weil das Steuer­gesetz dies nur allein­stehenden Frauen, nicht aber Männern erlaubte. Bader Ginsburg brachte den Fall als damalige Frauen­rechts­verantwortliche der American Civil Liberties Union (ACLU) vor den obersten Gerichtshof. Und gewann. (Der Fall bescherte ihr gleichzeitig einen Zufalls­fund: eine vom Verteidigungs­departement erstellte Übersicht aller Gesetze, die nach Geschlecht diskriminierten; die perfekte To-do-Liste.)

Das Vorgehen war Taktik. Fälle im Namen von Männern waren vor der männlichen Richterschaft eher zu gewinnen als solche im Namen von Frauen. Es war aber auch ihre tiefe Überzeugung, wie sie unter anderem in ihrer Biografie schreibt: dass alle leiden, Männer, Frauen, Kinder, wenn die anerkannte Sphäre des Mannes nur jene draussen in der Welt ist und die der Frau nur jene im Haus.

Kurz: Frauenrechte betreffen alle. Und Diskriminierung ist auch dann falsch, wenn sie aus angeblicher Fürsorge geschieht.

Es ist eine Haltung, die ich sehr teile. Seit ich beschlossen habe, aus reinem Trotz und Wider­spruchs­geist gegen die Erhöhung des Frauenrentenalters zu sein (zumindest nicht ohne Gegen­leistung), haben RBG und ich darum eine Rechnung offen: Ich weiss, nie, niemals würde sie so was gutheissen, und sie wäre sehr enttäuscht von mir. Ich liebe sie dafür.

… und Leben

Ich wusste früh, dass ich Kinder wollte. Und wie viele – zu viele – junge Frauen fürchtete ich, mit dem Gang an die Universität könnte das schwierig werden mit der Familie. Man hat es uns schliesslich lange genug gesagt, im deutsch­sprachigen Raum noch deutlich länger als anderswo: Studierte Frauen haben keine Kinder. Studierte Frauen finden noch nicht einmal einen Mann. Ich hörte es noch in den frühen 2000ern. Und tatsächlich: Die wenigen beruflich erfolg­reichen Frauen, die ich damals kannte, hatten beinahe alle keine Kinder.

Es war eine Offenbarung für mich, als ich – viel zu spät – Ruth Bader Ginsburg las, die mir sagte, was später auch meine Schwester beteuerte, die Erste von uns mit einem Doktor­titel: Ein Kind ist nicht nur möglich. Es kann dich sogar beflügeln: «Meinen Erfolg im Rechts­studium, da habe ich nicht den geringsten Zweifel, verdanke ich zu grossen Teilen meinem Baby Jane», schrieb Bader Ginsburg. Sie begann in Harvard, als ihre Tochter gerade mal ein gutes Jahr alt war. Zwar hätten ihre Tage nur noch aus Arbeit bestanden – von morgens bis abends an der Uni, dann mit dem Kind, dann zurück zu den Büchern –, doch durch­gestanden habe sie es, weil sie beim einen Abstand gewann zum andern. «Ich hatte ein Gefühl für die Proportionen, das meinen nur studierenden Kollegen abging.»

Ruth Bader Ginsburg und meine Schwester hatten recht.

Vielleicht noch inspirierender ist, dass Bader Ginsburg tatsächlich nicht nur zwei Kinder hatte, sondern auch einen Mann. Und was für einen: Martin D. Ginsburg kochte für seine Frau, öffnete berufliche Türen für sie, tauschte – er war selber Anwalt – mit ihr Strategien aus. Das wirklich Inspirierende aber ist das, was Bader Ginsburg über ihr Kennen­lernen sagte: «Er war der erste Mann, der an mir interessiert war dessentwegen, was ich im Kopf hatte.»

Ich kann als Frau nicht nur begehrt werden für ein sonniges Gemüt und Nettigkeit, sondern tatsächlich auch für präzises Denken: Diese Einsicht ist für mich bis heute revolutionär. Und – ich bin weder sonnig noch nett – immer wieder überlebenswichtig.

PS: Ich will den Punkt nicht über­strapazieren. Aber: Genau wie die erste Frau am obersten Gerichtshof, Sandra Day O’Connor, ergänzte Ruth Bader Ginsburg die ursprünglich für Männer und viel zu weit geschnittenen Roben mit einem Hals­kragen. Sie hatte einen, den sie immer dann trug, wenn sie mit der Mehrheits­meinung des Richter­gremiums nicht einverstanden war – den Dissens-Kragen. Ich finde: Das hat was.

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